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Freitag, 28. Februar

in der Sauren Wiese

Vorgestern war Aschermittwoch. Carne vale! Lebt wohl, ihr leiblichen Genüsse! In diesem Jahr war die närrische Zeit lang genug, aber uns war das egal. Wir hatten an jedem Freitag unseren Spaß.

Hans und ich standen wie immer an der Theke und blätterten in unseren mitgebrachten Büchern. Diesmal verzichtete Fat Lot auf die Bestellung eines üppigen Abendessens. „Fastenzeit“, verkündete er. Als Ausgleich trank er zwei Biere mehr als sonst.

Jane blätterte in einer Tageszeitung und erzählte uns ungefragt einige Details, die wir gestern schon im Internet gelesen hatten: „Die letzten Direktflüge von Europa nach China werden eingestellt. Das klingt besorgniserregend.“ Niemand beachtete Janes Sorgen.

Pumpe hatte ein Buch des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann mit und blätterte darin herum: „Wenn ich nur wüsste, ob wir tatsächlich eine Bildungsmisere haben“, sagte er nachdenklich. Hans und ich legten unsere Bücher weg und begannen mit Pumpe zu diskutieren. Ich wurde aus diesem Kerl mit seiner Berliner Schnauze nicht klug. Einerseits wirkte er sehr gebildet, andererseits kam er immer wieder mit Verschwörungsgeschichten daher, die zum Teil hanebüchen waren.

Nach einigen Minuten begann ich, auf die Bremse zu steigen. Die ganze Bildungsdebatte war mir von Anfang an viel zu überladen mit Ideologie. Zwischen den Vierziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts nannte man gewisse Kinos in den USA „Grindhouse“. Zwei Filme wurden zusammen als eine Vorstellung als „Double Feature“ nach dem Motto „zwei zum Preis von einem“ gezeigt. Die Filme „Death Proof“ und „Planet Terror“ liefen vor vier Jahren in unseren Kinos. Sie sollten an Grindhouse erinnern. Das ist ein Synonym für minderwertige Filme, meist Horror- und Slasherflicks der übelsten Sorte. An Grindhouse werde ich erinnert, wenn es um Bildungspolitik geht.

„PISA zeigt es“, sagte Pumpe, „die nachlassende Bildung der Jugend in Deutschland und Österreich ist echt schlimm. Die Kapitalisten brauchen nur eine kleine Elite für Politik, Banken, Medizin und Industrie. Der große Rest soll dumm bleiben. Die Bildungsmisere ist gewollt.“

Hans und ich waren anderer Meinung und verwiesen auf die vielen Ablenkungen elektronischer Natur, die es erst seit den Neunzigerjahren gibt. Internet, Smartphones, iPads, das ist ja erst maximal eine Generation alt. Pumpe sah das anders.

„Die öffentliche Debatte ist schlampig“, ergänzte Hans. „Schau mal, Horst, das kann ich sogar beweisen.“ Hans und ich nannten Pumpe immer bei seinem Vornamen, wenn wir uns ernsthaft unterhielten. „Die erste PISA-Studie aus dem Jahr 2000 zeigte Österreich in allen Bereichen auf den vorderen Plätzen. Das interessierte damals niemanden, weil es nichts zu kritisieren gab. Die zweite PISA-Studie brachte ein schlechteres Ergebnis, und die Grindhouse-Nomenklatura Österreichs sprach unter Umgehung jeglicher Kopfarbeit von einem Absturz. Ein Bildungssystem kann aber innerhalb von drei Jahren nicht abstürzen. Der Absturz war offensichtlich ein Messfehler, wahrscheinlich auch falsche Interpretationen der Ergebnisse. Interpretationsfehler liegen meist dann vor, wenn Ideologien im Spiel sind. Mathematisch-statistisch ist die PISA formal richtig, aber gemessen wird nicht das Schulsystem, sondern nur die Fähigkeit, einen PISA-Test zu bestehen.“

Ich gab Hans recht. Pumpe war immer noch anderer Meinung, daher ergänzte ich: „Die Ursachen für tatsächlich vorliegende Bildungsmängel, großteils Leseschwächen und eine mangelhafte Allgemeinbildung, liegen weniger in der Politik der letzten Zeit, als in den vergangenen Jahrzehnten. Ein leistungsfeindliches Besoldungssystem bei Lehrern, eine seit den Siebzigerjahren latent wachsende öffentliche Bildungsfeindlichkeit, vor allem bei den Naturwissenschaften, eine wachsende Diskriminierung von Leistungsbereitschaft – Stichwort: Streber! – haben unser Schulsystem ins Wanken gebracht.“

Pumpe nahm einen tiefen Schluck und machte mit gestrecktem Arm und ausgeklapptem Zeigefinger eine kreisende Bewegung über unsere Runde. „Aha, und was siehst du hier? Wir gehören alle nicht mehr zur Generation PISA. Wir sind also die vermeintlich Tüchtigen, wir sind die Leistungsträger. Ehrlich? Meinst du das wirklich? Schaut doch genauer hin, ihr zwei Bücherwürmer! Was seht ihr? Lauter Rentner und Versager. Von den meisten hier wissen wir nicht einmal die Vergangenheit.“

„Wir wissen von keinem hier die Vergangenheit“, korrigierte ich, „wir wissen lediglich, dass wir eine Truppe von Spinnern und selbsternannten Rebellen sind, an die sich später niemand mehr erinnern wird.“

„Auch deinen Lebenslauf kennen wir nicht, lieber Horsti“, sagte Hans, und Pumpe antwortete verärgert: „Und das geht auch niemanden etwas an. Ich komme aus Berlin, das genügt.“

„Ost oder West?“, fragte ich, aber Pumpe gab keine Antwort.

Charly kam bei der Türe herein und bestellte noch auf dem Weg zur Theke ein Bier. Wir hatten nicht bemerkt, dass er noch nicht da war. Er schmiss seine Tasche in die Ecke, trank das von Blues im Rekordtempo gefüllte Bierglas innerhalb von drei Sekunden halb leer und setzte es mit Knall auf die Theke: „Scheiße“, sagte er so laut, dass es alle hören konnten, „Scheiße! Irgendwann wird es Tote geben.“

Pumpe, der immer noch bei Hans und mir an der Theke stand, fragte, was denn los sei. „Tote? Jetzt bin ich aber neugierig. Alle herhören! Charly ist noch nüchtern, und daher werden ausnahmsweise ein paar verwertbare und gut verständliche Sätze von ihm kommen.“

Charly trank das Glas aus und erzählte uns, dass er von Sonntag auf Montag Nachtdienst hatte. Autsch! Ich zog den Kopf ein, denn ich wusste, was jetzt gleich kommen würde. Nachtdienste für Rettungssanitäter sind schon nervig genug, aber zu Weihnachten und Neujahr, im Fasching und an Wochenenden in der warmen Jahreszeit erkennt man als Sanitäter das wahre Ausmaß an Alkohol- und Drogenkonsum.

Charly begann zu erzählen: „Der Startschuss fiel schon bei Dienstbeginn. Der Motorola-Pager meldete: r1 15j w v. a. intox. Es war ein Einsatz, der unverzüglich mit Blaulicht durchzuführen war. Ein fünfzehnjähriges Mädchen zeigte Vergiftungserscheinungen. Das ‚v. a.‘ bedeutet ‚ Verdacht auf‘. Die Sache musste sofort abgeklärt werden. Das Mädchen lag bewusstlos am Fluss unten. Laut Auskunft hat sie den ganzen Nachmittag Wodka und ‚irgendwelche Tabletten‘ geschluckt. Als wir kamen, erwachte das Mädchen aus der Bewusstlosigkeit und erbrach sich. Zur gleichen Zeit versorgte die andere Mannschaft einen gestürzten alten Mann mit einer Kopfverletzung. Er war so betrunken, dass er kein klares Wort herausbrachte.

Nach 20 Uhr fuhren wir zu einem Patienten mit Hodenverletzung. Die blutende Wunde, die sich der Mann mittleren Alters beim Sturz vom Fahrrad zugezogen hat, erzeugte schon beim Anblick ein qualvolles Gefühl, doch der Patient spürte wegen seiner Alkoholisierung kaum etwas. Zur gleichen Zeit brachte die zweite Mannschaft einen Dreißigjährigen per Zwangseinweisung ins nächste Schwerpunktkrankenhaus: Selbstgefährdung auf Grund drogenbedingter Psychosen. Um Mitternacht wurde eine Stammkundin transportiert. Die Frau liegt im Koma, weil sie laut Zeugen irgendwelches Zeugs eingeworfen hat. Sie wird zum vierten Mal innerhalb dieses Monats im Krankenhaus versorgt.“

Charly trank sein Glas aus und bestellte Nachschub und einen doppelten Gin.

„Bei elf von vierzehn Einsätzen in einer Nacht waren Alkohol oder illegale Drogen im Spiel. Eine normale Nacht also, und doch nur die Spitze des Eisbergs. Daraus lernt man zweierlei. Erstens sind wissenschaftliche Arbeiten wertlos, wenn das zugrunde liegende Datenmaterial falsch ist. Jede Untersuchung würde Unfälle, Verbrennungen, Depressionen usw. auflisten. Die unbeschönigten Ursachen bleiben aber verborgen, weil C2-abusus, das bedeutet Alkoholmissbrauch, in den Einsatzprotokollen nicht gerne gesehen wird. Zweitens können die Bürger ruhig schlafen, weil ehrenamtliche Rettungssanitäter sowie Ärzte und Krankenschwestern die nächtliche Drecksarbeit für unsere alkohol- und drogenkranke Gesellschaft machen.“

„Wir pumpen aber auch nicht schlecht“, sagte Pasak, der bei den anderen am runden Stammtisch saß.

„Ja, aber wir haben es im Griff. Wir haben nie einen Rettungswagen benötigt. Bis heute zumindest, …“ Jane ergänzte: „… aber was nicht ist, kann ja noch kommen.“ Alle lachten.

„Mir ist heute nicht zum Lachen zumute“, sagte Charly. „Nicht einmal Charles Bukowsky, dieser Schluckspecht, hätte den Wahnsinn mit Humor kommentiert. Um 6 Uhr war Dienstwechsel. Ich genehmigte mir einen Kaffee. Einer aus meiner Mannschaft las aus der Zeitung vor, dass ein Zeitgeistkrieger wieder einmal die Freigabe ‚weicher‘ Drogen gefordert hat. So, jetzt wisst ihr, was wahrer bullshit ist.“

Unser Schweigen dauerte maximal fünf Sekunden, dann wechselten wir das Thema.

Blues meinte augenzwinkernd, dass wir anlässlich des Beginns der Fastenzeit heute etwas Anständiges ins Thekenbuch schreiben sollten.

Ich griff hinüber und schrieb hinein: „Verba puellarum foliis leviora caducis.“ (Die Worte der Mädchen sind leichter als herabfallende Blätter.)

Hans ließ sich nicht lumpen und notierte: „Frankly, I don’t give a damn about this garbage.“ (Ehrlich gesagt ist mir der ganze Müll scheißegal.)

Charly schrieb hinein: „Omnia mors aequat.“ (Der Tod macht alle gleich.)

Dann kamen der Reihe nach die anderen. Da war aber nichts Gescheites dabei. Nur Pasak überraschte Hans und mich mit dem witzigen Spruch: „Ein Gentleman ist ein Herr, der eine Dame so lange beschützt, bis er mit ihr allein ist.“

Es war schon spät, als die meisten gingen. Am Ende standen nur noch Hans, Pumpe, unser Wirt und ich an der Theke. Hans und ich blätterten in unseren Büchern, Blues putzte wie immer Gläser und spendierte eine Runde. Das tat er fast immer, wenn die Uhr nach Mitternacht zeigte und nicht mehr als drei Gäste an der Theke standen. Pumpe holte sein iPad hervor und schaute sich auf YouTube einen Film über eine Modellbahnanlage an.

Blues drohte Hans und mir, irgendwann einmal keine Runde mehr zu spendieren, wenn wir ihm nicht sagten, was es mit unserem geheimnisvollen „Ibrahim“ auf sich hatte. Wir versprachen ihm, die Sache bald aufzuklären.

Theke, Antitheke, Syntheke

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