Читать книгу Trümmerprinzessin - Ruth Broucq - Страница 7
Unantastbar
ОглавлениеDoch es gab ja immer noch Rosel. Wenn wir auch seltener zusammen kamen, so ergab es sich zufällig, dass sie einmal eine Freundin benötigte, die so naiv war wie ich.
>Hast du Lust mit zu mir zu kommen?< fragte Rosel mich eines Tages auf dem gemeinsamen Heimweg.
Weil meine Oma mich zum Mittagessen erwartete und es mächtig Ärger gegeben hätte, wenn ich ausgeblieben wäre, lehnte ich bedauernd ab: >Darf ich nicht. Ich muss nach der Schule direkt nach Hause kommen. Sonst sagt die Oma das meiner Mutter und dann gibt es auf die Ohren. Lieber nicht. Aber ich kann nachmittags kommen.<
Rosel nickte, meinte gnädig: >Ja, dann komm um drei, kannst ja nix dafür dass du so streng gehalten wirst.<
>Darfst du denn nach der Schule bummeln? Ist es deiner Mutter egal ob du zum Essen kommst oder nicht?< staunte ich ungläubig.
>Meine Mutter arbeitet. Ich bin ein Schlüssel-Kind. Und das ist ganz toll. Ich kann den ganzen Nachmittag machen was ich will. Bei uns gibt es keine Oma. Ich brauch auch keinen Wachhund.< sagte sie verächtlich. >Also um drei. Komm nicht später, wir haben was sehr Schönes vor.< machte sie auf Geheimnisvoll.
Der Begriff Schlüsselkind war mir fremd, aber mich interessierte viel mehr was das Schöne war. Also fragte ich begierig: >Was?<
Rosel grinste vielsagend und meinte nur: >Überraschung!<
Trotzt meiner drängenden Nachfrage war Rosel nicht bereit meine Neugierde zu stillen, sie vertröstete mich auf später.
In Erinnerung an ihre letzte seltsame Überraschung war mir etwas mulmig zu Mute und ich schwankte zwischen kribbelnder Vorfreude und ängstlicher Neugier. Das Warten fiel mir so schwer, dass ich vor Aufregung kaum aß.
Als ich mit kleiner Verspätung bei ihr an kam stand Rosel bereits ungeduldig von einem Bein aufs andere trampelnd vor ihrer Haustür. >Wo bleibst du denn? Es ist schon fast halb vier. Um drei hatte ich gesagt. Jetzt kommen wir deinetwegen zu spät.< schimpfte sie ärgerlich.
>Wohin zu spät? Du hast mir nicht gesagt, dass du woanders hin willst.< wehrte ich ab.
>Komm jetzt- erzähl ich dir unterwegs.< forderte sie ungeduldig und hastete los, dass ich kaum mithalten konnte.
Dann erfuhr ich dass sie mit ihrem Freund verabredet war, mich brauchte weil ihr >Gerd< noch seinen Freund Erich mitbrachte.
>Aber was soll ich denn dabei? Ich kenne die doch gar nicht.< wendete ich schüchtern ein. Denn alleine die Tatsache, dass Rosel in so jungem Alter schon einen richtigen Freund hatte, war mir nicht geheuer. Ich wusste nicht wozu man einen >Freund< brauchte und wie man damit umging.
>Dummchen! Dann lernst du die jetzt kennen. Wird ja Zeit dass du mal was anderes mit Jungs machst als sie zu verprügeln.< lachte sie verächtlich.
Verwirrt fragte ich sofort: >Was denn?<
Sie blieb stehen, sah mich mitleidig an und versprach: >Was sehr schönes, wirst du schon sehen. Es wird dir bestimmt gefallen, da bin ich sicher. Denk doch mal an unser Blindekuh- Spiel auf unserem Sofa.< grinste sie überlegen.
Ich fühlte das Blut ins Gesicht schießen, stotterte entsetzt: >Solche Sachen macht man mit Jungs? Nein, das kann ich nicht!<
>Mein Gott, du bist aber auch dumm! Du musst doch nichts machen, wenn du nicht willst. Nur stillhalten. Es wird ja wirklich Zeit dass ich dir mal was über Fummeln beibringe. Aber der Erich kann dir das direkt zeigen, das ist besser. Freu dich doch, das ist sehr schön. Wirst es so gern haben, dass du es immer wieder willst, glaub mir.< belehrte sie mich herablassend.
>Da kommen sie. Also, denk daran, nur stillhalten. Wenn der Erich dich küssen will, wehre dich nicht. Blamiere mich nicht. Die beißen nicht.< warnte Rosel und lachte den beiden Jungs entgegen, während ich unsicher und misstrauisch war.
Die beiden waren sicher im Alter meiner Schwester, also viel älter, 12, 13 oder sogar 14 und größer als ich, das verunsicherte mich noch mehr. Gerd entpuppte sich als ein hübscher hellblonder stämmiger Kerl mit strahlend blauen Augen, der seine Rosel direkt mit einem dicken schmatzenden Kuss begrüßte. Das erschreckte mich so sehr, dass ich vorsichtshalber einen Schritt zurückwich als Erich mir seine Hand entgegen streckte. Der schmale Junge war dunkelhaarig mit blassem farblosem, ungewaschen wirkendem Gesicht und undefinierbaren grau-grünen Augen. Er sah neben dem properen Strahlemann Gerd recht kränklich aus. War ich froh, dass er mich nur mit Handschlag statt Kuss begrüßen wollte und selbst diese Berührung mochte ich schon nicht. Wusste ich doch nicht was er mit seiner schmuddeligen Hand vorher angefasst hatte? Ich entschied im Stillen, dass ich keine weitere Annährung mehr zulassen würde, küssen schon mal gar nicht!
Kannte ich doch zärtliche Berührungen von zu Hause gar nicht, denn meine Mutter und meine Oma waren beide kühle Frauen, sogenannte Trümmerfrauen, die liebevolle Nähe nicht zuließen. Durch ihre schwere Accordarbeit, die oft bis in den späten Abend andauerte, sah ich meine Mutter selten und dann war sie immer müde und ablehnend.
Meine Oma war auch keine Schmuseoma, sondern eine stolze herrische Frau von aristokratischer Abstammung, die durch zwei geschiedene Ehen aus Enttäuschung zur rabiaten Männerfeindin geworden war. Durch ihre schlechten Erfahrungen hatte sie zur Frömmigkeit gefunden und war der Adventisten-Gemeinde beigetreten. Sonntags vormittags nahm sie mich mit zu der Sonntagsschule, womit sie mich ebenfalls Gottesfürchtig erziehen wollte.
Ich hörte lediglich gerne den Geschichten zu, die dort erzählt wurden, in der Gläubigkeit jedoch fand ich bei meiner ungläubigen Mutter kein Echo.
Beide Frauen hatten sich zu einer Zweckgemeinschaft zusammen geschlossen. Sie versorgten uns gut, aber sie erfüllten nur ihre Pflicht. Gefühle zeigten sie nicht. Weil sie Beide von den Männern betrogen oder im Stich gelassen wurden kannten sie Liebe nicht und konnten sie auch nicht geben. Das machte sich auch im Umgang mit uns Kindern bemerkbar. Deshalb war mir jegliche körperliche Wärme fremd.
Und das einzige männliche Wesen in unserem Haushalt war Kater Fritzchen, den ich schon wegen meiner Empfindlichkeit gegen Haare nicht liebkoste.
Nein, bei dem farblosen Erich würde ich sicher auch nicht stillhalten, denn ich hasste es bereits wenn irgendein Onkel oder Opa mir das Gesicht tätscheln oder übers Haar streicheln wollte. Bei solchen Annäherungen ging ich sofort auf Distanz und begegnete diesen Männern mit abweisendem Misstrauen. Bei dem kernigen Gerd allerdings hätte ich es mir vielleicht überlegt, würde er mir einen Kuss geben wollen. Der gefiel mir. Aber der gehörte meiner Freundin Rosel.
Hm, wie blöd, dachte ich. Aber wer konnte schon wissen wie es weiter ging?
Rosel wusste es, sie schlug vor spazieren zu gehen. Sie wollte in den nahen Wald. Ängstlich überlegte ich mir schon den Fluchtweg für den Fall dass ich weglaufen musste. Mein sonst sprichwörtlicher Mut ließ mich völlig im Stich. Allein die Vorstellung einem küssenden Erich hilflos im Wald ausgesetzt zu sein, schreckte mich. Ich war der Situation nicht gewachsen. Das war eine vollkommen andere Sache als einen Streit auszufechten.
Weil wir einige hundert Meter zu gehen hatten, demonstrierte ich meine Ablehnung schon einmal damit dass ich mit deutlichem Abstand von den Anderen auf der steil bergab führenden Straße vorlief, während Gerd und Rosel verliebt Hand in Hand gingen und Erich neben den Beiden hertrottete.
Trotz mehrfacher Aufforderung meiner Freundin doch näher zu kommen, vergrößerte ich den Abstand noch und begann kindlich zu hüpfen, wobei ich fröhlich lachte und trällerte. Nur an Rosels finsterer Miene konnte ich erkennen, dass sie mein Verhalten nicht in Ordnung fand, was mich aber wenig beeindruckte.
Was die beiden Jungs dachten, worüber sie sprachen, konnte ich nicht mitbekommen, dazu hatte ich mich zu weit entfernt. Lediglich als sie sich noch vor dem Waldrand zur Umkehr entschlossen, war mir klar dass ich Rosels Vorhaben vereitelt hatte. Mir war das nur recht.
Danach kündigte Rosel mir rigoros die Freundschaft. Weil ich ihr mit meinem kindischen Benehmen den Spaß verdorben hatte, sagte sie bevor sie mich mied. Der Verlust dieser Freundin war mir egal.
Mir jedoch brachte der Vorfall die Einsicht, dass ich bei aller Unerschrockenheit nicht zu jedem Abenteuer bereit war.
Dadurch hatte sich meine Eigenwilligkeit entwickelt.