Читать книгу Nachtkerzen Phantastische Geschichten - Ruth und andere Boose und andere - Страница 13

II. Akt: Kummer im Kaufhaus

Оглавление

Bart Morgan saß an seinem Schreibtisch und lächelte aufmunternd. Die Bewerber für die Position des Bezirksleiters saßen in angespannter Erwartung nebeneinander. Nach einer einminütigen Einleitungsrede, die aus belanglosen Floskeln bestand, kam er zur Sache. Herr Morgan wechselte nun in einen ernsteren Tonfall. Er sagte, es sei eine sehr schwierige Entscheidung gewesen, aber letztendlich habe er sich Michelle als seine Nachfolgerin für die Bezirksleitung ausgesucht.

Sie denken jetzt vermutlich, wo liegt dann mein Problem, nicht wahr?“, sprach Michelle weiter, während der Professor interessiert zuhörte.

„Steve schien die Entscheidung zu akzeptieren, wir entspannten uns alle für einen Moment auf unseren Stühlen. Ich werde niemals Steves Worte vergessen, die er nun an uns richtete …

‚Lasst uns feiern!‘, erhob Steve Kim seine Stimme mit einem Anflug von Begeisterung. ‚Teufel noch eins, wir sind zwei dynamische Singles; lasst uns ins Nachtleben stürzen, das Tanzbein schwingen und der Stadt Dreck zum Aufräumen hinterlassen …!‘

Wir lachten alle, obwohl im Nachhinein hätte klar sein müssen, dass seine Wortwahl einigermaßen … Ich erzähle besser weiter.“

Michelle seufzte, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr.

„Steve sagte, er müsse mal kurz aufs Klo und sei in zwei Minuten wieder da. Herr Morgan erklärte mir einige meiner künftigen Pflichten in der neuen Stellung, während wir beisammen saßen. Ich stellte einige Rückfragen und machte mir Notizen zu seinen Erklärungen. Es waren gefühlt nur wenige Minuten vergangen, doch tatsächlich war es 37 Minuten später, als wir feststellten, dass Steve immer noch nicht von seiner Toilettenpause zurückkehrte. ‚Was ist denn da los?‘, wunderte sich mein Chef achselzuckend, ‚ist er in die Schüssel gefallen?‘

Die Männertoilette lag von Herrn Morgans Büro aus am Ende des Flurs ein Stockwerk über uns. Ich weiß noch, wie Herr Morgan sagte, er werde mal nach Steve sehen und gleich wieder zurück sein. Um ehrlich zu sein, kaum war ich allein im Büro, verschwendete ich keine weiteren Überlegungen mehr an Steve, so vertieft war ich in Gedanken schon in meine neue Stelle.

Ich las mir gründlich das Kleingedruckte meines Vertrages durch, den ich zur Unterzeichnung erhalten hatte, als ich aus dem zweiten Stock etwas hörte, das nach einem schrecklichen Schrei oder Ruf klang. Vor Schreck ließ ich die Unterlagen auf den Tisch fallen und sprang auf die Füße. Ich rannte aus dem Büro und schaute zur Treppe, die ins nächsthöhere Stockwerk führte. Herr Morgan stand auf der untersten Stufe. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Furcht und Entsetzen. Er schien unfähig dazu, ein Wort herauszubringen, deutete mir nur an, ihn treppauf zur Herrentoilette zu begleiten. Voller Unbehagen begann ich die Stufen hinaufzugehen …

Dort in der hintersten Kabine hing die Leiche von Steve Kim! Sein kürzlich verstorbener Körper hing an einem dicken Bungeeseil. Es waren weniger als 40 Minuten vergangen, aber sein Gesicht war bereits dunkelviolett verfärbt und angeschwollen. Er muss seinen Selbstmord geplant oder zumindest eindeutig als Handlungsmöglichkeit einkalkuliert haben.“

„Wie kommen Sie darauf, wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Professor Köhler.

Michelle holte tief Luft und fuhr mit ihrer Erklärung fort. „Er hat sich dynamisch vom Milchkarton gestürzt und sich gewiegt, das Tanzbein geschwungen sozusagen. Diese Andeutungen müssen sich auf ihn selbst bezogen haben, darauf, was er vorhatte. Und, nicht dass ich Sie damit schockieren möchte, aber wie die meisten Selbstmörder hat er wirklich Dreck hinterlassen. Wir konnten es riechen, Sie wissen schon …“

Michelle sah beschämt zu Boden, als der Professor angewidert das Gesicht verzog.

Sie berichtete weiter: „In Steves Hand fanden wir einen zusammengefalteten Zettel, dessen Inhalt ungefähr folgendermaßen lautete: ‚Millys und meine Zukunft hängen von dieser Beförderung ab, und nicht nur unsere. Es tut mir schrecklich leid, ich wünsche Ihnen alles Gute. Leben Sie wohl. Gezeichnet: Steve.‘

In seiner anderen Hand befand sich die Erklärung, woher ich weiß, dass sein Selbstmord ein geplanter Ausweg war, falls er die Stelle nicht bekäme …“

An dieser Stelle brach Michelle in Tränen aus. Hastig reichte ihr der Professor eine Schachtel mit Taschentüchern herüber, und sie erzählte die Begebenheit zu Ende: „Mit der linken Hand hielt er den Ausdruck eines Ultraschallbildes umklammert, das einen dreieinhalb Monate alten Fötus zeigte: sein zukünftiges Kind. Deshalb hatte er alles auf diese Beförderung gesetzt und die Absage nicht verkraften können …“

Der Kummer und Schrecken dieser traurigen Geschichte hing minutenlang wie eine dunkle Wolke über ihren Köpfen, keiner sprach ein Wort.

„Also, ich … es tut mir aufrichtig leid, dass Sie diese furchtbare Erfahrung machen mussten, Michelle“, ergriff der Professor schließlich das Wort. „Bitte lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie keinerlei Schuld an seinem Tod trifft, so unglücklich sich das auch getroffen hat.“

„Ja“, stimmte Michelle mit brüchiger Stimme zu, „es ist nur … ich konnte nach dieser ganzen Sache nicht mehr dort arbeiten. Ich habe seine Frau Melissa oder Milly zwar nie persönlich getroffen, sie schrieb jedoch einige Tage darauf einen Brief an den Laden, der einen an mich persönlich gerichteten Absatz enthielt. Offenbar hatten Steve und sie zuvor eine Debatte über den Vornamen ihres zukünftigen Kindes gehabt. Schlussendlich hatte sie ihm die Namenswahl überlassen. Steve rief sie kurz vor seinem Selbstmord an und sagte ihr, dass er sich für den Namen Michelle entschieden hätte. Ja, tatsächlich, er hat seine Frau angerufen, ihrem Kind MEINEN Namen gegeben und direkt darauf seinem Leben ein abruptes Ende gesetzt! Vielleicht wollte er mir damit Schuldgefühle einreden, vielleicht war er am Ende einfach verrückt und unzurechnungsfähig, ich … ich weiß es wirklich nicht. Aber es hat mich zutiefst erschreckt, und deshalb werde ich ihn und diesen Arbeitsplatz niemals wieder aus meinem Gedächtnis streichen können …“

Der Professor äußerte sich verständnisvoll: „Nun, ich kann gut nachvollziehen, weshalb Sie einen Berufswechsel anstreben, Michelle. Wirklich sehr erschreckend …! Nun, ähm … könnten Sie bitte noch einmal im Warteraum Platz nehmen und … Helen … hereinbitten.“

Michelle bedankte sich leise bei Professor Köhler, stand auf und verließ den Raum. Dreißig Sekunden später betrat Helen Müller sein Büro.

„Helen?“ Der Professor lächelte. „Erfreut, Sie kennenzulernen! Sie haben auf dem Bewerbungsbogen ‚Selbstständiger‘ angekreuzt und hervorgehoben, dass Ihre bisherigen Hauptaufgaben in der Gebäudereinigung und der Kinderbetreuung bestanden haben. Ich kann einsehen, welche Nachteile diese Tätigkeitsfelder haben, beispielsweise bezüglich der Unvorhersehbarkeit der Terminplanung.“

Helen nickte und lächelte für einen Moment.

„Wenn ich also fragen darf, weshalb bewerben Sie sich ausgerechnet an unserer bescheidenen Universität?“

Helen schluckte und begann zu sprechen.

„Richtig. Für Menschen daheim zu arbeiten ist in der Regel entspannt und nicht sehr abwechslungsreich. Ruhig, bisweilen fast langweilig. Jedoch änderte sich die Lage für mich eines Tages zum Schlechten, und zwar im Cherring-Haus. Ich möchte behaupten, dass ich noch nie von einem solch seltsamen und teuflischen Plan gehört habe, nicht einmal in einem Hitchcock-Film …!“

Nachtkerzen Phantastische Geschichten

Подняться наверх