Читать книгу Nachtkerzen Phantastische Geschichten - Ruth und andere Boose und andere - Страница 6
ОглавлениеDurch ein lautes Klirren erwachte er. Er fuhr hoch und schaute sich um. Die Fensterscheiben hatten dem Druck der Blumen nicht mehr standhalten können und waren zerbrochen. Die Blüten schoben sich weit in sein Zimmer hinein, als wollten sie ganz Besitz von ihm ergreifen. Eine Wolke goldglänzenden Staubes erfüllte für Minuten den Raum und legte sich auf alle Gegenstände.
Allmählich wurde ihm das Ganze doch zu viel. Die üppige Pracht der Nachtkerzen machte ihn nervös. Unwillig las er die Scherben auf und schüttete sie in den Abfalleimer. Es musste schon spät sein. Wie lange mochte er geschlafen haben? Ihm war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen.
Er beschloss zu handeln. Vieles harrte der Erledigung. Zu viel Zeit hatte er schon versäumt. Er zog sich an und stemmte sich gegen die Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Offenbar standen die Blumen nach dieser Seite der Hütte genauso dicht.
Einen Moment war er ratlos. Was sollte er nun tun? Er kletterte durch die Luke auf das Dach der Baracke, um einen besseren Überblick zu bekommen. Was er sah, war nicht dazu angetan, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Die Nachtkerzen waren über der Hütte zusammengewachsen und bildeten so ein Gewölbe. Es war nicht abzusehen, wie hoch die Pflanzen gewuchert waren.
Für einen Augenblick dachte er daran, sich durch dieses Dickicht hindurchzukämpfen, aber sofort sah er die Unmöglichkeit des Gedankens ein. Die Nachtkerzen standen so dicht, dass kein Durchkommen zu erzwingen war. Er hätte in diesem grünen Durcheinander auch sofort die Orientierung verloren.
Er war gefangen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gut es war, dass er sich für alle Fälle einen kleinen Lebensmittelvorrat angelegt hatte. Auch der Wassertank auf dem Dach war ausreichend gefüllt und würde ihn nicht verdursten lassen. Er war für eine längere Belagerung gerüstet. Das Einzige, was ihn ärgerte, war der Umstand, dass er jetzt keine Besuche mehr empfangen konnte. Aber dafür war er auch ausreichend vor Überfällen geschützt, die sich in der letzten Zeit gemehrt hatten. So konnte er in aller Ruhe die weitere Entwicklung abwarten.
Und doch war ihm das rasche Wachstum der Blumen irgendwie unheimlich. Er hatte wenig Ahnung von Biologie, aber noch nie hatte er gehört, dass Pflanzen derartig in die Höhe schießen können. Wie war das möglich? Zuerst waren die Nachtkerzen auf den Schutthügeln in der zerstörten Fabrik aufgetaucht. Lange hatten sie sich dort unbeobachtet vermehrt, bis sie sich eines Tages weiter ausbreiteten, über den Weg hinweg auf seine Hütte zukamen und diese immer mehr einkreisten, ohne allerdings irgendwelche Zeichen abnormen Wachstums zu zeigen.
Er schaute auf die riesigen Pflanzen, die harmlos dastanden – schweigend und undurchdringlich. Welches Rätsel verbarg sich hinter dieser Üppigkeit? Was hatte dieses ausgefallene Emporstreben zu bedeuten? Er vermochte nicht, sich einen Reim auf die Ereignisse der letzten Stunden zu machen. Stumm betrachtete er die großen Blätter. Er entdeckte große, nie gesehene Käfer, welche die Stiele entlangkrochen. Sie hatten bunt schillernde Flügel, die ihre blauschwarzen Körper bedeckten. Die dicken Stängel zitterten leise. Weiter oben schien ein heftiger Wind zu gehen – hier unten war nichts zu spüren als die drückende Hitze.
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Die Blumen wuchsen unaufhörlich. Nachts hörte er deutlich das ständige Schlurfen und Schleifen an seiner Barackenwand. Die eine Seite war schon stark eingedrückt, und durch das Fenster ragten die Blüten bis über seine Liege. Es kam oft vor, dass er nachts erwachte, weil ein riesiger Käfer ihm auf die Nase fiel.
Hier unten wurde es von Tag zu Tag dunkler. Kaum ein Lichtstrahl verirrte sich noch in diese Tiefen. Nicht selten fuhr er aus dem Schlaf, weil unheimliche Geräusche aus dem Gestrüpp ertönten, und mehr als einmal erschreckten ihn ein paar glühende Augen, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten.
Einmal glaubte er, deutliche Rufe zu hören. Er schrie in die Finsternis, aber das Dickicht verschluckte jeden Laut. Am nächsten Tag sah er ein Skelett in den Blumen hängen. Auf den Blättern wurde es nach oben getragen.
Zwei Tage grinste sein weißes Gesicht zum Fenster herein, dann war es seinen Blicken entschwunden. Wer war dieser Mensch? War er der Rufer in der Nacht? War er in der Wildnis umgekommen, oder hatte ihn das wahnsinnige Wachstum der Pflanzen aus der Erde gerissen?
T. überlegte, ob er sich nicht auch so in die Höhe tragen lassen sollte, der heißen Sonne entgegen. Aber wer weiß, wie lange er dann im Ungewissen schwebte, so wie das Skelett über seiner Hütte. Außerdem wusste er jetzt, dass es da draußen gewisse Gefahren gab, denen er sich nicht leichtsinnig aussetzen wollte.
Seine kleine Hütte war im Moment das Einzige, was ihm noch einen gewissen Schutz bot vor der Bedrohung einer Umwelt, die er nicht mehr verstand.
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Ich kann mich in meiner Behausung kaum noch bewegen. Das Dach ist völlig zerdrückt. Die Wände sind wie bei einem Zelt gegeneinander geneigt. Gestern haben die ersten Blumen den Fußboden durchbrochen. Und da erst merkte ich, dass ich keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, dass die Baracke längst irgendwo in der Höhe schwebte, emporgetragen von den meterlangen Blättern.
Die Entdeckung wirkte vernichtend auf mich. Wie soll jetzt noch Rettung möglich sein? Während ich mich in relativer Sicherheit wähnte, bin ich unbemerkt in eine Lage gebracht worden, in der die Vernichtung meiner Existenz zur Unvermeidlichkeit wurde.
Es ist fast finster, obwohl doch meine Hütte – eingeklemmt zwischen den dicht stehenden Stängeln – stündlich höher getragen wird. Gigantische Glühwürmchen huschen zwischen den Blättern hindurch, und die gelben Blüten scheinen zu leuchten.
Ich steige ohne mein Dazutun. Ich werde höher gedrückt von den ungestüm nachdrängenden Pflanzen. Je höher ich steige, umso undurchdringlicher wird das Dickicht. Je höher ich dringe, umso mehr fehlt mir die Luft zum Atmen. Mein beschränkter Freiraum wird immer mehr eingeengt. Statt Licht und Weite umgeben mich Finsternis und Isolation.
Mein Aufstieg führt mich in unbekannte Regionen. Je höher ich komme, umso lebensfeindlicher wird die Umwelt für mich. Nicht, weil die Pflanzen es auf mich persönlich abgesehen hätten. Vielmehr bin ich selbst in ihrem Bereich ein Fremdkörper, der stört.
Wie könnte ich mich ihrem stürmischen Wachstum entziehen, ihrem blinden, zielgerichteten Drängen, das alles, was ihrem Streben nach oben im Wege ist, zu Tode drückt? Ich muss aussteigen und weiß nicht, wie. Mein Weg nach oben ist ein Weg, an dem ich zugrunde gehen muss.
Verzweifelt starre ich in das eng verschlungene Gewirr der Pflanzen. Woher schöpfen sie ihre Kraft? Ich könnte einzelne Pflanzen kappen. Doch sofort würden andere ihre Stelle einnehmen, sofort würde der frei gewordene Platz die nachdrängenden Blumen umso üppiger in die Höhe schießen lassen.
Ich kann ihrer Welt nicht entfliehen, sie sind überall. Ich muss kämpfen und weiß nicht, wie. Allein bin ich zu schwach. Kann ich auf Hilfe von außen rechnen?
Vor meinem Fenster hängt ein seltsames Wesen. Es ist eine Art Katze – nur viel größer. Die Pflanzenstiele haben sich um ihren Hals geschlungen und sie erwürgt. Kleine grüne Käfer kleben auf der Zunge. Der Rachen mit den Reißzähnen ist weit aufgerissen – eine Blüte ist direkt durch den Schlund hindurchgewachsen und schaut aus dem Maul des Raubtieres heraus – ein Zeichen des Triumphes der Blumen, die keine Konkurrenz dulden.
Aber kann diese üppige Welt ohne Feinde bleiben? Schrecklich müssen sie sein, die Wesen, welche kommen werden, das Bestehende zu zerstören, diese Welt der dumpfen Enge niederzureißen, deren erdrückende Macht zu beseitigen mit Stumpf und Stiel. Ich vertraue mein Schicksal den Kräften der Zerstörung an. Ich fürchte sie und sehne mich in den Nächten nach ihnen. Angst ist besser als Resignation.
Und eines Tages, als ich erwachte, war es so weit. Große scheußliche Monster starrten durch mein zerbrochenes Fenster herein.
Es waren eine Art Riesenheuschrecken, die mit rasender Geschwindigkeit die Blätter der Blumen fraßen. Grässlich klang es, wenn ihre Gebisse zusammenschnappten. Eine bunte Blüte nach der anderen verschwand in ihren nimmersatten Mäulern.
Und es wurde sichtbar heller mit jedem Tag. Und ich begann, an meine Rettung zu glauben. Meine ganze Hoffnung lag jetzt in der Fressgier dieser Untiere.
Wo kamen sie in diesen Massen her? Sie saßen vor meinem Fenster und fraßen, während sie mit unbeweglichen Gesichtern zu mir hereinstarrten – eine Schar grüner Teufel aus einer unbegreiflichen Unterwelt.
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Es ist alles O. K. Meine Hütte kam einige Hundert Meter vom alten Standpunkt entfernt wieder zu Boden und landete sanft auf vertrockneten Pflanzenresten.
Als alle Blumen ratzekahl weggefressen waren, erhob sich der Heuschreckenschwarm und flog mit unbekanntem Ziel davon. Die müde Herbstsonne scheint wieder über der dürren Erde. Die Ruinen der Stadt stehen wie zuvor.
Ich habe meine Hütte ausgebessert. Täglich kommen wieder Gäste in mein Heim. Wir versuchen, die Zeit zu genießen, soweit wir es mit unseren bescheidenen Mitteln vermögen. Das Leben geht seinen gewohnten Gang. Doch wie aus einer rätselhaften Scheu heraus spricht niemand über das Vorgefallene.
Denn trotz unserer Rettung bleibt das unbehagliche Gefühl, dass nicht wir selbst es waren, welche die Mittel zu unserer Befreiung fanden. Es könnte jederzeit wieder über uns kommen, zweimal, viermal, zehnmal – und jedes Mal wären wir genauso hilflos wie beim ersten Mal.
Diese Erkenntnis ist es, die uns lähmt und uns Zuflucht nehmen lässt in Feiern, in denen wir die Furcht vor unserer Ohnmacht zu vergessen suchen.