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Jagdzeit
Оглавлениеvon Sandra Meyer
„… und jetzt kommen wir zu einem Sonderbericht über den Serientäter, der in den letzten Wochen in dieser Gegend schon acht Frauen ermordet hat.“
Eine adrette Nachrichtensprecherin sah mit ernster Miene von ihren Unterlagen auf, hinter ihr waren für den Zuschauer die acht Bilder der Opfer eingeblendet. Auf den Fotos lachten die meisten der jungen Frauen unbeschwert dem Betrachter entgegen. Noch nicht ahnend, wie schnell ihrem Leben ein jähes Ende gesetzt worden war.
„Der von der Bevölkerung als der ‚Jäger‘ bezeichnete Täter entführt junge Frauen im Alter zwischen 19 und 25 Jahren, bringt sie des Nachts in die nahe gelegenen Wälder und lässt sie dort frei, um sie zu jagen, zu vergewaltigen und zu töten. Das erste Opfer, die 19-jährige Amanda Simcoe, wurde am 17. April nahe dem Blackforest-Fluss gefunden. Das letzte Opfer, die 24-jährige Studentin Tina Bouler, fand man am 20. Juni am Rand der Route 24. Bis jetzt will sich die Polizei noch nicht zu eventuellen Verdächtigen äußern, um die Ermittlungen nicht zu gefährden.
Aber sie bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Wer hat in der Zeit vom 15. April bis zum 20. Juni in den Wäldern des Mount Monroe Naturreservats Verdächtiges bemerkt, oder wem ist ein Fremder in seiner Wohngegend aufgefallen?“
Hinter der Nachrichtensprecherin erschien jetzt eine Karte des betreffenden Naturschutzgebietes.
„Bei sachdienlichen Hinweisen wenden Sie sich bitte an Ihre zuständige Polizeidienststelle. Außerdem bittet die Polizei alle Frauen in der Stadt, besondere Vorsicht walten zu lassen und wenn möglich, gerade nachts, nicht mehr allein unterwegs zu sein. Wir haben jetzt einen ehemaligen Profiler der Polizei zugeschaltet, um mehr über den Täter zu erfahren. Guten Tag, Dr. Drayson, was können Sie uns über die Person des ‚Jägers‘ sagen?“
Dr. Drayson, ein schlanker Mann mit grauen Haaren und einer Brille, räusperte sich kurz, bevor er begann: „Ich vermute, dass der Mann zwischen 30 und 45 Jahren alt ist, ein Weißer, mit guter Bildung und im täglichen Leben unauffällig. Wahrscheinlich hat er einen Beruf, in dem er eine untergeordnete Tätigkeit ausübt. Außerdem lebt er mit Sicherheit allein, hat wenige soziale Kontakte und gilt bei Kollegen als Einzelgänger. Er dürfte körperlich fit sein, sonst könnte er die jungen Frauen nicht überwältigen.“
Die Nachrichtensprecherin nickte ernst. „Und warum, glauben Sie, jagt er die Frauen erst, bevor er sie tötet?“
„Nun, durch das Jagen zeigt er seine überlegene Machtposition gegenüber den Frauen, er degradiert sie quasi zu Tieren. Er sucht das Gefühl der Stärke. Es ist davon auszugehen, dass er in seinem wirklichen Leben keine Autorität irgendwelcher Art besitzt, vielleicht sogar von Frauen dominiert wird oder sich ihnen unterordnen muss.“
„Glauben Sie, dass er weiter morden wird? Oder könnte es auch sein, dass er irgendwann von selbst aufhören wird?“
Dr. Drayson schüttelte den Kopf. „Nein, ein Serientäter, der in dermaßen kurzer Zeit so viele Frauen ermordet hat, wird nicht plötzlich aufhören zu töten; wahrscheinlicher ist, dass er seine Mordrate noch erhöhen wird. Er findet Gefallen an dem, was er tut, und er wird immer besser darin.“
Die Nachrichtensprecherin wirkte etwas schockiert von den drastischen Worten des Profilers.
„Wie sehen die Chancen aus, dass die Polizei den Täter bald findet?“ Ein hoffnungsvoller Ton schlich sich in ihre Stimme.
„Nach meiner Erfahrung ist es schwierig, solche Täter zu fassen, da sie keine Beziehung zu den Opfern haben. Sie wählen sie zufällig aus“, stellte Dr. Drayson fest.
Ein kurzes Flimmern, dann erlosch der Bildschirm und verschluckte die Antwort der Nachrichtensprecherin.
Der Mann, den alle den ‚Jäger‘ nannten, zog in Ruhe seine Jacke an, löschte das Licht in seiner Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.
Auf dem Weg nach draußen begegnete er seinem Nachbarn aus der Wohnung gegenüber. „Hallo, wie gehts?“, rief dieser ihm zu.
„So spät noch unterwegs?“
„Ich habe heute noch ein Date“, gab der ‚Jäger‘ mit einem breiten Lächeln im Gesicht zurück. Ja, das hatte er in der Tat und er freute sich schon darauf, auch wenn die betreffende Dame noch nichts von ihrem Glück wusste.
Draußen war es dunkel geworden, die Menschen kehrten nach und nach von ihrer Arbeit zurück oder machten sich schon wieder auf den Weg zu ihren Abendaktivitäten. Der Jäger stieg in seinen Wagen und fuhr los.
Eine halbe Stunde später war er an seinem Ziel angekommen. Doch er hielt nicht an, sondern fuhr noch ein paar Blocks weiter bis zum Waldrand. Dort parkte er und ging zu Fuß zurück. Er erreichte ein altes Haus, in dessen beiden Stockwerken erleuchtete Fenster zeigten, dass die Bewohner daheim waren. Im Erdgeschoss lebte die alte Dame, der das Haus gehörte. Doch für die interessierte er sich logischerweise nicht, sein Interesse galt der jungen Studentin, die im ersten Stock wohnte.
Er beobachtete sie schon seit Tagen. Sie war ihm aufgefallen, als er mal wieder über den Campus der hiesigen Universität geschlendert war, auf der Suche nach lohnender Beute, und er hatte sie gefunden.
Ihr Name war Eden Campton, 22 Jahre alt, sie studierte Medizin und war in jeder Hinsicht perfekt für ihn: selbstbewusst, stark, eine hervorragende Studentin und trainierte Sportlerin. Zu seiner großen Freude ging sie regelmäßig joggen, sogar spät-abends. Das war eine neue Herausforderung für ihn, denn die anderen Frauen hatten einfach zu schnell schlappgemacht.
Gut, die Erste, die Neunzehnjährige, hatte noch ganz gut durchgehalten. Aber ihre Nachfolgerinnen waren allesamt ziemlich lahm gewesen und schlecht zu Fuß, dachte er mit einem Grinsen. Dabei war doch gerade die Jagd das Aufregende, das, wofür er überhaupt lebte. Alles danach war nur noch eine Notwendigkeit, so wie der finale Schuss und das spätere Ausweiden bei einem Tier.
Doch seine Opfer durch die Wälder fliehen zu sehen, ihren keuchenden Atem, ihre Schreie und ihr Flehen zu hören, das war einfach wunderbar. Wenn er als Jäger durch die Dunkelheit strich, dem Opfer auf der Spur, dann hatte das etwas Erhabenes, Einzigartiges. Dann war er das mächtigste Wesen in diesen Wäldern.
Sein Atem beschleunigte sich allein bei dem Gedanken daran und ein sehnsuchtsvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Heute Nacht war es wieder so weit und dieses Opfer versprach, seine Erwartungen zu erfüllen oder sogar zu übertreffen.
In dem Moment hörte er die Hintertür des Hauses aufgehen und schnelle Schritte, die sich Richtung Wald bewegten. Die Zeit war gekommen. Sie lief immer die gleiche Runde, wie ein zuverlässiges Uhrwerk. Er dagegen nahm eine Abkürzung durch den Wald und lauerte ihr ungefähr fünfhundert Meter hinter ihrem Haus auf. Wie jedes Mal ging es schnell und leicht, das Betäubungsmittel wirkte sofort und die Gegenwehr der jungen Frau erlahmte rasch. Schwer sackte sie in seine Arme. Im Dunkel des Waldes war es kein Problem, sie unbemerkt zu seinem Auto zu bringen und in den Kofferraum zu sperren.
Es war Vollmond in dieser Nacht, und jetzt, da sich die Wolken verzogen hatten, wurde die Lichtung mitten im Wald von seinem silbernen Schein erfüllt. Geduldig, das Gewehr lässig geschultert, wartete der Jäger, bis sein Opfer aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte.
Mit einem Stöhnen rührte sich die junge Frau und versuchte mühsam auf die Beine zu kommen, schließlich stand sie schwankend auf und sah sich um.
„Hallo, meine Liebe“, begrüßte er sie freundlich, „schön, dass du endlich wach bist. Wir haben noch viel vor heute Nacht.“
Er trug wie immer schwarze Kleidung, eine Gesichtsmaske und seine Nachtsichtbrille. Durch diese war die Frau vor ihm in einen grünlichen Ton gehüllt, ihre Augen leuchteten hell.
Bisher hatte sie noch nichts gesagt, keine Reaktion gezeigt, sie starrte ihn nur an. Ein solches Verhalten war ungewöhnlich und er spürte wütende Frustration in sich aufsteigen. Das war nicht richtig. Sie sollte Angst haben, zittern, er wollte die Panik in ihren Augen aufsteigen sehen, wenn ihr klar wurde, was ihr bevorstand. Aber gut, was noch nicht war, konnte ja noch werden. Die Nacht hatte gerade erst angefangen.
„Ich muss dich jetzt bitten, deine Kleidung abzulegen“, sagte er und zielte zur Bekräftigung mit seinem Gewehr auf sie. Dieser Moment war immer heikel, denn die Opfer weigerten sich zuerst und er musste meistens mit seiner Waffe für Nachdruck sorgen.
Doch auch hier überraschte ihn die junge Frau, sie sagte weiterhin nichts, sondern lächelte nur. Dann drehte sie sich um und gerade, als er dachte, die Studentin würde versuchen wegzulaufen, begann sie, sich seelenruhig auszuziehen. Ihre Bekleidung legte sie ordentlich neben sich, als befänden sie sich im heimischen Schlafzimmer und nicht mitten im Wald.
Nun gut, überlegte er, sie war also eine von der coolen Sorte. Diese Frauen versuchten mutig zu wirken, in der Hoffnung, so zu entkommen. Diese Einstellung würde er ihr noch austreiben.
Schließlich stand die junge Frau nackt vor ihm, das Lächeln umspielte immer noch ihren Mund. Ihr Körper war, wie er vermutet hatte, durchtrainiert und muskulös. Vorfreude breitete sich in ihm aus.
„Und jetzt?“, fragte sie unvermittelt, nicht besorgt, eher neugierig. Es war das erste Mal, dass sie das Wort an ihn richtete.
Jetzt war er verblüfft, eine Verblüffung, die schnell in Verärgerung umschlug. Ein Opfer ohne Angst war wie Essen ohne Geschmack, wie Drogen nehmen, ohne high zu werden. Es war nicht richtig! Dies war seine Nacht, er würde sich seine Jagd nicht nehmen lassen.
Er schob sein Gewehr auf den Rücken, trat vor und packte sie grob an ihren langen Haaren.
„Pass auf, du Schlampe. Das hier wird der Höhepunkt deines sinnlosen Lebens und gleichzeitig die letzte Nacht deines erbärmlichen Daseins.“
Immer noch keine Reaktion. Er riss ihren Kopf nach hinten, brachte sein Gesicht ganz dicht an ihres.
„Glaub mir, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nackt auf Knien vor mir liegen, schreien und betteln.“
Sie verzog angeekelt das Gesicht, als Tropfen seines Speichels auf ihre Haut spritzten. Der Jäger grinste, er würde noch viel mehr von sich bei ihr hinterlassen.
Mit der geballten Faust schlug er ihr ins Gesicht, sodass ihr Kopf zur Seite flog. Er warf sie angewidert zu Boden, wo sie auf allen vieren landete und sich mit der Hand das Blut vom Mund wischte. Das war besser, befand er, jetzt war sie da, wo sie hingehörte, und im Laufe dieser Nacht würde er ihr ihren Hochmut schon noch austreiben.
Er brachte das Gewehr in Anschlag und sagte bedeutungsvoll: „So, meine Hübsche, jetzt ist Jagdzeit!“
Sie sah zu ihm hoch und ein blutiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihre Züge begannen seltsam zu flimmern und sich zu verschieben. Es musste eine Fehlfunktion der Nachtsichtbrille sein, er riss sie von seinem Kopf.
Doch im silbrigen Schein des Mondes erkannte er, dass es nicht nur ihr Gesicht betraf, ihr ganzer Körper schien sich zu verändern. „Sie haben recht“, sprach sie mit einer Stimme, die eher einem Knurren glich, „und ich habe lange darauf gewartet. Wissen Sie, ich dachte schon, ich müsste noch ewig nachts durch die Wälder joggen.“
Was dann passierte, geschah so schnell, dass er es nicht mehr zu fassen vermochte.
Innerhalb weniger Sekunden verschwand die junge Frau und der große Wolf, der ihren Platz einnahm, setzte schon zum Sprung an, bevor er auch nur daran denken konnte, zu schießen.
Ihre letzten Worte, fast mehr das Knurren eines Tieres als die Stimme eines Menschen, hallten noch in seinem Kopf nach:
„Jetzt ist Jagdzeit!“