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8.

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Alexandra hat ihr in den letzten Wochen das Schwimmen beigebracht. Jetzt lernt sie den Päckchensprung vom Schiffsanleger. Hat sie sich zum Geburtstag gewünscht. Das kann in ihrer Klasse keiner. Charlie hopst ganz hoch in die Luft, reißt die Knie hoch, presst sie mit den Armen gegen die Brust. Augen zu, schon landet sie mit einem lauten Platschen im Fluss.

Tut gar nicht weh. Das Wasser schlägt weich über ihr zusammen. Prustend taucht sie auf, krabbelt mit den Armen, paddelt unter Wasser mit den Füßen und bleibt oben.

»Fast perfekt. Noch fünf Stück, dann kannst du’s«, lobt Alexandra, aber Charlie merkt, dass der Schwester bald die Lust daran vergehen wird. Für so was hat sie ein feines Gefühl. Dabei war das gerade erst Sprung Nummer acht und ziemlich gut. Charlie lernt schnell. Sie paddelt zur Metallleiter, zieht sich hoch und klettert auf den Ponton.

»Zeigst du mir gleich noch den Köpper?«

»Kann Cantucci machen, wenn er kommt. Ich hab noch was vor.«

»Du hast es versprochen.«

»Cantucci kann das besser. Und schrei nicht so laut, sonst hört uns noch der Kaschubek.«

Charlie kneift den Mund zu. Der alte Kaschubek sitzt vorn im Pförtnerhaus vor der Fabrik, tastet mit seinem einen Auge die »Bildzeitung« ab und sieht aus wie ein Zyklop, findet Charlie. Zyklopen kennt sie aus dem Kino. In »Sindbad der Seefahrer« leben die pferdefüßigen Riesen auf einer Felsinsel. Vor so was muss man sich in Acht nehmen. Zyklopen haben auch nur ein Auge, brüllen ständig rum und fressen Menschenfleisch. Seither weiß Charlie Bescheid über Kaschubek.

Sie haben sich heimlich durch die Eisenstäbe vom Fabrikzaun gequetscht. Alexandra hat keine Angst mehr vor Kaschubek. Braucht sie auch nicht. Kürzlich ist sie nämlich zum Großvater raufmarschiert. Ganz allein, an den fauchenden Kesseln und dem krakeelenden Kaschubek vorbei.

Alexandra ist lange oben geblieben und mit einer Tüte voll brauner Kandisklumpen wieder runtergekommen. Geld hat sie auch gekriegt. Im Kandis waren kleine Kordelstücke drin. Hat ganz gut geschmeckt und im Mund geknistert, aber am Ende war der Gaumen rau wie Schmirgelpapier und braun, weil sie alle Klumpen essen mussten, bevor sie nach Hause konnten.

Der Großvater ist nämlich nicht erlaubt und sein Zucker auch nicht. Die Mutter darf auf keinen Fall Dornfelder Zucker kaufen.

Vater mag den Großvater nicht. Die beiden reden kein Wort miteinander. Einmal haben sie sich getroffen, beim Sonntagsspaziergang, da ist der Vater auf die andere Straßenseite gegangen, und alle mussten mit und tun, als sähen sie nichts. Alexandra hat natürlich trotzdem gewunken, und die Stimmung war hin. Manchmal ist Alexandra richtig lästig.

Der Großvater muss ein böser Mann sein, schließlich hat er einen Zyklopen als Pförtner, und das mit dem Kandiszucker war vielleicht ein gemeiner Trick. Charlie hat davon Bauchschmerzen bekommen, und Prickel Pit schmeckt sowieso besser.

Aber Alexandra ist so was egal. Der passiert nichts. Alexandra ist mutig, und das gefällt Charlie. Kürzlich hat die große Schwester zu Cantucci gesagt, dass sie irgendwann von der großen Eisenbahnbrücke springen will, die in hohem Bogen über den Fluss geht. Und wenn sie das macht, will Charlie dabei sein.

Darum übt sie den Päckchensprung, obwohl man von der Brücke wahrscheinlich besser kerzengerade runterspringt. Füße voran oder mit dem Kopf nach unten, Köpper eben. Als Päckchen dreht man sich vielleicht in der Luft, und dann prallt man aufs Wasser wie ein Stein, hat Cantucci erklärt.

»Na und?«, hat Alexandra bloß gesagt.

Eben taucht Cantucci auf. Er hat sich über die Flutwiesen angepirscht, immer durchs Gestrüpp. Mit seinem neuen Rad. Das ist eigentlich ein altes Rad. Von der Post. Der Vater hat es ihm besorgt und blau angemalt. In den Speichen knattern die Bierdeckel, die Cantucci darin festgeklemmt hat.

»He, was macht ihr?«, fragt er jetzt und postiert sich oben am Kai.

»Ich üb Päckchen«, schreit Charlie zu ihm hinauf.

»Denk an Kaschubek«, zischt die Schwester, »muss keiner wissen, dass wir hier sind.«

Kaschubek ist jetzt egal. Wichtig ist, dass Cantucci bleibt und zuschaut.

»Soll ich mal bis zur Treppe schwimmen?«, schlägt Charlie ihm vor und hüpft hinter Alexandra den Steg hoch. »Das kann ich auch schon.«

Alexandra späht den Kai entlang Richtung Bahnhof, der liegt direkt hinter der Brücke. Was will sie denn da? Sagt sie nicht, fragt nur: »Kannst du auf sie aufpassen?«

Cantucci legt sein Rad auf den Kai, weil es keinen Ständer hat. »Klar, gehste wieder Kandis holen?«

Alexandra wiegt zögernd den Kopf. »Später vielleicht. Kann aber dauern, weiß nicht, ob der Alte da ist. Wenn’s sechs wird, bringste Charlie nach Hause, sonst gibt’s Rabatz.«

»Und du?«

»Sag, ich komm später. Bin bei ‘ner Freundin. Klavier üben. Und kein Wort darüber, dass wir hier waren, klar?«

»Geritzt. Bring mir ‘ne Tüte Kandis mit.« Süßes ist bei den Cantuccis knapp. Knapper als Bierdeckel jedenfalls. »Na los, Charlie, zeig, was du kannst.«

Charlie saust den Steg hinab, zurück auf den Ponton. Cantucci soll mal sehen, was sie sich traut – ganz allein. Alexandra ist fünfzehn und schnell gelangweilt, wenn sie zu lange auf Charlie die Kröte aufpassen muss. Heute hat sie ziemlich lange Geduld gehabt. Heute wollte sie unbedingt von zu Hause weg, durfte aber nur wegen Charlies Geburtstag, ansonsten hatte sie Stubenarrest.

Liegt an dem Brief, der heute Morgen gekommen ist. Muss was Schönes dringestanden haben – wenigstens für Alexandra. Die ist seither ganz aufgeregt, obwohl es mächtig Krach gegeben hat.

Die Mutter hat den Brief zuerst gelesen, und ihr Mund ist ein gerader Strich geworden. So dünn und fahlgrau wie ein Streifen in Charlies Schönschreibheft. Danach hat sie Klavier gespielt, was sie ganz selten macht. Das Klavier gehört schließlich Alexandra. Die Mutter spielt nur, wenn sie traurig ist. Traurig ist sie wegen früher. Ganz früher, als es Charlie noch nicht gab. Irgendeinen Brahms hat sie gespielt, ganz laut, so als sei sie wütend auf den oder das Klavier. Hat hässlich geklirrt. Immer wenn diese dünnen Briefe aus blauem Papier kommen, wird es zu Hause ungemütlich.

Die Briefe kommen erst seit etwa einem Jahr. Aus der Luft und einem Königreich, wo Alexandra eigentlich hingehört. Ihr richtiger Vater lebt da. Der heißt »Tommy« und die Mutter darf Alexandra nicht zu ihm lassen, egal wie Alexandra bettelt. Charlies Vater sagt nur: »Kommt gar nicht infrage. Schließlich hab ich bis jetzt für das Kind gezahlt.«

Alexandra muss so eine Art Prinzessin sein, die man hier ausgesetzt hat und die jeder haben will. Vielleicht ist sie deshalb so anders als Charlie. Auf den Briefen kleben nämlich Marken mit einer Frau, die eine Krone auf dem Kopf hat und eine Perle im Ohr. Das ist nicht Alexandras Mutter, aber der Mann, der die dünnen Briefe schreibt, ist Alexandras Vater und irgendwie ein Held. Er hat jedenfalls einen Krieg gewonnen. Den Krieg, der in Vaters Bein steckt und ihm bei Regenwetter wehtut. Sehr vertrackte Sache.

Vielleicht ist dieser Tommy jetzt der Mann von der Frau mit der Krone und will Alexandra zurück, aber das kann Charlie nur raten. Charlie weiß, dass der Tommy die Mutter mal gekannt, aber nicht geheiratet hat und dass ihr eigener Vater ihn nicht mag. Fragen will sie nicht. Über den Mann redet man besser nicht.

Die Mutter tut es in letzter Zeit trotzdem. Dafür zieht sie die Küchentür hinter sich und dem Vater und Alexandra zu, gerade so, als ob sie Charlie vergessen hat. Die sitzt dann im Flur, drückt den Rücken an die Heizkörperrippen und bemüht sich, nicht da zu sein, während sie liest und die Ohren spitzt. Manchmal versteht man, was in der Küche geredet wird, weil der Vater dabei anfangt zu schreien, dass die Milchglasscheibe davon zittert.

So wie heute. Ausgerechnet an Charlies Geburtstag, wo die Wohnung ganz süß und warm nach Marmorkuchen riecht. Nur wegen ihr. Kakao soll es auch geben. Aber das interessiert im Moment keinen. Vater interessiert nur dieser Brief von dem Tommy, den er einen »Dreckskerl« nennt.

»Denk an das Kind«, verlangt die Mutter, und ihre Stimme klirrt wie vorhin das Klavier. Charlie weiß sofort, welches Kind sie meint, Alexandra.

»Ich will zu meinem richtigen Vater«, sagt die. »Er schreibt, dass er mich sehen will.« Die traut sich was. Charlies Vater wird ganz laut.

»Auf einmal? Nach all den Jahren. Kommt gar nicht infrage. Du weißt ja gar nicht, was dein Vater für einer ist. Überleg mal, was der deiner Mutter angetan hat.«

Jemand fängt mit dem Weinen an. Die Mutter, na klar, kommt vom Klavierspielen. Deswegen verbietet der Vater es ihr ja auch. Deswegen und weil er am liebsten seine Ruhe hat, wenn er zu Hause ist.

»Lass die Krokodilstränen, Margrit.«

»Reg dich doch nicht so auf, Hermann. Er hat doch die ganzen Jahre nichts gewusst von Alexandra. Es ist doch nur ein Brief.«

»Nur? Der Kerl mischt sich dreist in meine Familie ein. Was denkt der sich?«

»Ich bin nicht deine Familie.« Au Backe! Für den Satz bekommt Alexandra eine schallende Ohrfeige. Glasklar.

»Lass mein Kind in Ruhe.« Der Satz musste ja irgendwann kommen, der Satz gehört immer dazu.

»Dein Kind. Dein Kind. Ich hab’s satt.«

»Ich kann ja gehen«, sagt die Mütter mit nasser Stimme.

»Gehen! Du? Und wovon willst du leben? Vom Klavierspielen vielleicht? Wir wissen doch, wohin das führt.«

»Ich hätte eine große Karriere machen können.«

»Mit einem dicken Bauch? Du kannst froh sein, dass ich ein Trottel war und dich danach genommen hab. Und was ist der Dank? Du heulst immer noch diesem Tommy nach, schreibst ihm heimlich Briefe, während ich seinen Bastard durchfüttre. Du hast mich nur benutzt.« In Vaters Stimme wackelt’s. Klingt schütter wie die Plastikscheibchen im Kaleidoskop, wenn man dran rüttelt. Alexandra hat ihres kürzlich auseinander genommen und Charlie gezeigt, dass unten nur Plastik drin ist und keine bunten Bilder. Alexandra nimmt gern Sachen auseinander, was Charlie ärgert. Hinterher geht nichts mehr zusammen.

Das Schluchzen hinter der Tür verstummt. »Sag so was nicht, Hermann. Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich habe dich wirklich geliebt.«

Kann sein, dass es jetzt endlich Kuchen gibt. Liebe ist nämlich was Gutes. Meistens findet sie im Schlafzimmer statt, nach einem Streit. Das dauert dann so lange wie der Mittagsschlaf, und die Eltern bekommen weiche Gesichter davon, als hätten sie etwas sehr Schönes geträumt. Alexandra ist dann jedenfalls nicht mehr so wichtig.

Charlie kriecht geduckt zur Tür, legt ihr gesundes Ohr an die Füllung.

»Dann wirf den Brief gefälligst in den Müll, und vergiss das Ganze«, klingt es hohl im Holz. Das ist Vater. Das klingt nach Frieden. Fast.

»Der Brief ist doch für Alexandra. Das Kind hat ein Recht darauf.«

»Bastard«, knurrt der Vater nur.

Charlie wüsste wirklich gern, was Bastarde sind und aus welchem Land die kommen – steht bestimmt im Lexikon.

»Ich bin kein Bastard. Ich hab einen richtigen Vater. Einen besseren als dich«, behauptet hinter der Tür Alexandra. Eine Ohrfeige langt ihr wohl nicht.

Der Vater braust wieder auf. »Was Besseres? Ich will dir mal was sagen. Du bist das Kind einer Hure. Einer Tommy-Hure.« Charlie geht in Deckung, zurück zum Heizkörper, ihr linkes Ohr summt lästig. Das da drinnen kann dauern. Hure ist nämlich neu. Jedenfalls neu für Charlie. Sie hat immer geglaubt, dass Alexandra Mutters Kind ist, von einer Frau namens Hure war bisher nie die Rede.

»Hör damit auf«, schreit die Mutter. »Hör auf.«

»Aufhören? Ich soll aufhören? Wer hat denn eben Brahms gespielt. Glaubst du, ich bin taub? Glaubst du, ich weiß nicht, was los ist? Du hast mich von Anfang an für dumm verkauft. Du Hure.«

Hure, sagt Charlie halblaut vor sich hin. Hure, Hure. Das Wort muss sie sich merken. Vielleicht findet sie das im Lexikon. Unter H, müsste hinter Hund kommen. R wie Roller kommt nämlich nach N wie Nashorn. Gut, dass sie im Buchstabieren eine Eins hat. Sie kann schon richtig lesen. Dafür hat der Vater ihr achtzig Pfennig für ein Nogger gegeben. Ein Nogger nur für sie allein.

»Wer arbeitet, soll auch sein Vergnügen haben.« Der Vater kann nämlich nett sein, der netteste von allen. Charlie ist sein ›Kalmückenkind‹, das muss was Besonderes sein, so viel weiß sie. Wenn sie Mensch-ärger-dich-nicht spielen, lässt er Charlie immer gewinnen, und bei Scrabble mogelt er und lässt ihre schlechten Buchstaben in seine Kaffeetasse fallen. Die Mutter findet sie erst beim Spülen, und dann wird gelacht. Nur heute nicht.

»Das verdiene ich nicht. Das verdiene ich wirklich nicht. Wenn du nicht sofort aufhörst, gehe ich, ich schwör’s dir, ich gehe weg«, schluchzt die Mutter.

»Du glaubst doch nicht, dass der Tommy dich und deinen Bastard noch nimmt. Hat dich nie gewollt, der wollte nur sein Vergnügen, und du warst blöd genug dazu.«

Die Mutter hört auf zu schluchzen. Ihre Stimme wird ganz kalt. »Das sagst ausgerechnet du! Nur weil deine Mutter ...« Weiter kommt sie nicht, hinter der Milchglasscheibe schnellt eine Schattenhand vor, greift nach der Mutter, schüttelt sie wie den Teufel im Kasperltheater.

»Lass sie los!« Alexandras Stimme ist ganz schrill und dünn. Jetzt stimmt nichts mehr. Der Marmorkuchen brennt an, riecht ganz scharf. Die Schokolade ist bestimmt schon bitter. Manchmal wünscht Charlie sich, dass Alexandra einfach verschwindet in ihr blödes Königreich. Dann wäre Ruhe.

Sie schiebt sich am kalten Heizkörper hoch, die Rippen schneiden sich in ihren Rücken. Ihr Blick huscht zur Haustür. Sie läuft hin, reißt sie auf, stellt sich draußen auf die Fußspitzen, tastet nach dem Klingelknopf. Drückt ganz fest. Nichts passiert. Charlie geht zurück in die Wohnung. Ihr Blick klettert die seifengrüne Flurwand hinauf. Die Klingel ist abgestellt. Wieder mal. Die Eltern mögen keinen Besuch. Könnte ja sein, dass Cantucci kommt oder sonst wer, wegen Charlies Geburtstag. Wie soll sie bloß an den Hebel von der Schelle kommen? Die Küche ist voller Geschrei und Kuchenqualm. Man hört und riecht alles bis ins Treppenhaus.

Sie läuft ins Badezimmer, findet im Dunkeln den kleinen Plastikhocker mit dem Blumenmuster, schleift ihn an einem dünnen Stahlbeinchen in den Flur. Sie erreicht den Hebel.

Hocker schnell weg. Raus vor die Tür. Tür zu. Klingeln. Immer feste klingeln. Charlie hat es geschafft. In der Küche wird’s still.

Dafür hat es hinterher fast eine Ohrfeige gegeben. Weil Charlie so dumm war und sich ausgesperrt hat. Typisch Charlie eben. Und dann lügt sie auch noch was von einem wildfremden Mann zusammen, der sie entführen wollte, weshalb sie eben geklingelt hat. Leider hat keiner gelacht.

Wenigstens die Schreierei hatte ein Ende. Nur der Kuchen war angebrannt. Alexandra hat Stubenarrest gekriegt. Bis Charlie sich was gewünscht hat. Schließlich hat sie noch immer Geburtstag. Sie hat sich einen Spaziergang mit Alexandra gewünscht. Wegen des Päckchenspringens. Aber davon und von der Zuckerfabrik hat sie natürlich nichts gesagt.

»Ich möchte gern ein Eis kaufen gehen. Vanille.«

Durfte sie. Mit Alexandra, weil heute ihr Geburtstag ist und der Kuchen angebrannt. Alles noch mal gut gegangen. Päckchenspringen macht wirklich Spaß.

»Cantucci, guckste?«, ruft Charlie. »Ich schwimm jetzt bis zur Treppe.« Alexandra schlendert in der Ferne als kleiner Punkt die Gleise längs, gleich ist sie bei der Brücke. Cantucci schaut ihr nach. Charlie ruft wieder.

»Schon gut, Kalmückenkind. Ich komm runter, sonst säufst du noch ab.«

»Das is doch puppig. Ich kann schwimmen!«

Kann sie tatsächlich. Mühelos.

Aber den Eltern erklären, wo Alexandra abgeblieben ist, kann sie später nicht. Alexandra bleibt einfach weg. So gegen acht stellen die Eltern Charlie die ersten Fragen. Charlie sagt nichts. Jedenfalls nichts über Kandistüten und den Schiffsanleger. »Wir waren im Park«, behauptet sie. Im Park verschwinden nämlich manchmal die Kinder. »Dann ist Alexandra Eis holen gegangen. Vanille für mich und für sich Schokolade.« Und ist nicht zurückgekommen. Dabei bleibt Charlie. Petzen gilt nicht.

Bis Cantucci verhört wird und die Wahrheit sagt über die Kandistüten und den Schiffsanleger und die Gleise. So ein Verräter. Die Polizei muss kommen. Das ist ganz schlimm. Das gibt Gerede. Alle im Hochhaus hängen in den Fenstern und sehen, wie ein grüner Mann aus einem grün-weißen Käfer steigt und eine weiße Schirmmütze gerade rückt. Der Mann kommt nach oben und holt einen Block heraus.

Dann guckt er sehr streng und schreibt auf, wie Alexandra aussieht. Sogar ihre hellblaue Cordhose wird notiert und der kleine Leberfleck am Kinn. Er will wissen, ob es zu Hause Streit gegeben hat. Die Eltern können sich an nichts erinnern, nur dass die Kinder im Park spazieren gehen wollten.

»Und warum lügt ihre kleine Tochter?«, fragt der grüne Mann und begutachtet Charlie mit strafendem Blick. Hinten am Gürtel blitzen richtige Handschellen.

»Das liegt am Alter, das macht sie öfters. Denkt sich Geschichten aus, sie weiß nicht, was sie redet«, antwortet die Mutter.

Gar nicht wahr.

Alexandra bleibt verschwunden. Mit gerade mal fünfzehn. Plötzlich ist von wildfremden Männern die Rede – aber in echt. Wer soll sich da auskennen? Charlie weiß nur, dass Alexandra nichts passieren kann, der passiert nie was.

Die Mutter gibt dem Vater die Schuld an allem, der Vater dem Mann, der Tommy heißt, aber ohne Geschrei. Später am Abend sitzen beide still in der Küche. Das Licht brennt ganz nackt. Charlie sucht selbst einen neuen Schlafanzug raus, putzt sich die Zähne, verschwindet im Bett und buchstabiert in dem Mumienbuch, das Alexandra ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Am schönsten ist das Bild von der Eismumie. Das ist ein kleiner Inkaprinz, der sieht aus, als ob er schläft, alles noch dran, sogar die Daumen, dabei ist er tot. Seit fast tausend Jahren. Alexandra hat vor gar nichts Angst.

Am nächsten Morgen schämt Charlie sich. Und zwar doppelt, weil sie nur ans Päckchenspringen gedacht hat und weil sie – ganz, ganz heimlich – froh ist, dass Alexandra mal weg ist. Der Vater hat glatt vergessen, ihr wegen der Sache mit dem Schiffsanleger eine Tracht Prügel zu verabreichen.

Im Gegenteil, spät nachts ist er noch mal ins Kinderzimmer gekommen und hat Charlie ganz fest in den Arm genommen. Als würde er sich an ihr festhalten. Hat gedacht, dass Charlie schläft. Aber Charlie hat nicht geschlafen, eine Umarmung verschläft man nicht, auch wenn einem dabei fast die Luft wegbleibt. Vaters Liebe muss man nehmen, wie sie kommt.

Liebe unter Kannibalen

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