Читать книгу Liebe unter Kannibalen - Sabine Werz - Страница 13

10.

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Sie sind ein Baum. Nichts kann Sie aus der Ruhe bringen. Sie sind ein Teil der Schöpfung, verbunden mit dem Himmel und der Erde, genährt von Sonne und Wasser, durchströmt von ewigen, kosmischen Energien. Sprechen Sie mir nach: Ich bin ein Baum.«

»Ich bin ein Baum.«

»Strecken Sie Ihre Arme in die Luft, spüren Sie den Wind, der durch die Äste streicht. Ihre Hände sind Blätter im Wind. Sie sind der unbewegte Beweger. Sagen Sie: Ich bin ein Baum.«

»Ich bin ein Baum.«

»Spüren Sie die Energie, die Ihnen aus dem Inneren der Erde zufließt. Sie sind tief verwurzelt mit dem Urgrund allen Seins. Sie sind Teil des Heiligsten. Nichts kann sie aus der Ruhe bringen. Sie sind das Leben. Wenn Sie sterben, werden Sie wieder geboren. Jeder Winter ist nur ein Übergang. Sie sind Teil der Unendlichkeit. Sagen Sie: Ich bin ein Baum.«

»Ich bin ein Baum. Ich bin ein Baum. Ich bin ein Baum.«

Nutzt nichts.

»Verflucht.« Ärgerlich senkt Rottgarten die Arme, drückt auf die Stopptaste des Kassettenrecorders und streckt sich im Meditationsraum auf einer weißen Matte aus. Die schmeichelnde Stimme des Sprechers und die darunter liegenden Sitarklänge erinnern widerlich an Kellmanns Vertretergesäusel. Rottgarten macht eine wegwerfende Handbewegung. So ein kleines Licht dürfte ihn wirklich nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht vor der Sitzung. Vierzig Minuten noch. Er sollte überhaupt nicht an Kellmanns denken, sonst nimmt er dessen zerstörerische Energie noch mit hinein.

Es hat auch seine Tücken, ein so hervorragendes Medium zu sein, das durchlässig für die kleinsten Gedankenschwingungen anderer ist.

Besser, er probiert es mit der Weisheit der Brahmanen – einfach an nichts denken. Sich ganz ausleeren und dem Universum anheim geben. Nur eine Minute lang. Rottgarten übt das schon lange. Nichts denken. Nicht einmal daran denken, nichts zu denken, dann gerät alles in Fluss, und nichts steht einem mehr im Weg. Brahmanische Gelehrte, heißt es, können bis zu einer Stunde an nichts denken.

So steht es auch im »Handbuch der Meditation – sieben Wege zum universellen Frieden«. Das hat Rottgarten selbst geschrieben und empfiehlt es seinen Kursteilnehmern, die ihm den Erfolg der beschriebenen Methoden bestätigen.

Rottgarten ist stolz darauf, dass er selbst die schwierigsten Dinge mühelos auf eine einfache, einprägsame Formel bringen kann. Das immerhin hat er in der Werbebranche gelernt, und jetzt hat er wieder Erfolg damit – für einen guten, für den heiligsten Zweck, die Menschheit auf den richtigen Weg zu bringen.

Sogar die »Bildzeitung« hat sein Buch im Vorabdruck gebracht als »Das große Lexikon vom anderen Wissen von A wie Aura bis Z wie Zen-Buddhismus«. Höhere Weisheit für ein Millionenpublikum, das ist doch was. Jeder hat ein Recht auf die höhere Wahrheit, egal was die Puristen in der Szene dazu sagen. Deren Missgunst zeigt nur, dass auch Esoteriker zu Neid und Überheblichkeit neigen können. Rottgarten macht sich da nichts vor.

Mit möglichst leerem Blick starrt er zur vier Meter hohen Decke hinauf. Weiß. Nichts als Weiß. Er will seinen Kopf mit diesem Weiß anfüllen. Reines, leeres Weiß, das jeden Schatten eines Gedankens überstrahlt. Halt, da blättert die Farbe, man sieht grauen Putz und Risse, Zeichen des Zerfalls. Verflucht. Er richtet sich auf.

Heute Morgen will keine Meditation gelingen. Es mangelt ihm an weiblicher Empfänglichkeit, der gelassenen Kraft des Passiven, dem Grund aller Schöpferkraft. Sein Yin-Prinzip ist eindeutig unterversorgt, das spürt Rottgarten deutlich. Früher hätte er gesagt, dass er mal wieder eine Frau braucht, heute weiß er es besser und begreift die höhere, spirituelle Notwendigkeit der geschlechtlichen Vereinigung.

Hat sich in letzter Zeit viel zu sehr mit materiellen Dingen befasst. Befassen müssen. Festhalten, planen, taktieren, schachern, zu viel Yang-Prinzip, klar. Ganz wie in alten Zeiten, als er noch Creative Director war und seine enorme geistige Kraft auf den Verkauf von Waschmitteln, Zahnpasta und Mittelklassewagen verschwendet hat.

Bis zu seinem Herzinfarkt. Der Gedanke versetzt ihm einen Stich in der Brust. Nicht daran denken, mahnt er sich, nicht daran denken. Wer daran denkt, zieht die negative Energie auf sich, die negative Energie der anorganischen, materiellen Welt. Anorganische Materie bedeutet Krankheit. Er kennt sich schließlich aus.

»Ich bin ein Baum. Ich bin ein Baum. Ich bin ein Baum.« Beschwörend züngelt Rottgartens Blick über die rissige Decke. Alles im Leben ist Übergang. Genau.

Nur wohin?

Schon wieder springen seine Gedanken. Es kann auch ein Kreuz sein, wenn man einen so raschen, zupackenden Verstand hat wie er. Aber was soll man machen, wenn dem eigenen Sternzeichen das flüchtige Element Quecksilber zugeordnet ist? Seinem Verstand sind nur schwer Grenzen zu setzen, besser er lässt sich darauf ein, auch wenn ihn der Gedankensprung mitten hineinführt in die Welt der lähmenden Materie. Niemand entkommt seinem Schicksal.

Das Testament von Frau Dornfelder war überaus unbefriedigend. Hat alles der Tochter vermacht, ohne ausdrücklichen Hinweis auf den versprochenen Umbau des Bürgerzentrums. Das wäre längst sein Zentrum und sähe ganz anders aus, wenn sie noch klar bei Verstand gewesen wäre. Er wäre jetzt ausgestattet mit einem guten Etat für die Sache und einer Bestandsklausel, die Kellmanns Raffgier und seinen widerlich selbstbezogenen Umbauplänen eine Grenze gesetzt hätten.

Ein Sieg der heilsamen Spiritualität über die Niederungen des destruktiven Kommerz ist Rottgartens erklärtes Ziel. Nur Uneigennützigkeit kann die Welt vor dem Untergang retten, innere Einkehr auf möglichst breiter Front. Für ihn, der ein Berufener ist, ist das selbstverständlich, und die Schar seiner Anhänger gibt ihm Recht. Er muss sie nur vermehren.

Aber die Witwe Dornfelder war am Ende für seine Botschaft nicht mehr erreichbar, ganz schlechte Aura, schwarzviolett. Deshalb konnte der Krebs sich auch so schnell ausbreiten.

Wäre sie eher zu ihm gekommen, hätte er noch etwas machen können. Vielleicht eine Engelsmeditation. Mit den Engeln steht er in gutem Kontakt, weil er selbst einer ist. Sein wahrer Name ist Uriel. Wenn die Zeit reif ist, wird er das verkünden. Vielleicht sogar in der »Bildzeitung«. Rottgarten faltet ehrfürchtig die Hände im Schoß, neigt sein Haupt vor den Engeln, die sich wie immer am Morgen in der östlichen Ecke des Zimmers versammelt haben. Er sieht sie dort ganz deutlich als Sonnenstäubchen in der Luft tanzen.

»Soll ich Kaffee und Kekse hinstellen?«

Jäh reißt Kaschubeks durchdringender Bariton Rottgarten aus seiner Besinnung. Die Engel lösen sich in Luft auf.

»Können Sie nicht anklopfen?«, fragt Rottgarten beinahe unwirsch. Kaschubek steht einfach da, mit seinen schmutzigen Arbeitsschuhen auf den weißen Matten. Keine Sensibilität der Mann.

»Ich mein ja nur. Wir sollten den Leuten vom Kulturamt und der Stadt was anbieten, oder? Bisschen was Süßes steigert die Konzentration und hebt die Stimmung.«

»Machen Sie, was Sie für richtig halten. Aber für mich bitte nur Wasser. Eine große Karaffe. Gefiltert. Sie wissen ja.«

»Keins mehr da. Haben diese Wei ..., ich meine, Ihre Frauen von gestern alles getrunken. War sehr schwül gestern.«

»Schon gut, dann nichts«, sagt Rottgarten mit Leidensmiene. »Ich muss mich jetzt weiter konzentrieren.«

»Arbeiten Sie an einem einleitenden Vortrag? Wann komm ich denn dran mit meinen Sachen? Ich mein, um alles ein bisschen anschaulich zu machen.« Er kennt doch das Geschwafel von Rottgarten. Wenn der sich hinreißen lässt, ist alles zu spät.

»Zu gegebenem Zeitpunkt sind Sie dran, Kaschubek. Gehen Sie erst mal Kaffee kochen. Danke.« Kaschubek geht, die Engel kehren zurück.

Sie teilen einem demütigen Rottgarten mit, dass er noch weitere Prüfungen zu bestehen hat. Prüfungen wie den unzeitgemäßen Abgang der alten Frau Dornfelder. Die war dem Spirituellen eben nur halb zugetan. Die Ungläubigen sind seine ärgsten Widersacher. Vor ihnen muss er sich in Acht nehmen, weshalb er das mit seinem wahren Namen Uriel vorerst für sich behält.

Dabei war seine Verbindung zu Alexandra sehr klar und sehr stark. Kein Wunder, wo doch sein Neptun im Trigon zu Merkur steht und seine okkulten Fähigkeiten fördert. Alexandra hält sich in einer Zwischenwelt auf, zu der er – Uriel – Zugang hat. Mit diesem Wissen konnte er die alte Dornfelder eine Weile im Leben halten und ihr Geld in Energie verwandeln. Sie musste nur loslassen. Entgegen seinem Rat hat sie aber leider an vielen unsinnigen Plänen festgehalten.

Zum Beispiel an Kellmanns’ Sanierungskonzepten für den rechten Trakt. Dabei hat er – Rottgarten – die Dinge hier in Fluss gebracht. Vor allem im »Zuckerhut«. Weg vom nutzlos erstarrten Rebellengeist, dieser sich ewig selbst verzehrenden Energie. Allein seiner Anwesenheit und seiner wirkungsmächtigen Person ist Kellmanns Wandlung zu verdanken.

Wegen ihm hat Kellmanns das Zentrum vor zwei Jahren endgültig verlassen. Kellmanns versteht das freilich nicht und hält sich einfach für einen erfolgreichen Architekten. Dabei ist er nicht mal halb so erfolgreich, wie Rottgarten es früher in der Werbung war und immer noch sein könnte. Rottgarten nickt versonnen seinen Engeln zu.

Dem Kellmanns ist der Weg zu einer höheren, feinstofflichen Spiritualität verschlossen.

Die ihm selbst heute leider auch ein wenig abgeht, dabei steht ihm das erste, außerordentlich wichtige Treffen mit Charlie Dornfelder bevor. Charlie – allein dieser männliche Name, reinstes Yang-Prinzip, dazu diese unweibliche Rastlosigkeit und nun auch noch das viele Geld, das sie nicht in Umlauf bringen will.

Er hat Grund zu befürchten, dass er es bei ihr mit einer sehr aufsässigen Person zu tun bekommt. Der Planet Uranus geht in diesem Jahr über Charlies Geburtshaus. Ein beschlagener Astrologe wie er weiß, dass Uranus ein großer Zerstörer ist. Nicht umsonst fiel die Entdeckung des methangrünen Planeten in etwa mit der Französischen Revolution zusammen. Nicht umsonst mehren sich in letzter Zeit Flutkatastrophen und Erdbeben. Rottgarten kennt sich aus.

Unruhe, Versehrung, Mord und Totschlag: Dafür steht Uranus, der seine eigenen Kinder unter die Erde verbannte, in den Mythen der Griechen. Sein Sohn Kronos wiederum verschlingt die eigenen Kinder.

Rottgarten bemerkt, dass sein Herz kurz stottert. Er fühlt sich einer höheren Erkenntnis ganz nah. Natürlich. Auch dafür steht Uranus. Ruhig, beschwört er sich mit möglichst sanfter Stimme, ruhig. Jetzt hat er’s! Uranus kann Wandlung, Freiheitsliebe, Fortschritt bedeuten, Bruch mit alten Traditionen. Das ist es. Charlie muss sich der Veränderung nur stellen. Dem Tod der Mutter und vor allem der Geschichte mit ihrer Schwester.

Erleichtert atmet Rottgarten durch, da ist sie wieder, seine mediale Kraft, seine visionäre Begabung, die ihn als echten Fische-Mann kennzeichnet.

Ob er Charlie von seinem Kontakt zu Alexandra erzählen soll? Am besten, er schickt ihr schon mal ein paar Gedanken. Er schließt die Augen und ruft den Namen Alexandra auf. Er erscheint ihm in blutroten Buchstaben. Blut kann für Tod und Geburt stehen. Die Esoterik ist immer reich an Deutungsmöglichkeiten. Nur eins ist klar: Charlie wird Hilfe brauchen. Er starrt dankbar in die Engelsecke. Ein Klopfen unterbricht seine Gedanken. Die Engel zerfallen zu Staub. Noch ein Unberufener ist einfach zu viel für solch feinnervige Wesen.

Liebe unter Kannibalen

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