Читать книгу Liebe unter Kannibalen - Sabine Werz - Страница 6

3.

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Vom Traum ist nur eine Gänsehaut geblieben. Den Rest hat Charlie im Sekundenbruchteil des nächsten Lidschlags vergessen. Sie setzt sich im Bett auf. Der Vorhang vor dem Schlafzimmerfenster bauscht sich im Wind und fängt blendendes Licht. Charlie greift hinüber zum Nachttisch. Sie hat den Wecker nicht klingeln hören, muss wohl wieder auf dem rechten Ohr geschlafen haben.

Elf Uhr schon.

Jeden Morgen ist sie später dran und wie zerschlagen.

Die Kissen fühlen sich klamm an. Es muss am Wetter liegen, tippt sie mit Blick auf den gleißenden Vorhang. Ein verfrühter Maisommer liegt über der Stadt, lässt das Leben stocken wie Milch, verwirrt die Menschen und erschöpft einen sogar im Schlaf. Charlie wirft das Laken beiseite, vergräbt die Füße im tiefen Teppich. Fühlt sich an wie Sand. Ihr wird schwindlig, fast so als müsse sie sich übergeben. Ein hohes Pfeifen schwillt in ihrem tauben Ohr auf und wieder ab.

Unsinn.

Muss an dieser elenden Wohnung liegen, dass sie zu viel schläft und dann schlecht gelaunt aufwacht. Eine halbe Fabriketage bietet viel Platz für eine ausufernde Fantasie und herrenlose Gedanken. Vor allem, wenn die Etage Teil eines Erbstücks ist, das man nicht haben will. Charlies Erbstück ist die Dornfelder Zuckerfabrik und ihre Wohnung das ehemalige Kontor des Zuckerbarons. Hier wohnt sie seit einem Monat.

Anton Kellmanns hat alles saniert und einen sehr nackten Architektentraum daraus gemacht, für den er einen Preis bekommen hat: Freigeschlagene Ziegelmauern, Steinböden, freiliegende Versorgungsleitungen und bodentiefe, stahlgerahmte Fensterfronten zur Flussseite hin.

Zusammen ergibt das zweihundert Quadratmeter und eine sorgsam veredelte Fabrikatmosphäre, die keine eigenen Verzierungen verträgt. Ihre Mutter hat das Ganze vor zwei Jahren in Auftrag gegeben oder besser: Sie hat Kellmanns freie Hand gelassen und in einem Anflug später Gier seinem seifigen Vertretergeschwätz von »innovativen Investitionen« und einer »enormen Wertsteigerung« vertraut. Die beiden haben gigantische Pläne für den Umbau der Fabrikruine geschmiedet, bis der Tod dazwischengefunkt hat.

Der Tod der Mutter, aber auch Anselm Rottgarten, der Leiter des Bürgerzentrums, das im linken Fabriktrakt untergebracht ist. Ein undurchsichtiger Kauz, dem Charlie noch weniger traut als Kellmanns. Den treibt nur Gewinnsucht, er ist ein gewöhnlicher Kungler, der seine Finger auch in den Baufirmen zu haben scheint, die er beschäftigt. Gut möglich, dass er sich für seine Aufträge ordentlich schmieren lässt. Er ist etwas zu schnell reich geworden, nachdem er jahrelang nur für den Aufbau des »Zuckerhut« und wenig lohnende alternative Bauprojekte gekämpft hat. Charlie zuckt die Achseln. Wenigstens zahlen seine Manipulationen sich für alle Beteiligten aus.

Rottgarten hingegen ist ein spät berufener Esoteriker, der mit verschwiemelten Nachrichten aus dem Jenseits eine Seite in ihrer sterbenden Mutter zum Schwingen gebracht hat, die Charlie peinlich ist. Einen törichten Hang zu Mystik und Versöhnlichkeit. Fast so als habe sie auf den letzten Metern zum Grab noch ein sehr feiger Katholizismus gepackt, eine Reue, die sie nichts mehr kosten konnte und ihren Lebenslügen einen höheren Sinn gab. Charlie schüttelt sich bei dem Gedanken.

Dann schon lieber dieser großspurige Loft, der sich aus den amerikanischen Achtzigern hierher an den Rhein verirrt hat. Immer hatte ihre Mutter ein Händchen für die falschen Männer an ihrer Seite. Darin ist sie sich treu geblieben.

»Vorbei«, sagt Charlie laut und zuckt. Wie hohl ihre Stimme von den kahlen Wänden widerhallt. Sie hat beim Einzug nur lustlos ein paar Möbel und Reisemitbringsel in der Wohnung platziert. Sie wollte hier nicht heimisch werden.

Genau, nickt sie sich jetzt im Spiegel zu, der gegenüber an der Wand lehnt. Mein Gott sieht sie fertig aus. Leichenblass, die dunklen Haare ganz zerstrubbelt, dazu ihre schräg stehenden Augen. Die hat sie vom Vater. »Kalmückenkind«, sagt Charlie und streckt sich die Zunge raus.

Wird Zeit, dass sie weggeht. Eine ehemalige Reisereporterin gehört eben an keinen festen Ort.

Was heißt eigentlich ehemalig? Sie hat doch nur eine Pause vereinbart. Eine zu lange Pause. Ein Jahr ist einfach zu viel für eine, die gewohnt ist, von dreihundertfünfundsechzig Tagen dreihundert unterwegs zu sein. Sie braucht überhaupt keine Pause. Egal, was andere dazu sagen. Charlie schüttelt energisch den Kopf. Sollen sich alle raushalten. Und zwar ab sofort. Sie will weg. Der Gedanke macht sie munter.

Die restlichen Erbschaftsfragen können die Anwälte klären und ...

Das schnurlose Telefon klingelt, Charlie zieht es unter dem Bett hervor.

» Hallo?«

»Hallo, hier Kellmanns.«

An genau den hatte Charlie gerade gedacht, sie schaut den Hörer an, als handele es sich um ein magisches Instrument.

»Einen wunderschönen Guten, Frau Dornfelder. Herrlicher Tag, hoffe, Sie haben etwas passend Schönes vor?«

Ja, ich geh weg, denkt sie kurz, sagt aber nur: »Mal sehen, wird sich sicher was finden.«

Kellmanns wartet die Antwort kaum ab. Die Frist, die er sich für höfliches Vorgeplänkel setzt, ist gewöhnlich knapp. Mit ziellosem Gerede hat er sich in seinem Leben lang genug aufgehalten. Jetzt ist er ein Macher, preisgekrönt und voller Zuversicht. Seine Stimme erinnert an Fahrstuhlmusik – man entkommt ihr nicht.

»Ich wollte Sie bitten, morgen am Vormittag einmal bei mir vorbeizuschauen. Habe paar interessante Skizzen für Sie. Paar Ideen für den linken Fabriktrakt, die ich bereits mit Ihrer Mutter entwickelt hatte, bevor ... nun ja. Alles . ganz unverbindlich, versteht sich. Aber ich bin sicher, dass es Ihnen zusagt. Freundlich, licht, großzügig. Ein echter Gewinn.«

Charlie runzelt ärgerlich die Stirn. Unverbindlich? Elender Lügner. Den Verteilungskampf zwischen Kellmanns und Rottgarten hat sie auch geerbt. Erbschleicher alle beide.

»Der linke Flügel? Da sollten Sie zuerst mit Rottgarten und den Leuten vom Bürgerzentrum reden. Meine Mutter wollte es, glaube ich, erhalten und weiter ausbauen.« So viel Hartnäckigkeit ist sie ihr schuldig – leider.

Kellmanns’ Stimme holt mit einem Hauch müder Entrüstung aus. »Liebe Frau Dornfelder, so weit sind wir doch noch gar nicht. Es geht nicht um den Innenausbau oder die Nutzungsrechte. Es handelt sich nur um die Fassade. Da muss was passieren, wegen der Bausubstanz. Die vom Bürgerzentrum sind dem nicht gewachsen und schaden damit einem unwiederbringlichen Industriedenkmal. Die Bausubstanz interessiert einen Herrn Rottgarten leider nicht.«

»Aber den Kaschubek.« Der ist der Sohn vom alten Kaschubek, dem Glasauge, und inzwischen selber um die sechzig. Warum sie ihn ins Spiel bringt, weiß sie nicht. Kindheitserinnerungen? Ach was, die sind verschwommen und nicht eben heiter. Es ist Kellmanns schmierige Zuversicht, die Charlie rebellisch macht und den Kaschubek in Stellung bringen lässt. Dieser alte Sturkopf ist ein hart gesottener Kämpfer, dem die Zuckerfabrik tatsächlich am Herzen liegt. Familientradition, denn wie sein Vater hat Kaschubek junior sein ganzes Arbeitsleben dort verbracht.

Der Architekt räuspert sich, seine Stimme erinnert jetzt an einen geduldigen Arzt. »Der Kaschubek, ja. Der ist natürlich sehr engagiert – für einen Hausmeister. Einen ehrenamtlichen Hausmeister. Macht seine Sache prima. Aber, das Gegenteil von gut ist nun mal gut gemeint. Das ist ja das Problem mit unserem Bürgerzentrum. Ich kenn das, hab lange genug da mitgemacht. Alles Zeitverschwendung.«

Charlie wird ungeduldig. Sie will sich doch raushalten und endlich weg.

»Ich schau mir Ihre Pläne morgen schnell an«, entscheidet sie.

Kellmanns springt darauf mit der Elastizität eines Flummiballs. »Wunderbar, sagen wir um zehn? Bis dann, genießen Sie den Tag.«

Genau. Ihr ist der linke Fabrikflügel so egal wie der rechte. Eigentum ist lästig. Charlie glaubt nicht an ein Leben ohne Arbeit. Sie will ihr Geld selbst verdienen, auch wenn sie von den Mieten für die Nobelbüros, die Kellmanns bereits im rechten Fabriktrakt untergebracht hat, sorglos leben könnte – wenn die Büros alle vermietet sind.

Geld reicht nicht, um sie hier zu halten. Ihr kleiner grüner Koffer steht unter dem Bett – fertig gepackt. Das hat sie gleich nach der Beerdigung der Mutter gemacht. Sie gehört nicht auf Dauer in diese Stadt, mit der sie nur eine nichts sagende Kindheit verbindet und zuletzt die sterbende Mutter. Unterwegssein bekommt ihr besser, genau wie Sonnenbräune.

Charlie steht auf, tappt über einen langen Flur in die Küche. Hier hatte der Großvater sein Laborbüro, in dem er Rübenpreise aushandeln oder über ein neues Verfahren zur Zucht einkeimiger Rübensamen brüten konnte.

Knifflige Sache, Charlie hat die Aufzeichnungen aus seinem Nachlass kürzlich überflogen, sie lernt gern dazu.

Ein natürliches Rübenknäuel enthält drei bis vier Samen, die auf dem Feld dicht gedrängt aufgehen und sich den Platz streitig machen. Die sonst so anspruchslose Zuckerrübe braucht für ihre Entwicklung viel Platz, muss einzeln stehen. Genau wie der alte Tüftler, sagt Charlie sich mit Blick auf die Glasfront vor ihrer Küche.

Dem Alten muss der weite Blick vom Kontor auf den Fluss gefallen haben, die Einsamkeit auf dem Dach. Seine Rüben hatte er eindeutig lieber um sich als seine Verwandten. Familie war dem Zuckerbaron immer lästig, die Forschung ging vor. Kein schlechter Zug, findet Charlie, auch wenn sie den Großvater deshalb nie kennen gelernt hat. Seine Liebe zum Fluss kann sie mit ihm teilen, seine Abneigung gegen verlogene Familienidyllen auch.

Sie öffnet eine Glastür und tritt hinaus aufs Dach. Die Teerpappe knistert unter ihren nackten Füßen, sie hat die Hitze der letzten Tage gespeichert. Genießerisch betrachtet Charlie den gemächlich dahinströmenden Fluss.

Der ist sich gleich geblieben. Hat sie immer ans Reisen denken lassen. Schon als Kind ist sie gern am Ufer zwischen Basaltquadern und Flusskieseln herumgeklettert, die Abenteuer ihrer Sehnsucht vorauserlebend. Der Fluss trug allerhand Schwemmgut vorbei, das von anderen Menschen und Orten erzählte. Glücklicheren Orten, davon war sie fest überzeugt, man musste sich nur auf den Weg machen.

Bewegung statt Stillstand. Genau. Sie wird noch heute ihren Job wieder aufnehmen. Reisereportagen für »female«, da hat ihr nie einer reingequatscht. Freelance ohne Redaktionsanbindung. Feste Freie nennt man das. Eine laue Geschichte, und man ist draußen, ganz im Freien. Kein Problem für Charlie, ihre Geschichten sind unnachahmlich. Eben echt Charlie. Unterwegs sein ist die Lösung. Ist immer schon die Lösung gewesen.

Übermütig läuft sie bis zum Rand des Dachs, blickt hinab auf den Kai vor der Zuckerfabrik und den alten Schiffsanleger.

Unten geht Kaschubek. Ausgerechnet. Charlie macht einen Schritt zurück, ganz vorsichtig, da blickt er schon zu ihr hinauf, winkt, lacht, formt mit den Lippen ein »Guten Morgen Frau Dornfelder«, verbeugt sich sogar. Klar, dass er mit dieser Pantomime etwas bezweckt, der will sie für sich gewinnen und fürs Bürgerzentrum.

Charlie zögert einen Moment. Was soll’s. Sie winkt zurück, lacht auch. Klingt gezwungen, aber das kann man unten bestimmt nicht hören. Charlie kehrt in die Küche zurück. Nichts kann sie hier halten, kein Kellmanns, kein Rottgarten und kein Kaschubek.

Nein, es gibt keinen Menschen, der sie hier halten könnte. Erst recht kein Mann. Da ist sie anders als ihre Mutter. Glaubt Charlie. Entschlossen zieht sie den grünen Koffer unter dem Bett hervor. Leichtes Gepäck. Sollen die anderen sich mit der Zukunft der Vergangenheit beschäftigen. Sie will einfach leben.

Liebe unter Kannibalen

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