Читать книгу Liebe unter Kannibalen - Sabine Werz - Страница 8
5.
ОглавлениеCharlie sitzt vor ihrem Koffer, kontrolliert den Inhalt und studiert die Visastempel in ihren alten Reisepässen. Das beruhigt sie, dabei kann sie ihre Gedanken übers Weggehen sortieren. Alles ganz einfach. Sie muss nur noch in der Redaktion anrufen, fragen, was anliegt.
»Juchhu, Charlie. Ich bin’s.«
Scheiße, die Delius. Hat sie ganz vergessen. Eine Stahltür fällt ins Schloss. Frau Delius Stimme arbeitet sich munter wie ein Kinderlied zum Schlafzimmer vor. »Nee, wat ein Wetterchen. Dreißig Grad, wolkenloser Himmel, für die Jahreszeit zu schwül, harn se gesagt. Und Herzschlaggefahr. Morgen gibt’s Gewitter. Die Fenster kann ich also leider wieder nicht machen.«
Glück gehabt, denkt Charlie, mit den Fensterfronten steht die Putzfrau auf Kriegsfuß. Sie hat es mehr mit dem Teppichsaugen, allerdings nicht unterm Bett. Da hat Charlie zusammen mit dem Koffer eben ein gutes Dutzend Staubmäuse hervorgezogen. Müsste sie eigentlich mal was zu sagen, aber so was macht sie nicht gern. Frau Delius würde nur langatmige Erklärungen abgeben, bei denen Charlie am Ende ein schlechtes Gewissen kriegt.
Die Delius erklärt sich ja jetzt schon:
»Wenn man vorm Gewitter die Scheiben putzt, gibt’s doch nur Brassel und Streifen«, tönt sie unbekümmert, »war schad drum und Sie am Ende noch unzufrieden. Mit mir. Und das wollen wir ja nicht. Hallo? Haaalllo.« Das letzte Hallo lässt sie im Dreiklang über die Tonleiter hopsen. Extra laut, damit Charlie es hören kann. Die hört ja auf einem Ohr nix, Trommelfell kaputt und unten am Ohrläppchen fehlt ein Stück. Darauf muss man Rücksicht nehmen. »HALLO!«
Charlie ist heute nicht in Stimmung für dieses Hallo, das Frau Delius einmal pro Woche anstimmt, als begegneten sie sich beide nach einer langen Trennung. Als gäbe es jede Menge Dinge zu erzählen – von früher.
Bislang hat Charlie dazu ein freundliches Gesicht gemacht. Ein Lächeln ist das beste Versteck. Als studierte Ethnologin hat sie jahrelang trainiert, Leute nicht zu unterbrechen oder nur so viel zu sagen, dass sie weitererzählen. So lernt man fremde Kulturen kennen, ohne sich einzumischen. War auch für ihre Arbeit als Journalistin von Vorteil. Die Leute erzählen gern Geschichten, wenn sie lächelt.
Frau Delius ist ganz versessen auf dieses Lächeln, erzählt darum aber leider ebenfalls viel. Nur keine Neuigkeiten. Im Gegenteil, sie hat sich im letzten Monat mit zunehmender Gründlichkeit in Charlies Vergangenheit vorgearbeitet. Charlie hat ihre Vergangenheit schon gelangweilt, als sie noch ihre Gegenwart war. Sie nimmt sich vor, ihr Lächeln heute genauer zu dosieren.
Frau Delius ist ein so lästiges Erbstück wie die Fabrik. Hat bis zu Mutters Tod für sie gearbeitet. Charlie hat Frau Delius mehr aus diffuser Dankbarkeit denn aus Notwendigkeit eingestellt.
Leider meint Frau Delius, dass man die Eltern mit Anekdoten am Leben erhalten muss. Manchmal reicht der Anblick einer Kaffeetasse oder eine Handbewegung von Charlie, um sie auf das Thema zu bringen. Die Mutter scheint noch überall drinzusitzen, sogar in einem alten Lappen, der für ihre Badewanne reserviert war.
Charlies Familie ist Frau Delius’ Lieblingsthema. Vielleicht weil sie die Toten leichter bändigen kann als ihren ziemlich missratenen Sohn, der ihr Geld für Computerspiele und Haargel verballert.
Ab und an fragt Charlie nach ihm, weil es Frau Delius freut, obwohl es wenig Erfreuliches von dem Sohn zu berichten gibt. Je hässlicher die Wahrheit, umso hübscher sind die Lügen, die Leute darüber erzählen. Kennt Charlie. Die Lügen über die Familien fremder Leute hört sie sich lieber an als die über ihre eigene.
Wenn die Putzfrau vom »Doktor Dornfelder« spricht, bekommt sie einen glasigen Blick, der an vergammelten Schellfisch erinnert.
»Uff, da bin ich. Ich hab ihnen auch wieder was Hübsches mitgebracht. Fürs Bett.« Auch das noch. Frau Delius’ Geschenke sind noch lästiger als ihre Anekdoten. Charlie vergisst immer wieder, sie aus der Abstellkammer vorzukramen, wenn die Putzfrau kommt. Braucht viel Fantasie, sich Erklärungen dafür auszudenken, warum der Flokati in Fußform oder die Stoffgeranie im altrosa Übertopf nicht an ihrem Platz sind.
»Ich mach erst mal Kaffee«, ruft Charlie schuldbewusst und flieht – noch immer barfuß – in die Küche. Sie kramt in einer Schublade hektisch nach Filtertüten, stopft eine in die Kaffeemaschine. Während die sich gurgelnd und sprotzend in Gang setzt, streift Charlies Blick den Küchentisch.
Darauf steht ihr Laptop und reißt das Maul auf. Ein lästiges Maul, das gefüttert werden will. Damit muss auch Schluss sein. Nur weg mit dem Mist, der sich als ein Wust aus Papier und Notizen auf dem Tisch türmt.
»Hier sieht’s ja mal wieder aus wie Huddelmanns Werk.« Frau Delius steht in der Tür und vergisst ihr Geschenk. Sie geht zielstrebig auf den Küchentisch zu, greift sich einen Stapel ausgedruckter Seiten vom Tisch, klopft sie zurecht und schielt auf die Blätter.
»Das ist meine alte Doktorarbeit, jetzt, wo ich Zeit habe, wollte ich sie endlich fertig machen«, sagt Charlie wie ertappt und entreißt Frau Delius das Beutestück. Zu spät. Die Augen der Putzfrau sind flink und gründlich.
»Was steht da? Menschenfresser? Igitt, und für so was kriegt man ‘nen Doktor?«
»Das ist eine ethnologische Studie. ›Menschenfresser und Menschenopfer – Die Legende vom Kannibalismus als Mythos der Zivilisation.‹ Volkerkunde, ein kulturgeschichtlicher Überblick. Es geht um die Frage, ob Kannibalismus wissenschaftlich überhaupt nachweisbar oder nur eine Folge verstellter Betrachtung ist. Eine Erfindung der Forschung sozusagen.«
Himmel, warum erklärt sie das der Delius? Ausgerechnet Frau Delius, die mehr als unbelehrbar ist.
»Ach so, tja, jedem Tierchen sein Pläsierchen«, sagt die und kontrolliert, ob die Filtertüte richtig sitzt. Sitzt natürlich nicht. Sie fängt einen Blick von Charlie auf. Scheint heute ausnahmsweise einen schlechten Tag zu haben, lächelt gar nicht. Frau Delius lenkt ein: »Na ja. Ich meine, Wissenschaft. Von so was versteh ich natürlich nichts.«
Ich leider auch nicht, denkt Charlie müde. Nicht mehr jedenfalls. Mit zehn Jahren wusste sie besser über die Kopfjäger von Borneo Bescheid als über Boney M. oder die Disco-Barbie. Die Opferrituale und Totenkulte der Marid-anam auf Neuguinea waren ihr vertrauter als die Schulabenteuer von Hanni und Nanni. Tatsächlich war sie ehrgeizig bis zur Ekelhaftigkeit, wenn es um frühgeschichtliche Funde möglicher Kannibalenmahlzeiten ging, um Schab- und Nagespuren, ausgesogene Markknochen, chirurgisch entfernte Schädeldecken, Totenrituale. Wollte sich wichtig machen. Die Umgebung schocken. Kinderkram.
Deckblatt und Titel der Doktorarbeit sind auch schon fünfzehn Jahre alt. Sie hat es sich viel zu einfach vorgestellt, wieder damit anzufangen. Hat sich die Forschung immer zu einfach vorgestellt. Was du mit diesen Wilden hast, hat die Mutter gesagt. Der Vater wollte, dass sie Medizin studiert, wie er, »etwas Solides«.
War wirklich abwegig, an das alte Zeugs anzuknüpfen. Erst recht hier, erst recht jetzt. Charlies Augen flitzen über eine handschriftliche Notiz:
Traditionell werden zwei Formen der Menschenfresserei (Anthropophagie) unterschieden, von denen jedoch keine durch unbeteiligte Augenzeugen verifizierbar ist:
Exokannibalismus: Zeremonielles Verspeisen von Fremden oder Feinden aus Gefühlen von Rache und Hass oder zur Aufnahme bewunderter Eigenschaften.
Endokannibalismus: Rituelle Aufnahme von Körperteilen oder der Knochenasche verstorbener Angehöriger aus Gefühlen wie Liebe und Achtung.
»Da wäre Ihre Mutter aber froh, wenn sie das wüsste.«
»Was?«
»Die wäre ganz außer sich. Dass ihre Tochter auch noch Doktor wird. Ganz wie der Vater. Was für eine Freude.« Frau Delius hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis zwischen den Eltern Dornfelder und Charlie wenigstens nachträglich zu kitten. Ist doch wahr, so wunderbare Menschen hätten sich sicher viel zu sagen gehabt, wenn sie erst mal damit angefangen hätten.
Aber so ist das mit klugen Leuten oft, in ganz einfachen Dingen sind die wie aufs Maul gefallen. Sogar der Doktor Dornfelder, der war ein ganz verschwiegener. Pflegeleicht, aber schweigsam. Die Mutter hat mehr erzählt. Erst recht, bevor sie gestorben ist.
»Mutter ist tot, die freut nichts mehr«, sagt Charlie.
Frau Delius’ Blick wechselt von glasig auf strafend. Was ist heute nur mit ihrer Charlie los?
»Tot oder nicht. Freuen würde es sie trotzdem. Und Ihnen täte ein bisschen Freude auch ganz gut. Sind ja immer ganz angekränkelt in letzter Zeit.« Sie öffnet auf der Suche nach Kaffeetassen und Zucker den alten Büffetschrank. Der lehnt – obwohl ausladend und breit – wie verschüchtert vor einer Ziegelwand. Charlie gönnt ihm das, sie hasst dieses Monstrum.
»Das ist schön, dass sie wenigstens den Schrank von zu Hause mitgenommen haben. Ihre Mutter hat den Schrank immer gemocht. Und ihre Tassen. So hübsche Tassen, besonders die mit dem hellblauen Muster. Schade, dass nur noch eine übrig ist. Echt Meißen. War was Besonderes. Ich meine, Ihre Mutter.«
Meine Güte, das ist heute ein neuer Rekord. Kaum fünf Minuten im Raum, schon hat ihre Putzfrau alle Familienleichen zum Kaffeekränzchen versammelt. Fast alle. Die Delius erinnert bedenklich an die Toraya in Indonesien, die ihre Toten mehrere Jahre in Tücher gehüllt in ihren Häusern verwahren, bis nur noch bleiche Knochen übrig sind. Ihre Nachbarn, die Buginesen, halten das für eine Form der Vorratshaltung und die Toraya für Menschenfresser. Was Unsinn ist, so viel kann Charlie wissenschaftlich beweisen.
»Ihre Mutter hat sehr an den Familienerbstücken gehangen, war wenig genug, was übrig geblieben ist.«
Nur nicht lächeln, mahnt Charlie sich.
Nutzt nichts, die Putzfrau hält an ihrer Form der Ahnenverehrung fest.
»Ihr Vater wollte sich auch nicht von dem Schrank trennen«, macht Frau Delius weiter und deckt den Tisch. »Konnte sich von nichts trennen, was der Mutter gehört hat. Nicht mal von diesem unseligen Glastisch, dabei hat ihn der Sturz da rein doch glatt umgebracht. Letztlich, meine ich. War danach nie mehr derselbe. Die Flecken in dem Teppich darunter, also die waren mit nichts rauszukriegen. Hab alles versucht, sogar Fleckenteufel und Domestos.«
Charlie wendet sich ab, kramt in ihren Notizen. Nur nicht daran denken. Die Splitter, das Blut, die Schnitte. Der Vater muss vollständig betrunken gewesen sein, als es passierte. Hat gelächelt, als man ihn gefunden hat, heißt es. Gelächelt. Gut, dass sie nicht dabei war.
»Wie Ihre Mutter das verkraftet hat. So eine feine Frau. Hat nie das Gesicht verloren, immer ganz Dame. So was gibt’s heute ja gar nicht mehr.«
Dem Himmel sei Dank. Bei den Dowayos in Kamerun gibt man verstorbenen Frauen vor der Bestattung einen herzhaften Tritt und entfernt den Schädel. Wiedergänger sind klugerweise unerwünscht.
Frau Delius hält es ganz anders. »An einer wie Ihrer Mutter sollte die Sophie Kellmanns sich mal ein Beispiel nehmen und sich mehr um ihre streunende Tochter kümmern.« Hinter der ausgerechnet ihr Sohn her sein soll. Pah! Wo war sie noch?
»Aber die Kellmanns hat’s ja lieber mit strunzdummen Jammertanten und ihrem Heulsusen-Kränzchen. Weiß gar nicht, was eine starke Frau und richtige Mutter ist. Schlimmes Schicksal.« Ob sie damit die Unwissenheit der lebenden Sophie oder die Geschicke der toten Mutter meint, bleibt unklar.
Charlie versucht ein Ablenkungsmanöver. »Die Sunnyi ist in Ordnung.« Frau Delius verzieht den Mund. »Sie besucht mich manchmal abends auf dem Dach. Cleveres Mädchen, die weiß, wo’s langgeht.«
»Ach ja? Sie sollten ihr mal ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben. Läuft immer halb nackt rum. Vielleicht hört sie ja auf Sie. Ihre Eltern nimmt die doch nicht für voll.«
»Man kann einer Fünfzehnjährigen schlecht davon abraten, die Eltern zu hassen. Das gehört in dem Alter dazu.«
Frau Delius macht ein skeptisches Gesicht, »’ne frühreife Rumtreiberin ist die. Wird an der Trennung liegen. Nur gut, dass Ihre Eltern sich nie getrennt haben. Die haben durchgehalten.«
Charlie studiert ostentativ Notizen:
Natürliche Formen des Kannibalismus (Tierreich).
Nachgewiesen ist die intra-uterinäre Embryophagie beim lebend gebärenden Sandtigerhai: Erbsengroße Eier nisten sich in der Gebärmutter ein. Während der Entwicklung der Embryonen wird der Dottersack rasch verzehrt. Die Embryonen bilden danach Zahnknospen aus. Damit reißen sie ihre Eierschale auf, fressen andere uterine Eier (Oophagie) und Embryonen (Embryophagie). Als Resultat bleibt am Ende ein einziger Fötus pro Gebärmutter übrig. Dieser besitzt mit einer Länge von über einem Meter bei Sandtigerhaien geradezu gigantische Ausmaße. Eine Fortpflanzungsstrategie, die eine überdurchschnittlich hohe Überlebenschance in den Gewässern der Südsee garantiert.
Wenn das Frau Delius wüsste ... Charlie muss schmunzeln. Irgendwie macht das Thema ihr doch noch Spaß.
»Wie Ihre Mutter das alles verkraftet hat, so tapfer. Diese ganzen schrecklichen Geschichten, also, wenn das eigene Kind ...«
Frau Delius senkt dankenswerterweise die Stimme, als dürfe man über gewisse Tote nur flüstern. Ein taubes Ohr hat Vorteile, findet Charlie, ihr Blick sucht die Fensterfront.
Es ist so wunderbar da draußen. Ein ganz seltener Himmel wölbt sich über dem Fluss. Das Wasser sendet goldene Funksignale nach oben. Ein Düsenjet schreibt einen Kondensstreifen in den Himmel. Charlie verfolgt die flüchtige Doppellinie aus Wasserdunst.
Schon morgen, spätestens in einer Woche wird sie in so einem Flieger sitzen. Vielleicht Richtung Südsee? Sandtigerhaie suchen? Das würden die in »female« natürlich nie drucken, aber sie könnte der Redaktion ja mal ein Thema übers Tauchen vorschlagen. Vielleicht Wracktauchen, hat sie noch nie gemacht.
Man müsste sich nur was ausdenken über eine große alte Taucherin. Geschichten von starken, verwegenen Frauen kommen bei »female« gut an. Kontrastprogramm zu den albernen Kosmetiklügen, von wegen »Falten weg in vierzehn Tagen« und »Cellulite – das Powerprogramm, das wirklich funktioniert«.
Für den Anfang reicht ihr auch eine PR-Einladung in irgendein neues Luxushotel auf Mallorca. Wenn es drauf ankommt, schreibt Charlie sogar Wanne-Eickel in eine romantische Oase oder einen Ort unfassbarer Abenteuer um.
Ihr Blick streift das Wasser, fällt aufs gegenüberliegende Ufer. Die Ölgangsinsel. Als Kind war sie fest davon überzeugt, dass dort Gespenster hausen. Vor allem in den hohen Pappeln, deren silbergrünes Blättergewoge im Wind unheimlich rauschte. Ein ganz spezieller Geist lebte in einem Ginsterbusch und sprach nur zu ihr. Ihre erste Babypuppe hat sie daneben begraben. Mit großer Zeremonie. Immer und immer wieder, weil der Puppe ein Beinchen fehlte und weil sie den Geist besänftigen wollte. Fast war es so, als habe sie gewusst, was dort später passieren würde. Charlie sucht das Ufer ab, der Fluss schmiegt sich in sehr hellen Sand. Der blendet. Sie kneift die Augen zu.
In ihrem tauben Ohr schwillt wieder dieser hohe Summton an. Stresssymptom. Charlie drückt die Finger ganz fest auf die linke Ohrmuschel, erstickt das Pfeifen, aber nicht den Nachhall einer Stimme, die nur noch in ihrem Kopf existieren kann:
»Weg da, Charlie, halt dich raus.«
Zu spät, sie erinnert sich wieder, an ihren Traum von heute Morgen, an Robinson und an ... Energisch schüttelt sie den Kopf, in ihrem rechten Trommelfell knackt es ganz leicht.
Jetzt hört sie Frau Delius wieder.
»Andere wären an so einem Schicksal zugrunde gegangen. Aber Ihre Mutter – diese Haltung! Ich meine, als Ihre Schwester ...«
Charlie reißt die spuckende Kaffeekanne aus der Maschine. »Kindchen, was machen Sie denn? Der läuft doch noch. Das gibt doch nur wieder ‘n Unglück.« Frau Delius springt auf, greift sich einen Lappen. Charlie steht nur da.
»Na ja, so schlimm isses auch nicht. Jetzt genehmigen wir uns erst mal ‘n Tässchen. Wo ist denn der Würfelzucker?« Frau Delius taucht mit dem Kopf im Küchenschrank ab.
»Ist keiner da, glaub ich. Hab ich vergessen, brauch nie welchen. Tut mir Leid. Honig hilft wohl nicht weiter?«
Frau Delius taucht wieder auf. Das klingt wieder mehr nach der Charlie, die sie kennt. Immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie mal nicht an die Bedürfnisse anderer gedacht hat. So was von rührend.
»Also, Kindchen, das glaubt einem wirklich keiner, dass die Erbin von Dornfelders Zuckerfabrik keinen Zucker im Haus hat.«
Charlie greift sich das schnurlose Telefon und einen Kaffee. Ein Anruf und sie ist frei von dem ganzen Quatsch. Vor allem von diesem Putzteufel mit Hang zu morbidem Gefühlsüberschwang. »Ich geh raus aufs Dach, hab zu telefonieren. Mit meiner Redaktion.«
»Barfuß?« Und im Schlafshirt, also wirklich.
Charlie schweigt.
Frau Delius wundert sich. Schon wieder motzig. Tat sich besser mal fünf Zucker in den Kaffee. Scheußlich, diese Leichenbittermiene. Ist man ja gar nicht gewohnt.
»Was wollen Sie denn von der Redaktion?«
»Einen Auftrag, was sonst.«
»So ein Unsinn. Dann müssten Sie ja wieder ständig weg von hier. Immer unterwegs. Denken Sie an die Fabrik, da haben Sie doch genug mit zu tun, jetzt wo Ihre Mutter nicht mehr ist. Die hatte noch so viele Pläne damit.«
»Macht der Kellmanns.«
»Und die Doktorarbeit?« Frau Delius greift nach einem Stoß Papier, drückt ihn schützend an ihre Brust.
»Können Sie alles wegschmeißen«, sagt Charlie schroff und mit ganz umwölkter Stirn. Wem will sie denn noch beweisen, dass der Kannibalismus ein Märchen ist? Sich selber nicht. Das Märchen vom barbarischen Menschenfresser ist eine nützliche Kulturlüge, erfunden von Priestern, Kriegern und Eroberern, die einen Grund zum Töten, Rauben und Missionieren brauchen. Für die Welt, für den Profit und für den Seelenfrieden. Kannibalismus ist kein Ritual unzivilisierter Wilder. Das wäre schnell erzählt, die Wahrheit ist heikler.
Kannibalismus ist ein Seelenzustand. Er entsteht im heimischen Wohnzimmer, er herrscht am Mittagstisch, er macht Beute im Kreise der Liebsten, die nach Gefühlen hungern und sich dabei zerfleischen. Aber das ist nicht ihr Thema, das ist banaler Psychokram, den sie längst abgehakt hat. Charlie öffnet die Glastür zum Dach.
Frau Delius beobachtet es kopfschüttelnd. Erst rin inne Kartoffeln, dann raus ausse Kartoffeln, Madame weiß wirklich nicht, was sie will.
»Sie sehen ja ganz mitgenommen aus, was ist denn los? So ein ernstes Gesicht passt gar nicht zu Ihnen.«
Charlie ist doch der geborene Sonnenschein. Nur heute nicht.
»Ich räum das viele Papier hier erst mal ordentlich zusammen, dann sehen Sie bestimmt bald wieder klar wie Tinte, ich sag’s Ihnen«, ruft sie Charlie aufs Dach hinterher.
»Schmeißen Sie alles weg. Ich bin ab morgen oder übermorgen nicht mehr hier.«
»Das meinen Sie doch nicht ernst«, sagt Frau Delius.
Charlie drückt die Softtasten ihres Telefons und gibt der Fenstertür von außen einen Tritt. Peng! Die war zu. Charlie spricht ins Telefon.
Bah, was pampig, findet Frau Delius, dabei hab ich ihr so was Schönes mitgebracht. Zärtlich nestelt die Putzfrau eine knisternde Plastiktüte aus ihrer Tasche. »Rudis Reste-Rampe« steht drauf. Darin steckt ein Cocktailkissen. Muss Charlie ja nicht wissen, dass das Kissen ein Restposten und sensationell billig war. Nur fünf Mark. Dafür ist es aus weißem Satin, und der Clown darauf trägt eine gestickte goldene Mütze. Für Charlies Schlafzimmer. Da hängen nämlich nur so scheußliche Masken von ihren Reisen rum, die einem Angst und Bange machen. Der Clown passt besser.
Nicht umsonst hat die Mutter ihr zweites Kind Charlie genannt, weil sie an Rivel, den Clown, denken musste, als sie dem zerknautschten Baby zum ersten Mal ins rote Gesicht sah. Diese schrägen Augen, dazu der breite Mund, zum Lachen geboren.
Die andere Tochter war das Sorgenkind. Hat die ganze Familie auf Trab gehalten. Auch den Doktor Dornfelder, dabei hat der mit dem Kind eigentlich nichts zu schaffen gehabt. Frau Delius seufzt. Die Sorgenkinder wachsen einer Mutter eben besonders ans Herz. Da kennt sie sich aus.
Der Clown auf dem Kissen lacht ganz leise. Frau Delius drückt ihn liebevoll. Sie wird schon dafür sorgen, dass diese Wohnung ein gemütliches Zuhause wird. Für Charlie.
Die steht auf dem Dach und macht wilde Gesten, als treibe sie Preisverhandlungen auf einem marokkanischen Bazar, dabei schwappt der Kaffee aus ihrer Tasse, pladdert aufs Dach. Der schöne Kaffee. Die Verhandlungen sind offenbar wenig erfolgreich. Charlies Miene verfinstert sich, dann schaut sie ganz entgeistert drein, beinahe entsetzt. Sie macht eine abwehrende Geste. Am Ende nickt sie resigniert. Seltsam.
Hier drin versteht man auch rein gar nichts. Endlich öffnet sich die Tür, Charlie tritt in die Küche und scheint die Putzfrau vergessen zu haben.
»Schlechte Nachrichten?«, meldet die sich zu Wort.
»Neuer Auftrag.«
»Das wollten Sie doch?« Die Frage klingt nach Vorwurf.
»Weiß nicht, ob ich das machen soll. Langweiliger Kram, überhaupt nicht mein Ding.«
»Dann machen Sie es eben nicht«, entscheidet Frau Delhis. »Wo sollte es denn hingehen?«
»Nirgends. Ich soll mich um irgendwelchen Weiberunsinn kümmern, weil eine Kollegin schwanger ist. So ‘n Scheiß?«
»Mode?«, fragt Frau Delius.
»Nein, Liebe und Partnerschaft.« Charlie bekommt einen geradezu feindseligen Blick.
»Das ist doch kein Unsinn. Gerade in Ihrem Alter, Sie sind doch noch jung und knackig. Da gibt es doch eine Menge drüber zu sagen«, findet Frau Delius. Mehr als über Menschenfresser. Aber mit den gewöhnlichen Dingen des Lebens tut Frau Doktor sich scheint’s schwer, hat ja nicht mal ‘nen festen Freund, nur einen merkwürdigen Männergeschmack.
Die Mutter hat ihr mal einen Artikel von Charlie gezeigt: »Meine Nächte mit Zuul – unterwegs mit den Massai«. Also wirklich. Alles erfunden, hat die Mutter behauptet, meine Tochter hat eine ungesunde Fantasie, wie ihr Vater. Frau Delius ist sich da nicht so sicher. Immerhin steht neben Charlies Bett diese scheußliche Figur. Charlie behauptet, das sei afrikanische Kunst und ein Fruchtbarkeitsgott. Frau Delius findet, das ist Schweinkram. So was staubt sie nicht ab.
»Mein alter Job ist weg«, sagt Charlie.
»Und Ihr Kaffee auch«, antwortet die Putzfrau. »Soll ich nachschenken?«
Charlie schüttelt den Kopf. Sie verschwindet Richtung Schlafzimmer.
Frau Delius hat eine tröstliche Eingebung: »Ich soll Ihnen noch was bestellen.«
Keine Antwort.
»Vom Kaschubek.« Scheint Charlie auch nicht zu interessieren. »Ein alter Freund von Ihnen ist wieder in der Stadt. Irgendwas Italienisches. Calzone? Nee, das ist eine Pizza. Irgendeiner, mit dem Sie als Kind immer gespielt haben.«
Vor dem Schlafzimmerspiegel erstarrt Charlie.
Schnell schnürt sie ihre Turnschuhe zu, läuft in den Flur, schultert ihr Alurad. Nur raus hier, und wenn’s bloß ein schneller Trip zur Redaktion ist. Da muss sich doch noch was machen lassen.
»Jetzt hab ich’s«, schreit Frau Delius in Richtung Stahltür, aber die ist längst zu.