Читать книгу Liebe unter Kannibalen - Sabine Werz - Страница 4

1.

Оглавление

Wenn Cantucci kommt, musst du dich totstellen«, sagt eine Stimme im Ginsterbusch. Charlie legt sich eifrig zurecht, kneift die Augen zu und gräbt ihre Hände in dünnen Ufersand. Sie bekommt einen Flusskiesel zu fassen. Fühlt sich an wie einer mit schwarzen Streifen und einem Loch drin, die mag sie gern, die heißen Hühnergötter, sagt der Vater. »Bleib so liegen, Charlie«, flüstert das Gebüsch, »egal was passiert.«

Ehrensache, auch wenn es nicht einfach ist. Ein Ast bohrt sich wie ein Vogelschnabel in Charlies linke Wade. Sie liegt neben einer Pyramide aus Feuerholz. Das haben sie vorher im Inselwäldchen gesammelt. Cantucci soll die Streichhölzer dabeihaben. Sein Vater raucht Tropenzigarren zum Schnaps, da kann Cantucci so was leicht abstauben. Sein Vater schaut nicht genau hin. Erst recht nicht nach drei, vier Samtkragen. Das ist halb klarer Schnaps, halb öliger Magenbitter, der sich als brauner Ring oben absetzt. Riecht nach Hustensaft.

Cantuccis Vater ist Postbote, und wenn er die Renten auszahlt, geben die Empfänger gern einen aus. Darum fährt Cantuccis Vater manchmal schon mittags Schlangenlinien auf seinem gelben Rad. Dabei sieht er aus wie ein Artist, findet Charlie und beneidet den kleinen Cantucci ein bisschen um ihn. Auch deshalb, weil der immer ein Malzbier kriegt, wenn er seinen Vater aus dem »Fässchen« bei der Zuckerfabrik abholen muss, manchmal mitten in der Nacht.

Da stehen die Männer im Finstern an der Theke, umwölkt von Bierdunst und Tabakqualm. Meist ist der verrückte Kaschubek dabei, der mit dem Glasauge und den Geschichten vom Krieg. Einem Krieg, der irgendwann hinter Berlin stattgefunden hat.

Das ist weit weg, so viel weiß Charlie. Und dass ihr Vater nicht gern davon spricht, weil ihm der Krieg noch im Knie sitzt, das ist ganz steif davon. Spricht keiner gern drüber, schon gar nicht mit dem alten Kaschubek. Weshalb der manchmal sein Glasauge rausnimmt und tut, als ob er es verschluckt.

Das hat ihr der kleine Cantucci erzählt. Der hat keine Angst vor Kaschubek. Der traut sich was, vielleicht weil er schon acht ist. Charlie ist erst sechs.

»Ich seh ihn kommen«, verkündet das Gebüsch, »kein Mucks, klar?«

Klar. Und kein Wort zu irgendwem darüber, dass sie hier sind.

Die Ölgangsinsel ist nämlich verboten, weil es hier sehr einsam ist und manchmal Zigeuner darauf zelten. Ungerührt summt eine Hummel, Birkenblätter flirren im Wind, der Fluss schwappt in leisen Wellen heran. Alles ist wunderbar.

»Pass auf, jetzt kommt er«, flüstert hinter ihr das Gebüsch. Charlies Körper erstarrt. Sie hört ein kurzes Aufplatschen. Das ist Cantucci, der aus seinem Kanu springt. Cantucci ist Mitglied im Ruderverein. Im Sommer glänzt sein drahtiger Körper braun wie eine Kastanie. Jetzt, wo Cantucci so braun ist, leuchten seine blauen Augen wie die letzten beiden Tassen vom hellen Sonntagsporzellan ihrer Mutter. Fast sieht Cantucci aus wie der Drachentöter in Charlies Sagenbuch, nur dass der blonde Haare hat.

Charlies Vater hat Cantucci trotzdem verboten und nennt dessen ganze Familie »asoziales Pack«, dabei wohnen die Cantuccis in dem gleichen neuen Hochhaus wie Charlies Familie. Gegenüber von der Insel, in der Nähe der Zuckerfabrik.

Aber Charlies Vater ist Arzt beim Gesundheitsamt und was Besseres, schon weil seinem Vater die Zuckerfabrik gehört.

Ein hölzernes Klappern verrät, dass Cantucci eben die Ruder in seinem Boot verstaut. Charlie atmet so lautlos wie möglich aus, auf ihren Armen bildet sich Gänsehaut. Gleich wird sie Cantuccis Zähne darauf spüren. Sie muss nur daran denken, dass es Cantucci und kein echter Menschenfresser ist, dann kann nichts passieren.

Im Gebüsch raschelt es ärgerlich, die unsichtbare Stimme hat neue Kommandos.

»Cantucci, du Idi. Na los. Tu so, als ob du sie essen willst. Mach das Feuer an.«

»Das ist blöd.«

»Das ist Robinson Crusoe.«

»Quatsch, Freitag haut ab, und Robinson tötet zwei Kannibalen, die ihn verfolgen.«

Dem Gebüsch ist das egal: »Erst machen die Kannibalen das Feuer an und schneiden einen Gefangenen auf.«

Cantucci bleibt widerspenstig. »Aber nicht den Freitag. Du hast keine Ahnung. Lass mich den Robinson machen.«

Charlie ist Freitag, weiß aber nicht, wer von beiden Recht hat. Sie will jedenfalls niemanden beißen. Schon gar nicht Cantucci.

»Ich bin vierzehn und sag, was gemacht wird«, bestimmt das Gebüsch, »du bist der Kannibale und willst Freitag fressen, dann komm ich und schieß dir ein Loch in den Bauch.«

»Pah! Du bist doch ein Mädchen, und ein Gewehr hast du auch nicht.«

»Ich hab eine Haarspraydose, was meinste, wie das Treibgas knallt, wenn ich die ins Feuer schmeiß.«

Ob Mama das recht ist?, fragt sich Charlie. Die Haarsprayflasche stammt bestimmt von der Frisierkommode. Wenn sie das rauskriegt, sagt sie es dem Vater und dann setzt’s Dresche. In letzter Zeit gibt’s häufiger Dresche.

Cantucci scheint das Zubeißen vergessen zu haben. Charlie hört, wie er direkt neben ihr ein Zündholz anreißt. »Gib her. Ich wette, du traust dich nicht.« Seine Stimme klingt lauernd. Knisternd fängt ein Reisigzweig Feuer. Charlie spürt an ihrer linken Seite einen warmen Hauch. Fühlt sich schön an, fast wie ein Streicheln.

»Und ob ich mich trau«, versichert über ihr die Stimme, die eben noch im Gebüsch saß. »Ich bin schließlich Robinson. Charlie, mach Platz.«

Und was ist mit Freitag? Ob Charlie die beiden an ihn erinnern soll? Geht nicht. Freitag spricht nur Kannibalensprache. Charlie hat sie erfunden und kann sie schon ziemlich gut. »Du bist bloß Alexandra und eine blöde Angeberin«, mault Cantucci, »du darfst nicht mal hier sein.«

»Ich geh, wohin ich will.«

»Her mit der Dose, oder ich sag’s deinem Vater ...«

Charlie wird ganz steif, so wie eine richtige Tote. »Der ist nicht mein Vater. Charlie ist sein Kalmückenkind.«

Charlie wird ganz heiß von dem Satz. Warum sagt Alexandra das in letzter Zeit immer. Und gerade jetzt. Sie spielt doch ganz brav mit.

»Dann sag ich’s eben deiner Mutter.«

»Drauf gespuckt.«

Jemand zieht Rotz hoch.

»Doppelspuck«, hält Cantucci dagegen. Zwei Rotzpfützen landen neben dem Holzhaufen.

»Meins war Atomspuck, leck weg«, behauptet eine der Stimmen. »Pass auf, gleich knallt’s, Idi. Eins, zwei ...«

Ein kollerndes Geräusch im Sand. Die beiden ringen miteinander. Hastiges Fußtrappeln, grapschende Hände, ein Sandregen geht auf Charlie nieder. Sie will aufspringen.

»Weg da, Charlie, halt dich raus«, ruft einer.

Ein sausendes Geräusch. Metall klappert gegen Holz. Auf dem Fluss tönt das Signalhorn eines Schleppschiffs. Das Tuten wird zu einer Explosion, mitten in Charlies Gesicht. Durchs linke Ohr saust ein Blitz direkt in ihren Kopf. Das tut weh, wirklich weh. Charlie reißt die Augen auf.

Sie ist nicht mehr sechs. Sie ist fast vierzig.

Liebe unter Kannibalen

Подняться наверх