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Kapitel 7

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Salih Hodscha eilte zur Schule zurück, um den Unterricht fortzusetzen. Doch weil die Untersuchung ihm keine Ruhe ließ, wies er seinen Mülasim schon kurz darauf an, ihn für den Rest des Tages zu vertreten.

Said wunderte sich sehr, als Salih Hodscha ihn, ohne irgendeinen Grund zu nennen, vom Unterricht freistellte und nach Hause schickte. Vielleicht wussten seine Eltern ja warum; aber bevor er sie fragen konnte, musste er sie erst einmal finden.

Betim verriet ihm, dass Lisias und Daphne seine Eltern nach der Messe noch zum Kaffeetrinken eingeladen hatten; allerdings habe sein Vater vorher wohl noch etwas in der Stiftung zu erledigen gehabt. Also klopfte Said bei ihren griechischen Nachbarn.

„Was machst du denn hier, Said? Ist die Schule schon aus?“, fragte die überraschte Afife ihren Sohn.

„Für mich schon, ich durfte früher gehen.“

„Wieso denn das?“

„Salih Hodscha hat mich nach Hause geschickt. Ich weiß nicht warum.“

Afife stutzte. Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie aufgeregt Sami gewirkt hatte, als er vorhin vor seinem Kaffeehaus auf sie zugekommen war. Und abgesehen davon hatten Tamar und sie sich auch schon gefragt, wo ihre Männer eigentlich blieben. Kurz entschlossen schärfte sie Said ein, bei Lisias und Daphne zu bleiben, verabschiedete sich und ging zur Stiftung hinüber.

„Wisst ihr, wo ich meinen Mann finde?“, fragte sie zwei Pflegerinnen, die ihr im Hof entgegenkamen.

„Ibrahim und Garbis sind von zwei Soldaten abgeführt worden“, berichteten sie ihr mitfühlend.

Afife glaubte sich verhört zu haben.

„Abgeführt? Was soll das heißen?“, fragte sie entsetzt. „Warum und wohin?“

In dem Moment sah sie Salih Hodscha um die Ecke kommen und lief sofort zu ihm.

„Salih Hodscha, verratet mir bitte, was hier los ist!“

„Bitte beruhige dich, Afife! Ich weiß nicht, was dahinter steckt, aber als ich heute Morgen für die Stiftung eine Rechnung begleichen wollte, war plötzlich kein Geld mehr in der Kasse. Ibrahim und Garbis hielten sich ja in der Kirche auf. Also sah ich mich gezwungen, den Kadi zu informieren. Allerdings traf ich ihn in seinem Konak nicht selbst an. Gerade setzte ich zum Gehen an, als mich ein Mann in Dienstkleidung ansprach.

‚Ist der Kadi zu Hause?‘, wollte er von mir wissen.

Ich verneinte und sagte, dass auch ich nach dem Kadi suchte.

‚Haben Sie ein Anliegen? - Ich bin ein Naib‘, stellte der Mann sich vor. Er war also Stellvertreter des Kadi und war gekommen, um den Kadi nach einem neuen Auftrag zu fragen. Kurzerhand schilderte ich ihm den Fall in der Stiftung und er kam mit mir.

Der Hilfsrichter leitete eine Untersuchung ein und befragte mich in aller Ausführlichkeit. Kurz darauf stießen dann auch Ibrahim und Garbis zu uns, und der Hilfsrichter schickte mich weg. Als ich dann später wieder zurückkam, sagte man mir, die beiden seien auf Befehl des Naib zum weiteren Verhör an einen unbekannten Ort gebracht worden. Daraufhin bin ich sofort zum Amtszimmer des Kadis gelaufen, um mich nach ihnen zu erkundigen. Aber ich habe ihn nicht angetroffen. Und auch sonst konnte mir niemand dort etwas Genaueres sagen.“

„Das darf doch nicht wahr sein. Ich werde selbst dorthin gehen und solange vor seiner Tür auf ihn warten, bis er kommt und mir sagt, wo ich meinen Mann finde.“

„Gut. Ich werde dich begleiten, und dazu verständigen wir auch Halil Agha. Er genießt hohes Ansehen beim Kadi.“

Halil Agha, der in diesem Moment im Kaffeehaus von Sami weilte, war genauso schockiert wie seine Schwiegertochter, versäumte es aber nicht, ihr Mut zuzusprechen.

„Mach dir keine Sorgen, Afife. Wir werden schon nicht mit leeren Händen nach Hause gehen“, beschwichtige Halil Agha sie.

„Gott steh uns bei“, erwiderte Afife.

Wie sich zeigte, mussten sie sich länger gedulden als ihnen lieb war. Dann endlich kam der Kadi zurück und bat Salih Hodscha und Halil Agha in sein Amtszimmer. Afife wartete draußen vor der Tür, wie es die Umgangsformen verlangten.

„Euer Ehren, wir kommen wegen meines Sohnes Ibrahim und unseres Nachbarn Garbis“, sagte Halil Agha und berichtete dem Kadi kurz, was vorgefallen war.

„Der Hilfsrichter und zwei Soldaten haben sie weggebracht, und wir wissen nicht wohin“, bekräftigte Salih Hodscha.

„Der Hilfsrichter?“, wunderte sich der Kadi. „Seit einer Woche habe ich keine Dienste eines Hilfsrichters mehr in Anspruch genommen. Die wenigen Angelegenheiten, die ich zu regeln hatte, habe ich selbst erledigt. Das kann ich mir nicht erklären.“

„Was hat das zu bedeuten? Wo sind Garbis und mein Sohn jetzt?“, insistierte Halil Agha.

„Ich weiß es nicht, aber ich kümmere mich darum“, sagte der Kadi. „Vielleicht handelt es sich ja nur um ein Missverständnis. Ich benachrichtige Euch, sobald ich Näheres in Erfahrung gebracht habe. Dass Ibrahim etwas mit dem Verschwinden des Geldes zu tun hat, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

Als Halil Agha und Salih Hodscha das Amtszimmer des Kadis verließen, waren sie alles andere als beruhigt, aber mehr konnten sie im Moment nicht tun.

Afife genügte ein Blick in ihre Gesichter, um zu erkennen, dass ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt gewesen waren. Sie verzehrte sich fast vor Sorge, und nur sehr langsam gelang es ihr, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Hauptsorge galt ihren Kindern. Was sollte sie ihnen sagen, wenn sie wissen wollten, wo ihr Vater war?

Halil Agha bestärkte sie darin, ihnen vorerst nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das Beste würde sein, sie davon zu überzeugen, dass Ibrahim überraschend für einige Tage auf Dienstreise gehen musste; so kurzfristig, dass er sich nicht von ihnen hatte verabschieden können. Aber würden sie ihnen das auch glauben?

In der Tat überfiel Said seinen Großvater schon an der Haustür.

„Großvater, warum bin ich aus der Schule nach Hause geschickt worden? Und wo ist Vater, was ist mit ihm?“

„Vielleicht um dir zu ermöglichen, dich noch von ihm zu verabschieden. Jedenfalls musste er dringend für einige Tage verreisen - so lange, dass er nicht auf dich warten konnte. Das soll ich dir von ihm ausrichten“, verabschiedete sich Halil Agha sofort wieder mit schlechtem Gewissen ins Kaffeehaus.

Said wusste nicht recht, ob er sich mit dieser Erklärung zufriedengeben sollte, auch wenn seine Mutter sie bestätigte. Aber ihm blieb keine Wahl. Was ihn abgesehen davon aber auch sehr irritierte, war Betims Verhalten. Er tat fast so, als ginge ihn das alles gar nichts an, war mit seinen Gedanken ganz woanders und zeigte nicht das geringste Interesse. Warum nur?

Zwei Tage zwischen Hoffen und Bangen zerrten an ihren Nerven. Während das gesamte Viertel in Aufruhr um die beiden Verschollenen war, suchten Halil Agha und Salih Hodscha mehrmals täglich den Kadi in seinem Amtszimmer auf, doch zu dessen eigenem Leidwesen schaffte er es nicht, in Erfahrung zu bringen, wer Ibrahim und Garbis festhielt und wo sie sich befanden.

Die Kinder, allen voran Said und Destegül, waren entrüstet und hofften, dass ihrem Vater nichts zustieß. Betim dagegen wurde in diesen Tagen sehr ungeduldig, was Destegüls Augen nicht entging. Könnte er etwas mit diesem Eindringen in die Stiftung zu tun haben?, fragte sie sich. Als sie es ihrem Bruder erzählte, schwante auch Said nichts Gutes. Aber sicher waren sie sich in ihrer Vermutung nicht.

Am Morgen des dritten Tages kehrte Ibrahim zurück.

Die Kinder waren gerade in der Schule, als er sichtlich erschöpft und mitgenommen durch das Hoftor trat. Afife rannte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.

„O Ibrahim, wo bist du nur gewesen? Und was ist mit Garbis? Zwei Tage warst du fort, die mir vorkamen wie zwei Jahre.“

„Nachdem sie uns festgenommen hatten, wurden wir anschließend voneinander getrennt. Deshalb weiß ich nicht, wie es Garbis ergangen ist. Sie haben mich eingesperrt und an einem unbekannten Ort festgehalten, obwohl ich mir doch überhaupt nichts habe zuschulden kommen lassen. Sie haben mich beschuldigt, ein Dieb zu sein, ohne auch nur einen einzigen Beweis dafür zu haben.“

„Und was haben sie dort mit euch gemacht?“

Dieser Frage wäre Ibrahim gern ausgewichen, um seiner Frau keine Lügen auftischen zu müssen. Aber sie hatten keine Geheimnisse voreinander, also würde er ihr auch jetzt die Wahrheit sagen.

„Sie haben mich vernommen, gedemütigt, ja sogar geschlagen. Das Geld der Stiftung ist verschwunden, offenbar gestohlen worden. Und da sie mich verdächtigten, wollten sie ein Geständnis aus mir herauspressen und vor allem wissen, wo ich das Geld versteckt habe.“

„Geschlagen?“, stöhnte Afife auf. Schockiert drückte sie ihren Mann an sich und strich ihm übers Haar.

„Aber mein Liebster, wie konnten sie dir das antun? Haben wir denn keine Gesetze, die so etwas verbieten?“

„Doch, die haben wir und ich kenne sie. Ich selbst bringe sie meinen Studenten ja in der Medrese bei. Aber diese Leute waren ganz offensichtlich keine Staatsbeamten, sie standen nicht auf der Seite des Gesetzes. Immer wieder habe ich verlangt, unseren Kadi zu sprechen, aber dafür haben sie mich nur ausgelacht.“

„Aber wir haben mit dem Kadi gesprochen. Mehrmals. Schon am Tag deiner Verhaftung haben wir ihn aufgesucht. Er war selbst überrascht und versicherte uns, nichts von dieser Angelegenheit zu wissen. Schon gar nicht habe er sie einem Hilfsrichter übergeben.“

„Anscheinend gibt es in unserem Reich eine Gruppe, die die Staatsmacht zu unterwandern versucht. Das beobachte ich schon seit längerem. Und es würde mich nicht wundern, wenn sie auch die Ermittlungen in diesem Fall am Kadi vorbei an sich gerissen haben. Eine andere Erklärung fällt mir jedenfalls nicht ein.“

„Aber wer könnte denn dahinter stecken?“

„Jemand, der hinter dem Rücken der Staatsmacht alle Hebel in Bewegung setzt, um Einfluss zu gewinnen, und dafür dringend Geld braucht.“

„Gott behüte uns!“, sagte Afife. „Du musst gewaltigen Hunger haben, ich mache dir schnell etwas zu essen.“

„Nein, nein. Erst sehen wir nach, ob sie Garbis ebenfalls freigelassen haben.“

„Natürlich, Liebster, du hast Recht. Daran habe ich gar nicht gedacht.“

„Gott sei Dank, dass auch du zurück bist, Ibrahim. Kommt herein, Garbis wird sich freuen, euch zu sehen“, begrüßte Tamar sie erleichtert. Im Wohnzimmer umarmten sich die beiden Männer und die beiden Frauen. Garbis berichtete Ibrahim und Afife, dass sie ihn ebenfalls geschlagen und permanent vernommen hatten.

„Es war ein einziger Albtraum, und ich bin mir nicht sicher, ob ich auch wirklich schon daraus erwacht bin“, resümierte Garbis, und Ibrahim konnte sehr gut nachvollziehen, was er damit meinte.

Afife und Tamar erzählten ihren Männern, dass sich viele Bewohner des Viertels große Sorgen um sie gemacht hatten. Trotz der Gerüchte um das Verschwinden der Stiftungsgelder hatte offenbar niemand auch nur eine Sekunde lang an ihrer Aufrichtigkeit gezweifelt.

Während Afife und Tamar die Frauen über ihre Freilassung informieren wollten, beschlossen Ibrahim und Garbis, ins Kaffeehaus zu gehen, um ihre Freunde zu beruhigen. Dort scharten sich sofort sämtliche Gäste um sie und stellten ihnen jede Menge Fragen, die die beiden ihnen geduldig beantworteten. Allerdings verzichteten sie hier darauf, von den Demütigungen zu berichten, denen sie während der Vernehmungen ausgesetzt gewesen waren. Halil Agha weinte vor Glück, seinen Sohn wohlbehalten wiederzusehen, und alle Anwesenden empörten sich lautstark über das vermeintliche Missverständnis und die Amtsanmaßung durch den Hilfsrichter.

Wieder zu Hause angekommen freuten sich auch Said und Destegül, dass ihr Vater schneller als erwartet von seiner Dienstreise zurückgekehrt war. Sie schärften ihm ein, sich das nächste Mal wenigstens von ihnen zu verabschieden, und Ibrahim versprach es ihnen.

Einzig Betim zeigte wieder einmal kaum Anteilnahme. Auf Said wirkte er mittlerweile wie ein Fremdkörper in ihrer Familie. Hinzu kam, dass er auch Mersed immer mehr für sich vereinnahmte. Said fühlte sich ausgeschlossen. Sie hatten Geheimnisse, in die sie ihn nicht einweihten, und mieden seine Gesellschaft. Immer öfter sonderten sie sich ab. Und diese Entwicklung gefiel Said ganz und gar nicht.

Drei Tage später erzählte Ibrahim nach dem Abendessen eine Geschichte des großen altpersischen Poeten Sadi. In der Mittelhalle um den Ofen herum versammelte sich die Familie. Ibrahim und Halil Agha nahmen auf dem Diwan Platz, während sich Said und Destegül mit ihrer Mutter um den Ofen kauerten.

„Als Schah Nuschirewan mit seinem Gefolge durch sein Land zog, verirrten sie sich in eine Berggegend, die so einsam war, dass man selbst die armseligen Hütten der Schafhirten vergebens suchte. Der Koch des Königs lamentierte: ‚Erhabener Schah, meine Aufgabe ist es, Euren Gaumen zu erfreuen. Nur findet sich im Küchenzelt nicht einmal das winzigste Körnchen Salz, sodass jede Speise fad schmecken würde. Was also soll ich tun, erhabener Schah?‘ Nuschirewan antwortete: ‚Geh zurück in das nächstgelegene Dorf. Dort findest du einen Händler, der Salz verkauft. Aber achte darauf, dass du den üblichen Preis bezahlst, nicht mehr.‘ ‚Erhabener Schah‘, antwortete der Koch, ‚in Euren Truhen lagert mehr Gold als irgendwo sonst in der Welt. Was würde es Euch da schaden, wenn ich das Salz ein bisschen teurer erstehe?‘ Der König blickte ihn ernst an und sagte: ‚Es sind Kleinigkeiten, aus denen sich die großen Ungerechtigkeiten der Welt entwickeln. Kleinigkeiten sind wie Tropfen, die mit der Zeit zu einem großen See anschwellen. Die großen Ungerechtigkeiten der Welt nehmen in Kleinigkeiten ihren Anfang. Geh also los, und kauf das Salz zum üblichen Preis.‘“

Ibrahim hielt kurz inne und Afife wartete gespannt, ob Ibrahim die Moral dieser Geschichte noch ergänzen und auf die Ereignisse der letzten Tage eingehen würde. Denn er hatte mit ihr drei Tage lang über eine wichtige Veränderung in ihrem Leben gesprochen. Was wohl die Kinder und sein Vater dazu sagen würden?

„Warum erzähle ich euch diese Geschichte?“, fuhr er fort und beantwortete sich die Frage selber: „Gerechtigkeit ist eine hohe Tugend. Sie steht jedem Lehrer gut zu Gesicht, der seine Schüler bewertet. Und sie steht jedem Kadi gut zu Gesicht, der seine Urteile spricht. Am besten aber steht sie Sultanen zu Gesicht, die über ihre Untertanen herrschen. Bedauerlicherweise kommt es mir so vor, als würde diese Tugend in letzter Zeit immer mehr an Boden verlieren. Manche Menschen in unserem Reich handeln nach eigenem Gutdünken und scheuen nicht davor zurück, großes Unrecht zu begehen.

Unser Sultan bemüht sich nach Kräften, allen seinen Untertanen Gerechtigkeit zu garantieren. Doch seine Macht, sie auch durchzusetzen, ist begrenzt. Dadurch besteht die Gefahr, dass sich hierzulande Kleinigkeiten zu großen Ungerechtigkeiten auswachsen. Was wir bräuchten, sind aufrichtige und uneigennützige Menschen, die sich ganz in den Dienst an der Gerechtigkeit stellen.“

„Richtig, mein Sohn“, pflichtete Halil Agha ihm bei.

„Und damit komme ich zu einem Entschluss, den ich mit Afife nach langem Überlegen in den letzten drei Tagen gefasst habe. Ich werde mich beim Kadi um die Stelle eines Hilfsrichters, eines Naib, bewerben.“

Was er seinen Kindern jedoch vorerst nicht verriet, war, dass dieses Amt eine Ausbildung erforderte, die in einer entlegeneren Provinz des Osmanischen Reichs, zum Beispiel auf dem Balkan, absolviert werden musste. Und diese Ausbildung dauerte in der Regel drei bis vier Jahre. Sein Vater dagegen hatte sofort verstanden, dass sein Sohn jahrelang abwesend sein würde, als er den Brief gelesen hatte. Er machte ein sehr betrübtes Gesicht, als Ibrahim seine Entscheidung in der Runde verkündete, und setzte zu einem Protest an. Doch ihm ging den Nutzen eines solchen Dienstes durch den Kopf, der so wichtig für das Reich war, und schwieg sodann.

„Hast du die Entscheidung während deiner Dienstreise getroffen?“ wollte Destegül von ihrem Vater wissen.

„Nein, meine Liebe.“ Ibrahim hatte sich vorgenommen, die Wahrheit in die Gesichter seiner Kinder auszusprechen. Auch wenn es sie schmerzen würde, wollte er von ihnen nichts verheimlichen. „Nicht die Dienstreise, sondern eine tagelange Vernehmung war der Grund meiner Abwesenheit.“

Said riss erstaunt seine Augen weit auf. „Eine Vernehmung? Hast du etwas angerichtet?“

„Nein, Said. Ein Missverständnis. Aber es ist wieder gut.“ bändigte Ibrahim das Erstaunen seiner Kinder.

„Aber was wurde denn missverstanden?“ hakte Destegül nach. Betim war gereizt, während dieses Thema besprochen wurde. Irgendwie und irgendwann würde man ihm schon auf die Spur kommen, dachte er sich. Er versuchte sein Zappeln zu dämpfen.

„Die Stiftung wurde ausgeraubt. Das ganze Geld wurde aus der Holzschatulle entwendet. Mich und Garbis hat ein Hilfsrichter, der nicht einmal dafür beauftragt wurde, verhört und zu den Tätern erklärt.“

„Nein. Wer wagt es, in die Stiftung einzudringen und wie kann man dich beschuldigen?“, fragte Destegül.

„Das weiß ich nicht, mein Kind“, entgegnete ihr Ibrahim. Betim nahm sich vor, ins Nebenzimmer zu gehen, um seinen inneren Aufruhr nicht zu zeigen. Ließ es jedoch sein, um keinen Verdacht zu erregen. Er tat sich schwer, ruhig zu bleiben.

„Als Müderris verdiene ich zwar mit sechzig Akçe pro Tag einigermaßen gut, aber wenn die Gerechtigkeit abhandenkommt, bringen mir die auch nicht viel. Dann werden sie sich genauso schnell in Luft auflösen wie jetzt die Ersparnisse der Stiftung.“

„Wie viel Geld ist denn weggekommen?“

„Eine Summe, für die ich ungefähr drei Jahre arbeiten müsste.“

Said sah ihn mit großen Augen an, während Betim zu Boden starrte. Um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, sagte er:

„So viel Geld werde ich wohl meinen Lebtag lang nicht zu Gesicht bekommen. Oder was verdient ein Janitschar, Halil Agha?“

„Wenn du es bis zum Agha bringst, so wie ich, vierhundertfünfzig Akçe pro Tag“, klärte Halil Agha ihn auf.

„Immerhin viel mehr als ein Müderris“, konstatierte Betim, woraufhin Ibrahim ihn umgehend zurechtwies:

„Nicht was du verdienst, ist wichtig, Betim, sondern was du dafür leistest. Wenn mir meine Studenten für das Wissen, das ich ihnen vermittle, dankbar sind, nehme ich dafür gern die größten Mühen in Kauf. Ihre Dankbarkeit ist mir mehr wert als alles Geld, das ich verdiene.“

Betim nickte kurz, als würde er zustimmen. In Wirklichkeit aber war ihm diese Einstellung ein Graus. Was interessiert mich die Dankbarkeit der Leute, dachte er sich, lieber werde ich reich. Leere Worte machen mich nicht satt, Geld dagegen schon.

„Und wie soll es jetzt mit der Stiftung weitergehen, mein Sohn?“, kam Halil Agha noch einmal auf den Diebstahl zurück. „Das Geld wird euch doch an allen Ecken und Enden fehlen.“

„Ja, sicherlich. Aber vor gar nicht allzu langer Zeit standen wir schon einmal vor dem Aus. Mit der Unterstützung unseres Schöpfers und aller Bewohner unseres Viertels werden wir es auch diesmal wieder schaffen. Zum Glück vertrauen uns die Menschen ja anscheinend noch. Außerdem habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Diebe noch gefasst und bestraft werden. Das Geld gehört der Allgemeinheit. Auch wenn die Viertelbewohner uns ihr Vertrauen schenken, möchte jeder im Viertel, dass das Geld wiedergefunden wird. “

„Möge Gott es euch vergelten, mein Sohn. Ich werde euch immer mit Rat und Tat zur Seite stehen.“

„Danke Vater. Das habe ich gehofft. Wir Osmanen halten zusammen, wir lassen die Armen und Bedürftigen nicht allein.“

Nachdem Afife den Kindern die Betten gerichtet hatte, dauerte es nicht lange, bis Betim und Destegül eingeschlafen waren. Said hingegen lag noch lange wach. Die Frage, wer hinter der Verurteilung seines Vaters steckte und wie es mit der Stiftung weitergehen sollte, trieb ihn um. Und dann war da auch noch das Schnarchen seines Großvaters im Nebenzimmer. Doch nach einer Weile fielen auch ihm die Augen zu.

Machtkampf am Bosporus

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