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Kapitel 9

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An einem sonnigen Vormittag bediente ein ordentlich angezogener Beamter den großen Türklopfer am Tor des Konaks von Ibrahim. Halil Agha lugte aus dem Fenster und erkannte den Beamten. Es war ein Bote im Staatsdienst. Er stieg die Treppe hinunter und machte die Tür auf.

„Ja, bitte mein Herr?“, grüßte Halil Agha den Beamten.

„Hier ein Schreiben vom Kadi von Galata, Herr“, sagte der Beamte und reichte Halil Agha eine Schriftrolle.

„Danke mein Herr“, sagte Halil Agha und schloss die Tür wieder zu. Unverzüglich rollte er die Schriftrolle auf und las:

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.

Verehrter Müderris, Ibrahim Efendi. Nach meinen Erkundungen über den Naib, der Sie und Garbis Efendi vor einiger Zeit verhörte, und wie Sie sich äußerten, auch folterte, habe ich meine Ermittlungen abgeschlossen. Es ist erwiesen, dass die Person, die sich als Naib ausgab, in Wirklichkeit ein Schwindler war, der auch in anderen Vierteln ähnliche Rechtswidrigkeiten begangen haben soll. Er handele bereits seit Jahren im Namen unseres Reiches und des Sultans. Vor zwei Tagen soll er im Stadtteil Eyüp bei der Versiegelung eines Scheidungsaktes aufgespürt und festgenommen worden sein.

Des Weiteren möchte ich Ihnen die erfreuliche Nachricht übermitteln, dass Ihr Antrag zum Amt des Naibs vom Kadi von Istanbul (auch Bürgermeister) bewilligt worden ist. Sie können in den nächsten Wochen ihren Lehrstuhl an der Hochschule abgeben und sich für den Einführungsdienst vorbereiten. Über den Bezirk, in dem Sie eingesetzt werden, bekommen Sie in den nächsten Wochen ein weiteres Schreiben von mir. Der Palast wird erst seine Entscheidung treffen müssen.

Hochachtungsvoll

Kadi von Galata

Das Schreiben erzeugte bei Halil Agha ein mulmiges Gefühl. Er freute sich zum einen über das Richteramt seines Sohnes, zum anderen suchte er Trost für dessen Abwesenheit. Er wusste, was eine Einführung in dieses Amt bedeutete. Der Balkan oder der Nahe Osten würde die neue Heimat seines Sohnes sein. Erst nach vier Jahren sollte er wieder in die Hauptstadt zurückbeordert werden, jedoch aus dem Grund, ihn in anderen Provinzen und Bezirken einzusetzen. Für Afife und die Kinder würde es keine einfache Entscheidung sein. Doch für das Wohl der Allgemeinheit opferte sein Sohn sich und seine Familie. Sollte er als Vater ihn doch noch überreden und ihn von dieser Entscheidung abbringen? Er wusste es nicht. Er wusste aber, dass er seiner Schwiegertochter nichts von dieser Zustimmung erzählen würde. Er erzählte ihr nur vom ersten Teil des Schreibens über den falschen Naib. Den Rest wollte er später beim Abendessen im Konak von Adil Bey ansprechen.

***

Adil Bey, der sich mit dreiunddreißig Jahren sechs Sprachen bediente, schleppte sich nachmittags erschöpft nach Hause. Die Länder, mit denen das Osmanische Reich kurz vor einem Krieg stand, sandten ihre Botschafter an die Hohe Pforte, um diplomatische Gespräche zu führen. Sie waren auf die Übersetzungen Adil Beys im Diwan des Sultans angewiesen. Ihr Reich war an einem Krieg genauso wenig interessiert, weil das Militär in den letzten Jahren sehr undiszipliniert wirkte und auch die Waffen, die sie im Krieg einsetzten, veraltet waren.

An Fasttagen wie diesem machte die Diplomatie keine Ausnahme, und Adil Bey war an diesem Tag wieder knapp zum Abendessen erschienen, zu dem Ibrahim und seine Familie eingeladen waren.

Das Schreiben des Kadis in seinen Saum gesteckt, berichtete Halil Agha über dessen Inhalt. Er verkündete zunächst den ersten Teil des Schreibens und verschwieg den Rest, den er lieber nach dem Essen ansprechen wollte.

„Das ist sehr erfreulich, dass so ein Schwindler gefasst ist“, bemerkte Adil Bey. Auch Nadire und Afife bekundeten ihre Freude. Nach dem Essen machten sie es sich auf dem Diwan in der Mittelhalle gemütlich, die ähnlich wie im Konak Ibrahims ausgestattet war, und genossen heißen Kaffee. Mit sichtbarer Besorgnis im Gesicht schnitt Halil Agha das zweite Thema an und sprach von der Bewilligung des Antrages seines Sohnes.

„Das ist ja herrlich, Vater“, freute sich Ibrahim, ohne die Reaktion der anderen abzuwarten. Er dachte, Afife würde sich auch freuen, dass er ein neues, zudem höheres Amt bekleiden würde als jetzt. Adil Bey meldete sich zu Wort

„Aber für die Einführungsphase musst du doch vier Jahre in einem anderen Bezirk verbringen.“

„In der Tat. Aber das muss ich in Kauf nehmen“, entgegnete ihm Ibrahim.

„Musst du das unbedingt?“, fragten Said und Destegül ihren Vater voller Wehmut.

„Ja Kinder, für das Wohl unserer Gesellschaft“, sagte Ibrahim.

„Uns geht es doch gut. Haben wir etwas zu beklagen, dass du für vier Jahre fortgehen musst?“, fragte Said sodann.

„Denk doch an die Schwindler, die den Staat unterwandern und im Namen des Staates handeln. Was wird aus dem Rechtswesen, wenn wir seriöse Menschen nichts für dessen Aufrechterhaltung tun?“, wollte Ibrahim wissen.

„Ja ja, Bruder, der Naib ist zwar ein Beispiel dafür, aber denk doch mal an deine Familie. Du hast zwei Kinder“, protestierte Adil Bey erneut.

„Ich tue es für meine Familie, Bruder.“

„Wie denn, wenn du doch fortgehst?“

„Neulich habe ich von der Gerechtigkeit erzählt. Und dass diese das größte Gemeingut ist. Warum heißt der höchste Turm des Topkapi-Palastes ‚Turm der Gerechtigkeit‘? Weil die Gerechtigkeit das höchste Gut in unserem Land ist. Nehmen wir mal an, nicht nur der Naib, sondern der Kadi von Galata wäre auch so ein Schwindler. Glaubt ihr, dass Said und Destegül ihren Vater in zwei Tagen wiedersehen würden?“, fragte Ibrahim und fuhr fort:

„Wo kämen wir hin, wenn sogar der Kadi von Istanbul, ja sogar die Wesire und der Sultan nicht Gerechtigkeit walten lassen würden? Was würde aus Said und Destegül? - Es gibt Tausende von Saids, Destegüls, Merseds, Hayrunnisas und Dilrubas in unserem Land, die alle danach streben, dass ihren Eltern und ihnen selbst kein Unrecht angetan wird. Dafür muss sich jemand opfern und die vier Jahre in Kauf nehmen. Wer, wenn nicht ich, könnte so ein Amt bekleiden? Ich besitze die Grundlagen und muss euch nur für vier Jahre verlassen.“

„Ich hatte ja von Anfang an nichts gegen deinen neuen Dienst, Ibrahim Efendi“, mischte sich Betim ein. „Außerdem ist der Balkan kein schlechter Ort. Ich komme aus der Gegend. Es ist genauso wie hier.“

Ibrahims Predigt ließ die Familie umdenken, und so stimmten sie seiner Entscheidung, wenn auch misstrauisch, zu. Nur Afife ging an diesem Abend mit gemischten Gefühlen in die Moschee, um das Nachtgebet mit den anderen zu verrichten.

Der Marktplatz tobte an diesen Tagen. Die kostümierten Volksschauspieler und Meddahs amüsierten die Kinder nachmittags mit ihren lustigen Vorführungen. Die Passanten hatten ebenfalls teil an diesen Attraktionen. Während Said mit Eleftheria und Hagop den Schauspielen zusah, lud Ibrahim die Männer des Viertels ins Kaffehaus ein, um ihnen von seiner Entscheidung zu berichten. Neben Sami als Besitzer saßen Garbis, Lisias, David, Hüseyin und Salih Hodscha auf Schemeln und hörten Ibrahim gespannt zu. Emrullah, der für das abendliche Fastenmahl seiner Kundschaft mit frischen Fodlas nachkommen musste, war der einzige, der fehlte. Die Nichtmuslime tranken an Ramadantagen aus Respekt gegenüber ihren muslimischen Nachbarn nie öffentlich einen Kaffee oder verzehrten Nahrung. Ähnlich ging es ihnen an Ostern: Wenn viele Christen fasteten, aßen und tranken die Muslime heimlich.

„In deinem Namen freue ich mich über diese Einwilligung, Ibrahim. Aber wird es nicht schwer für deine Familie sein?“, fragte Garbis.

„Schon. Aber ich lasse meinen Vater als Familienoberhaupt zurück. So kann ich unbesorgt in den Balkan ziehen“, antwortete Ibrahim.

„Vier Jahre ohne Ibrahim. Womit hat unser Viertel das verdient?“, fragte David.

„Mein lieber Freund David. Du weißt es am besten zu schätzen. Schließlich studiert dein Sohn Elias im Ausland für das Rabbineramt. Balkan ist ja kein Ausland. Es gehört zu unserem Reich“, hielt ihm Ibrahim entgegen.

Elias, der inzwischen vierundzwanzigjährige Sohn des reichen Geschäftsmannes, legte in Amsterdam sein Studium ab. Die Familie gehörte den sephardischen Juden an, deren Vorfahren von der iberischen Halbinsel geflüchtet waren und bis vor kurzem im Viertel Dschibali am anderen Ufer des Goldenen Hornes gelebt hatten, bis es einem Großbrand zum Opfer gefallen war.

„Mein Schicksal ist seinem ähnlich, David. Er wird bald von seinem Studium zurückkehren, und ich nehme einen ähnlichen Ferndienst auf. Ich werde als künftiger Kadi das Recht nach der Scharia aussprechen und er wird als Chacham nach dem Halacha richten. Sowohl Scharia als auch Halacha entsprangen den heiligen Büchern der monotheistischen Religionen, die auf Allah oder Jachwe zurückgehen“, erläuterte Ibrahim.

„Du hast es auf den Punkt gebracht, Ibrahim“, sagte David und bedankte sich.

Die Gespräche erstreckten sich bis in die Abendstunden. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang verließen alle das Kaffeehaus und begaben sich auf den Heimweg.

Für Said blieben noch zehn Tage, bis sein Vater sich von ihm verabschieden sollte. Die restlichen Ramadantage und die Festtage im Anschluss wollte er jede Sekunde mit ihm verbringen. Eleftheria, mit der Said inzwischen viel Zeit verbrachte, vermisste ihn. Aber sie wäre ja nach dem Abschied von seinem Vater immer bei ihm. An Ibrahims letztem Diensttag an der Hochschule bekam Said sogar die Erlaubnis von Salih Hodscha, die Schule ausfallen zu lassen, um mit seinem Vater einen ganzen Tag zu verbringen. Salih Hodscha vertraute auf die Intelligenz seines Schülers, den versäumten Stoff schnell nachholen zu können. Er wurde Zeuge der Hingabe der Studenten seinem Vater gegenüber, die ihm bedauernd alles Gute wünschten. Einige Studenten winkten beim Abschied von der Hochschule tränenüberströmt ihrem Müderris nach, und Saids Vater drehte sich immer wieder um und blickte zu den wehmütigen Studenten zurück.

Sie durchquerten das Goldene Horn mit einer Gondel und erreichten den Hafen von Karaköy. Said bat seinen Vater, mit ihm auf den Basar zu gehen, um David zu besuchen. Der Jude mochte Said genauso wie sein Vater, und ein Schachspiel würde er bestimmt nicht ablehnen.

„Hallo David“, grüßte Ibrahim den Schmuckwarenhändler an der Schwelle seines Ladens auf dem Basar.

„Hallo mein Freund, hallo Said“, grüßte er zurück.

„Wir sind auf dem Weg nach Hause und wollten dir einen Besuch abstatten, wenn du Zeit hast“, äußerte Ibrahim den Wunsch seines Sohnes.

„Seid willkommen. Für euch habe ich immer Zeit“, strahlte David.

„Morgen feiern wir unser Ramadanfest, David. Ein Grund zur Freude. Aber in vier Tagen wird sich diese Freude für mich und meine Familie in Trauer verwandeln“, sagte Ibrahim.

„Niemand kann an die Stelle eines Vaters treten“, sagte David, „aber für Said und Destegül bin ich auch ein Vater. Ich hoffe, sie sehen mich so. Außerdem haben wir Garbis, Lisias, Sami, Hüseyin und die anderen, die deine Abwesenheit nie spüren lassen werden. Dafür sind doch Freunde da, Ibrahim.“

Für diese freundliche Geste bedankte sich Ibrahim und war den Tränen nah. Nach zwei Partien mit David, die er beide verlor, verließen Said und sein Vater Davids Geschäft und gingen nach Hause.

Der erste Tag des Ramadanfests begann mit dem morgendlichen Gebet in der Ali-Efendi-Moschee, an dem Salih Hodscha eine rührende Predigt hielt. Seine Rede war euphorisch und betrüblich zugleich. Er wies auf die großen Ziele der Menschen in ihrem Leben hin, für die sie ihre Liebsten opferten.

„Prophet Mohammed verließ seine Geburtsstadt Mekka und floh vor den Gräueltaten und Angriffen der Polytheisten der Kuraisch, um seine Mission in Medina zu erfüllen. Auch Moses floh aus der ägyptischen Knechtschaft und nahm die Israeliten ins Gelobte Land mit, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Seit Adam und Eva gab es immer die Guten und die Bösen. Der Kampf zwischen Gut und Böse sollte mit dem Sieg der Guten enden. Dafür mussten die Guten immer etwas opfern.“

An dieser Stelle brachte Salih Hodscha das Wort auf Ibrahim.

„Auch unser hochgeachteter Nachbar Ibrahim verlässt in drei Tagen unser Viertel und zieht auf den Balkan. Er hat dafür einen wichtigen Beweggrund, denn unser Reich ist nicht mehr so stark wie früher. Damit meine ich nicht nur die militärische Macht, sondern auch die zivile. Die Jurisprudenz und die Exekutive werden leider von Menschen geleitet, die ihrer Ämter nicht würdig sind. Wir brauchen wahrhaftige und aufrichtige Menschen, die diese Ämter bekleiden. Ibrahim Efendi hat diese Tatsache erkannt und sich entschlossen, den Beruf des Naibs und später die des Kadis auszuüben. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass er es bis zum Kadi bringt.“

Bei diesen Worten suchten die Augen der Gläubigen Ibrahim und richteten ihre Blicke auf ihn. Said, der neben seinem Vater kauerte, war stolz und gleichzeitig gerührt von dieser Rede seines Hodschas.

Nach dem Gebet versuchte Ibrahim, sich an der Schwelle des Moscheetores einen Weg durch die Menge zu bahnen. Said führte er an der Hand. Er mochte es nicht, bejubelt zu werden. Er entschied sich für ein Amt, für das Bescheidenheit gefragt war. Trotzdem nahm er die Glück- und Abschiedswünsche an und begab sich mit seinem Bruder und dessen Sohn Mersed nach Hause. Halil Agha unterhielt sich noch mit einigen Altersgenossen und kam hinterher.

Afife und Destegül bereiteten das Festmahl in der Mittelhalle, zu dem auch Adil Bey und seine Familie eingeladen waren. Auch er gönnte sich an diesem Festtag einen entspannten Tag ohne diplomatische Übersetzungen im Palast, die ihn zu sehr belasteten.

„Guten Morgen“, grüßte Said seine Mutter und Schwester und umarmte beide. Auch die nichtmuslimischen Bürger bekamen an den ersten Festtagen der Muslime frei, und so blieb auch Betim zu Hause und wartete, bis die Männer aus der Moschee kamen.

„Mama, nach dem Essen werden wir keine Zeit verlieren und gleich aufbrechen. Die Süßigkeiten warten schon auf uns“, freute sich Said.

Traditionell zogen die Kinder an Festtagen von Haus zu Haus und bekamen süße Plätzchen, die sie mit Freude vernaschten.

„Je mehr Konaks wir besuchen, umso mehr Plätzchen bekommen wir. Letztes Jahr haben wir es bis zwanzig geschafft. Diesmal werden es bestimmt fünfundzwanzig“, protzte Mersed.

„Nehmt Betim auch mit. Er braucht auch mal ein Vergnügen“, sagte Afife.

Für Said war es inzwischen zu einer Last geworden, mit Betim etwas zu unternehmen. Er fand keinen Gefallen an seiner Gesellschaft, weil sich Betim stets danebenbenahm und immer Anlass zum Ärger gab.

„Na gut, Mama“, lenkte er widerwillig ein.

Said, Betim und Mersed brachen gleich nach dem Essen auf und warteten nicht auf die Mädchen. Sollten sie doch getrennt bummeln, dachte sich Mersed, und begründete es mit der Ausrede, dass bei dem Anmarsch von sieben Kindern zu viel Rummel entstand. Said bestimmte die Route, die sie einschlugen, und begann im Konak von Lisias. Denn mit Eleftheria verstand er sich am besten, und auch Daphne empfing ihn immer sehr herzlich.

„Unseren zweiten Haltpunkt möchte ich gar nicht wissen“, motzte Betim.

„Der Konak von Garbis natürlich“, antwortete Mersed höhnisch.

„Ja warum wohl?“, moserte Betim herum.

„Weil Hagop der zweitbeste Freund von Said ist. Ist das nicht verständlich?“, nörgelte Mersed.

Betims Haltung konnte Said verstehen. Er war von Natur aus ein Launenverderber. Doch Betim übte einen schlechten Einfluss auf Mersed aus, mit dem sich Said eigentlich besser verstand. Mersed begann das gleiche Wesen anzunehmen wie er und wurde allmählich zu einem Heuchler, dem man nie etwas anvertrauen konnte.

Zu Hause angekommen, präsentierte Said stolz seine Plätzchen, denn an diesem Tag hatte er es mit seinen beiden Weggenossen tatsächlich auf fünfundzwanzig Häuser gebracht. Auch die Mädchen hatten es geschafft, fünfundzwanzig Konaks zu besuchen, und zogen mit den Jungen gleich.

„Na Schwesterherz“, sagte Mersed zu Destegül „ihr wart ja auch sehr fleißig.“

„Was denkst du denn? Oder hast du uns unterschätzt?“, bohrte Destegül nach.

„O nein, Gott bewahre. Ich würde mein Schwesterherz doch nie unterschätzen“, schmeichelte Mersed bei Destegül.

„Was ist mit uns? Sind wir nicht deine Schwestern?“, fragte Hayrunnisa.

„Doch doch, aber nur meine Schwestern. Destegül hingegen ist mein Schwesterherz“, sagte er und legte die Betonung auf das Herz.

Drei Tage später, an einem Dienstag, kam dann der Abschied von Ibrahim. Die Viertelbewohner versammelten sich auf dem Marktplatz und warteten auf Ibrahim und seine Familie, um ihm Lebewohl zu sagen. Said war an diesem Tag nicht zu bändigen, und kein Trostspruch linderte den Schmerz in seinem Herzen. Er sollte vier lange Jahre ohne seinen Vater auskommen. Wie würde es seine Mutter verkraften, ohne ihren Lebensgefährten? Und Destegül, die allmählich zu einer jungen Frau heranwuchs? Gerade in diesem Alter brauchte sie doch die Fürsorge und Unterstützung ihres Vaters.

Nachdem sich viele Menschen von Ibrahim verabschiedet hatten, näherten sich Garbis und David ihrem treuen und geschätzten Nachbarn. Auch Lisias schloss sich ihnen an und kam auf ihn zu. Sogar der vielbeschäftigte Bäcker Emrullah ließ seinen Steinofen abkühlen, um diese Abschiedszeremonie nicht zu verpassen.

„Gott gebe dir Kraft.“

„Denk immer an uns und schreib immer wieder.“

„Mach dir keine Sorgen um deine Familie.“

Es hallten Abschiedswünsche und -sprüche auf dem Platz, und jeder beteiligte sich an dieser rührenden Szene.

Said, umgeben von Eleftheria und Hagop, dachte an die vier Jahre und rechnete aus, dass er seinen Vater erst mit sechzehn Jahren wiedersehen würde. Bis dahin würde er die Schule abschließen und sich in die Rekrutenkorps der Janitscharen einschreiben lassen. Auch seine Freunde Eleftheria und Hagop würden in ihren Schulen ein Abschlusszeugnis erhalten. Was aus Mersed und Betim werden sollte, interessierte ihn weniger. Sie waren für ihn Faulpelze, die nur an Unfug dachten. Aber Stavros, der kleine Bruder von Eleftheria, den er besonders schätzte, würde in der Schule vorankommen. Diese Gedanken wischten die Besorgnis in Said weg. Schließlich waren ja noch seine und die Familie seines Onkels da. Nicht zuletzt ließen ihn auch die anderen im Viertel seinen Kummer schnell vergessen. Garbis, Lisias, David, Sami, Hüseyin und all die anderen. Sie waren eine Familie. Sogar eine sehr große Familie. Wozu diente eigentlich ein Wohnviertel, wenn die Menschen nicht in guten wie schlechten Zeiten füreinander da waren? Er würde seinen Vater vermissen, aber die große Familie, die hinter ihm stand, würde ihn jederzeit auffangen.

Machtkampf am Bosporus

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