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Kapitel 2
ОглавлениеArgos Orestiko, Südalbanien
In Begleitung des Provinzgouverneurs, eines Schreibers und einiger Soldaten bereiste der Yayabaschi die Dörfer am Südufer des Kastoria-Sees und am Oberlauf des Flusses Aliakmonas. Der höhere Offizier der Osmanen suchte nach geeigneten Knaben für die Sultanstruppen, die dann nach Istanbul entsandt werden und dort eine gründliche Ausbildung von Körper und Geist erhalten sollten. Bei diesem Unterfangen hatte er die strengen Vorschriften der Knabenlese zu befolgen und durfte nur christliche Kinder rekrutieren. Einzelkinder, Muslime, Türken, Vollwaise und Kinder ohne rechtmäßigen Leumund waren tabu.
Am heutigen Tag gehörte auch der orthodoxe Priester des Bezirks Orestiko zum Gefolge des Yayabaschi. Unter seinem rechten Arm klemmte das Taufregister, mit dem er bei Bedarf schnell nachweisen konnte, dass die ausgewählten Kinder auch tatsächlich Christen waren. Denn nicht selten kam es vor, dass eigentlich von der Knabenlese ausgeschlossene Familien gefälschte Papiere vorlegten, um ihren Kindern eine vielversprechende Karriere zu ermöglichen.
Der Priester führte den Beamten und seine Begleiter zu der Familie, deren ältesten Sohn der Yayabaschi bei einem früheren Besuch bereits ausgewählt hatte. Sie klopften an die ausgediente Tür einer von Olivenbäumen umrankten Holzstube. Dort, am Rande der Ortschaft nahe dem Fluss, lebte die alte Jetmira mit ihrem Sohn und ihren drei kleinen Enkelkindern in ärmlichen Verhältnissen.
Der Verkauf ihrer Oliven auf dem Wochenmarkt sicherte ihnen wenigstens einen bescheidenen Unterhalt. Vor einem Jahr hatten die Kinder bei einer Schießerei im Dorf ihre Mutter verloren. Zwei rivalisierende Gruppen waren aufeinander losgegangen, und eine verirrte Kugel hatte die Frau tödlich verletzt.
Kreischend öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand die alte Dame in ihrer traditionellen Tracht, einem langen, weißen Hemd, darüber ein Filzmantel und eine Futa genannte Schürze. Während ihre Kleider noch einen relativ gepflegten Eindruck hinterließen, verrieten die Opanken an ihren Füßen, dass dies schon seit längerer Zeit ihr einziges Schuhwerk war. Hinter ihr tauchte ein Mann Mitte Dreißig auf. Er trug eine Dollama, den langen Filzmantel der albanischen Bauern, dazu Gamaschen und eine Schärpe.
Trotz seiner jungen Jahre war sein Gesicht mit tiefen Furchen durchsetzt, die im Zusammenspiel mit seinem ergrauten Haar von dem harten Schicksal erzählten, das ihn in den vergangenen Jahren ereilt hatte. Er wirkte fast genauso alt wie seine Mutter, die neben ihm stand. Sofort rief er seinen ältesten Sohn zu sich und stellte ihn dem Beamten vor. Der Yayabaschi fragte den Jungen:
„Wie heißt du mein Junge?“
„Betim.“
„Dem Taufregister nach zu urteilen, bist du schon acht Jahre alt und damit alt genug für eine Rekrutierung.“
Zweifelnd wanderte sein Blick zum Vater des Kindes, und er fügte in ernsterem Tonfall hinzu:
„Aber auch wenn du erst sieben wärest, hätten wir dich mitgenommen. Denn einem neuen Erlass zufolge spielt das Alter ab jetzt keine Rolle mehr. Das Reich braucht dringend vertrauenswürdige und treue Soldaten, die bereit sind zu kämpfen, anstatt sich in erster Linie Gedanken um ihre persönlichen Rechte zu machen. Dazu wollen wir dich erziehen.“
Damit spielte er auf die schwierige Lage an, in der sich das militärische System befand. Seit längerem schon führten viele einfache Soldaten und besonders die Janitscharen ein eher ziviles als militärisches Leben, was aus der einstmaligen Elitetruppe eine Horde von Müßiggängern zu machen drohte.
Betims Vater war wegen der anstehenden Trennung von seinem Erstgeborenen so tief berührt, dass er seine Tränen nicht verbergen konnte. Andererseits jedoch stolzierte er seit Tagen schon mit geschwellter Brust durch die Gegend, weil seinem Sohn eine beneidenswerte Karriere im Sultanspalast winkte -die Chance auf einen Aufstieg in die höchsten zivilen und militärischen Ränge im Reich. Wie würden ihn die Nachbarn dann wohl behandeln? Auf jeden Fall mit mehr Ehrerbietung als bisher.
Nie wieder würde ihn der Lehnsherr mit seinen berittenen Sipahis so demütigen können wie neulich auf dem Wochenmarkt, als er ihm eine Geldstrafe aufgebrummt hatte, nur weil ihm seine salzigen Oliven nicht schmeckten. Angeblich hatte sich irgendein Kunde beschwert. Damit wäre dann Schluss. Schon bald wäre er kein unbedeutender Bauer mehr, sondern der stolze Vater eines hohen Offiziers. Hinzu kam noch die Befreiung von der Steuerlast.
Ein tiefer Seufzer seiner Mutter riss ihn aus seinen Träumen. Jetmira wischte sich ihre Tränen ab und küsste Betim auf beide Wangen.
Der Schreiber notierte sich die Namen des Knaben, des Vaters und des Dorfes und überreichte dem Vater im Gegenzug den Namen einer Kontaktperson im Sultanspalast, von der die Familie später erfahren sollte, welcher türkischen Familie ihr Sohn anvertraut worden war. Denn die christlichen Knaben wurden nach einer Feier im Palast in Bauernfamilien in Anatolien gegeben, die ihnen die Sitten, die Gebräuche und die Kultur des Osmanischen Reichs nahebringen sollten. Während ihres Aufenthalts bei diesen Familien schlossen die Knaben ihre Schulbildung ab. Anschließend kamen sie wieder unter die Fittiche der Hohen Pforte, die sie speziell für den Staatsdienst ausbildete.
Betim umarmte seine Großmutter, seinen Vater und seine Geschwister, machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Yayabaschi. Hin und wieder drehte er sich um und warf tränenüberströmt letzte Blicke auf die Zurückgelassenen, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren.
Der vollbärtige, adleräugige Yayabaschi war ein ernster Mann. Er trug ein grünes Gewand aus Samt mit Pelzbesatz und weiten Scheinärmeln. An seinem Turban steckten einige Reiherfedern. Von seinem hohen Rang kündeten einzig seine roten Lederstiefel. Er befahl den drei Soldaten, die ihn begleiteten, alle rekrutierten Knaben kurz vor Sonnenuntergang an ihrem Militärstützpunkt zu versammeln. Damit meinte er das Zeltlager, das sie am Nordufer des Kastoria-Sees aufgeschlagen hatten.
Ein Dutzend Knaben waren bereits dort eingetroffen, und am Nachmittag stieß auch Betim zu ihnen. Am Abend lauschten sogar insgesamt fünf Dutzend Frischlinge, akkurat aufgestellt in Dreierreihen, der Ansprache des Yayabaschi.
„Knaben, ab heute gehört ihr dem Osmanischen Reich. Vor euch liegt eine lange Reise, die euch zuerst nach Istanbul und danach für einige Jahre in eine Ziehfamilie nach Anatolien führen wird. Anschließend könnt ihr dann im Sultanspalast zeigen, was ihr gelernt habt, um entweder in die Palastschule Enderun oder in die Armee aufgenommen zu werden. Die Palastschule bildet ihre Schüler für eine Arbeit in der Verwaltung aus. Ihre Absolventen können Gouverneur oder Hofbeamter werden, und wenn es das Schicksal gut mit ihnen meint, sogar Großwesir. Die körperlich Robusten unter euch hingegen haben beste Chancen auf eine Ausbildung in der Armee. Auch sie können später in hohe Ränge aufsteigen.“
Der Beamte wollte den Knaben, die ihre Elternhäuser verlassen mussten, zum einen die Angst nehmen und Mut zu machen. Zum anderen wollte er ihnen aber auch nicht den Eindruck vermitteln, dass ihnen gute Posten ganz ohne Anstrengung zufallen würden.
Nach diesen aufmunternden Worten träumte nun auch Betim selbst, wie schon am Mittag sein Vater, von einem steilen Aufstieg und von dem Respekt, den ihm die Menschen dann zollen würden. Hatte er das Zeug dazu, gar Großwesir zu werden und den Sultan in allen Belangen zu beraten? Und wie weit könnte er es bringen, wenn er als Soldat aufgenommen würde? Natürlich würde sich das erst im Laufe der nächsten Jahre zeigen. Zumindest aber würde er alles tun, um seine Vorgesetzten mit Disziplin und Eifer zu überzeugen.
Als Betim im Lager angekommen war, war es ihm noch nicht aufgefallen; jetzt aber registrierte er verwundert, dass er der kleinste und schwächlichste der Jungen war. Alle anderen waren mindestens einen Kopf größer als er. Nach der Ansprache des Yayabaschi verteilten die Aufseher des Lagers jeweils fünf Knaben auf ein Zelt und befahlen ihnen, sogleich zu schlafen, weil man schon in der Morgendämmerung aufbrechen würde.
Betim legte sich auf den Rücken und schaute zum Zeltdach auf. Er stellte sich vor, welches Leben er ab jetzt führen würde und fiel dabei langsam in Schlaf. Im Traum entfuhren seinen Lippen unverständliche Wortfetzen. Einmal glaubte sein linker Bettnachbar, ein eingebildeter Wuschelkopf aus dem nächstgelegenen Dorf, das Wort Großwesir verstanden zu haben. Er sprach Betim darauf an, doch dieser brummelte nur kurz, drehte sich zur anderen Seite und schlief sofort wieder ein.
In aller Frühe weckten die Lageraufseher die Knaben, und gemeinsam bereiteten sie die Kutschen für die Abreise vor. Dann ertönte der Schrei des Yayabaschi zum Aufbruch, und schon wälzten sich die Räder im Takt mit den Schritten der Pferde in Richtung Hauptstadt.
Betim und fünf weitere Kinder saßen in einer Kutsche, darunter auch der Wuschelkopf. Er war eine Nervensäge und bereitete Betim schlechte Laune. Wie sollte er diesen Mistkerl die ganze Zeit ertragen? Betim wusste nicht einmal, wie viele Tage die Reise dauern würde. Das hatte der Yayabaschi gestern nicht gesagt, und fragen wollte er auch nicht; denn er befürchtete, dass die anderen ihn für schwach halten und hänseln würden, zumal er der Kleinste war und sich kaum hätte wehren können.
Nach dem Tod seiner Mutter hatte er seinen Vater sagen hören, der Streit im Dorf habe sich daran entzündet, dass ein elfjähriger Junge mit wuscheligen Haaren aus dem Nachbardorf jemanden verleumdet hatte. War sein Weggefährte also der Auslöser des Handgemenges, bei dem seine unschuldige Mutter getötet worden war? Falls ja, würde er es bitter bereuen!
Aber nicht jetzt. Noch war er nicht stark genug, seine Mutter zu rächen, und außerdem musste er ganz sicher gehen, dass der Junge tatsächlich schuld war. Also verschob er die Angelegenheit auf einen späteren Zeitpunkt und verdrängte sie aus seinen Gedanken. Durch die Luken der Kutsche sah er die dichten Bäume des steinernen Waldes von Nostimo vorüberziehen. Mit dem Gezwitscher der Vögel erwachte der neue Tag allmählich zum Leben.
***
Einen Monat später erreichte der Kutschenzug nach beschwerlicher Reise Istanbul. Betim bewunderte die imposanten hohen Türme der Minarette der Blauen Moschee und staunte über die riesigen Menschenmassen. Straßenverkäufer, die ihre Waren feilboten, das Geklapper der Hufe auf den gepflasterten Gassen, herumtollende Kinder und die Rufe der Muezzins zum Mittagsgebet bildeten zusammen ein vielstimmiges Orchester.
Es war Spätsommer und die Sonne stand im Zenit. Die Jungen waren erschöpft von den Strapazen der Reise, und bevor sie den Sultanspalast betraten, brauchten sie dringend eine Erfrischung. Also geleitete man sie quer über den Sultanahmet-Platz zum angrenzenden Haseki-Hamam, das die berühmte Roxelane, die Frau von Sultan Suleiman dem Prächtigen, gestiftet hatte.
Mit einem Tuch, das als Lendenschurz diente, bekleidet, legte sich Betim für eine Weile auf die angenehm temperierte marmorne Liegefläche in der Mitte des Dampfbades. Anschließend übergoss er sich an einem der Waschbecken an der Seite des Raumes mit heißem Wasser und schrubbte sich mit einem Baumwollsack und Seife gründlich ab. Gern hätte er sich noch einmal auf die runde Platte gelegt und sich dann eine Ewigkeit nicht mehr von der Stelle gerührt, doch heute war der Tag, an dem sein neues Leben im Sultanspalast beginnen würde. Und schon hallte der unmissverständliche Befehl des Yayabaschi durch die Gewölbe. Laut und deutlich forderte er seine Truppe zum Gehen auf.
Inzwischen hatte sich Betim längst daran gewöhnt, herumkommandiert zu werden, und er machte sich keine Illusionen. Auch in seiner Ausbildung, vielleicht sogar sein ganzes Leben lang würde sich daran nichts ändern. Doch sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass dies eben der Lauf der Dinge sei. Der Obrigkeit musste Gehorsam geleistet werden. Sein armer Vater wäre nie auf die Idee gekommen, sich ihr zu widersetzen, auch wenn das Leben noch so gnadenlos sein konnte. Aber irgendwann würde Betim die Chance bekommen, selbst Kommandos zu erteilen. Und bestimmt wäre er dann ein barmherziger Befehlshaber.
Erneut bestiegen die Jungen ihre Kutschen, die sie zum Topkapi Palast, dem Sultanspalast gleich hinter dem Sultanahmet-Platz, bringen sollten. Vor ihnen öffnete sich das Großherrliche Tor, das aus Marmor gefertigte Bab-i Humayun, der Haupteingang des Palastes. Selbst das Tor der prunkvollen orthodoxen Kirche in Betims Dorf war nicht annähernd so reich verziert wie dieses. Ehrfurchtsvoll blickte er auf die ineinander fließenden arabischen Schriftzüge über dem Portal, die er nicht entziffern konnte.
Im angrenzenden ersten Hof empfing sie der Hofmeister mit einem freundlichen Lächeln. Er war von kleiner Statur, sprühte jedoch förmlich vor Energie und schenkte seinen neuen Gästen volle Aufmerksamkeit. Auch der Sultan schätzte ihn sehr und schickte ihn ganz bewusst vor, damit der erste Eindruck seiner Gäste positiv ausfiel. Der Hofmeister salutierte vor dem Yayabaschi und dessen Schreiber, die als Erste aus der Kutsche gestiegen waren. Betim wartete ungeduldig darauf, dass man auch sie herausrief.
Dann mussten sich die Jungen erneut in Dreierreihen aufstellen und abzählen lassen. Diese Zählungenhatten sie schon vom ersten Tag an durchgeführt, weil die Beamten fürchteten, dass sich andere Jungen, die nicht ausgewählt worden waren, auf Geheiß ihrer Eltern nachträglich einschlichen. Betim gefiel diese Prozedur nicht, er fühlte sich wie ein Schaf in einer Herde.
Danach geleitete der Hofmeister die Jungen in den zweiten Hof, damit sie in der Palastküche ein ordentliches Mahl zu sich nahmen. Es gab Fleischbälle auf Bulgur, eine kleine Schüssel Pflaumenkompott und einen Laib Gerstenbrot. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, folgten sie dem Hofmeister in einen großen Saal mit aufwendigen blauen Fayencen und dunkelbraunen Holzverzierungen an der Decke.
In der Mitte des Raumes stand ein hochaufragender, thronartiger Stuhl, auf dem ein Mann saß, der großes Selbstbewusstsein, aber Hochmut und Verachtung ausstrahlte. Betim schätzte ihn auf Anfang Dreißig. Obwohl selbst also noch sehr jung, war er von betagten, vollbärtigen Männern und mehreren Wachen umgeben. Ohne ersichtlichen Anlass warf er den Neuankömmlingen feindselige Blicke zu und fuhr den Hofmeister an:
„Sind sie das?“
Auf den Boden starrend und die Hände vor dem Bauch gefaltet, bejahte der Hofmeister. Da erhob sich der Mann von seinem Stuhl und ging auf die Jungen zu. Er näherte sich einigen von ihnen, und auch Betim umkreiste er und musterte ihn kalt. Seine erniedrigenden, gefühllosen Blicke brachten Betim ins Schwitzen. Alles in ihm zog sich zusammen. Was würde nun passieren?
Plötzlich verlor der Mann das Interesse an den Jungen und schickte sie einen nach dem anderen hinaus. Doch als Betim ebenfalls den Saal verlassen wollte, befahl ihm der Mann über einen Dolmetscher, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Schweißgebadet und verängstigt gehorchte Betim und schaute zögernd zu ihm auf. Erneut musterte ihn der Mann, diesmal jedoch genauer von Kopf bis Fuß. Dann gab er einige Worte von sich, die der Dolmetscher Betim umgehend übersetzte.
„Wie heißt du, Junge?“
„Betim, mein Herr.“
„Betim, aha. Du hast so verteufelt betrügerische Augen, Betim. Das gefällt mir. Aus dir kann viel werden. Wie dir ja wahrscheinlich bereits mitgeteilt wurde, werde ich dich in eine türkische Familie schicken, in der du die Sitten und Gebräuche dieses Landes kennenlernen sollst. Beschneiden lassen musst du dich erst einmal nicht, denn Knabenlese bedeutet nicht Zwangskonvertierung.
Du hast Glück und wirst nicht, wie die meisten anderen Jungen, nach Anatolien zu einer Bauernfamilie geschickt, sondern kommst in eine Familie hier in der Hauptstadt, die dich als Zögling aufnehmen wird. Wenn du reif genug bist, werde ich dich in den Palast zurückrufen lassen, jedenfalls wenn ich dann noch lebe. Es wird nämlich viele Jahre dauern.“
Dieser letzte Satz erleichterte Betim, weil er diesen Mann, der solchen Schrecken verbreitete, am liebsten nie wieder sehen wollte. Und außerdem: Was sollte diese Bemerkung zu seinen angeblich betrügerischen Augen? Sein ganzes Dorf wusste doch, dass Betim ein treuherziger, liebenswerter Junge war.
Der Mann gab ihm einen Klaps in den Nacken, lächelte ihm verschlagen zu und bedeutete ihm auf diese Weise abzutreten. Erst auf dem Hof fühlte Betim allmählich wieder Boden unter den Füßen. Er fragte den Hofmeister, der auf der Türschwelle neben den Wachen auf ihn gewartet hatte, wie der Mann hieß und warum er so barsch mit seinen Gästen umsprang. Doch dieser entgegnete nur knapp: „Jeder von uns hat seine Eigenschaften, Junge, so auch Köse Musa“, und verfiel dann in Schweigen.
Betim hätte gern mehr über den Mann erfahren, aber der Hofmeister fürchtete sich anscheinend ebenfalls vor ihm und wollte sein Wissen nicht preisgeben. Warum sollte er auch einem Fremden seine Geheimnisse enthüllen, noch dazu einem Achtjährigen?
Der Hofmeister brachte ihn zu der Kutsche im ersten Hof zurück und half ihm beim Einsteigen. Dann wies er den Kutscher an, Betim in Galata am Konak eines Gelehrten namens Ibrahim abzusetzen, der an der Medrese gegenüber vom Goldenen Horn lehrte, die zur Stiftung der Süleymaniye-Moschee gehörte. Der Mann sei in dem Viertel wohlbekannt. Mit einem lauten Knall seiner Peitsche verabschiedete sich der Kutscher von dem Hofmeister, und unter störrischem Wiehern setzten sich die Pferde in Bewegung.
Aus dem Großherrlichen Tor heraus ging es die gepflasterte Gasse hinunter zum Hafen am Goldenen Horn. Dort lagen einige kleine Boote vertäut, die neben einzelnen Passanten auch ganze Kutschen ans gegenüberliegende Ufer von Karaköy beförderten.
In Karaköy trieb der Kutscher sein Gefährt durch die engen Gassen, bis sie schließlich den Marktplatz von Galata erreichten. Dort fragte er den Besitzer der Verkaufswerkstatt neben dem Kaffehaus von Sami nach dem Gelehrten, und Hüseyin schickte ihm seinen Lehrling mit.
Der Kutscher folgte ihm langsam, stoppte wenig später vor Ibrahims Haus und betätigte den schweren Türklopfer am rechten Flügel des Tores. Damit signalisierte er den Bewohnern, dass ein Mann vor der Tür stand und dass dementsprechend auch ein Mann die Tür aufmachen sollte. Denn die Frauen des Hauses sollten sich keinem fremden Besucher unverschleiert zeigen. Neben diesem schweren Türklopfer hing ein weiterer kleinerer Klopfer, der einen helleren Ton erzeugte. Er war für die weiblichen Gäste gedacht.
Es war Said, der ihnen öffnete. An diesem Nachmittag war er früher aus der Schule gekommen, weil sich Salih Hodscha eine Erkältung zugezogen hatte und das Bett hütete. Der Mülasim, ein Vertreter des Hodschas, hatte die ersten Stunden übernommen und die Kinder gegen Mittag nach Hause entlassen. Sicherheitshalber fragte der Kutscher ihn nochmals nach dem Besitzer des Konaks, dann ließ er Betim samt seinem spärlichen Gepäck aussteigen. Als der Kutscher seine Pferde schon wieder die Peitsche schmecken ließ, begrüßten sich Betim und Said mit einer scheuen Geste. Schnell stellten sie fest, dass es ein großes Problem gab. Betim verstand kein Türkisch und Said kein Albanisch.
Kurze Zeit später kam auch Afife herunter, um zu sehen, wer da gekommen war. Als sie Said dort mit einem fremden Jungen stehen sah, begriff sie schnell, dass er das angekündigte Ziehkind sein musste. Doch auch sie hatte ihre liebe Mühe und Not, mit ihm zu kommunizieren. Gemeinsam stiegen sie die Treppe ins Obergeschoss hinauf, und die Jungen nahmen auf dem Diwan Platz. Afife brachte den beiden Plätzchen, die sie gestern gebacken hatte, und Himbeersaft dazu. Gegen Abend versammelte sich die ganze Familie. Nun begrüßten auch Halil Agha und Ibrahim ihren jungen Gast. Glücklicherweise hatte Halil Agha früher öfter mit albanisch-stämmigen Janitscharen zu tun gehabt und dabei einige Wörter und Wendungen aus ihrer Sprache aufgeschnappt.
Ibrahim wiederum sprach fließend Arabisch und unterhielt sich gelegentlich mit bosnischen Danischmends, die kurz vor einem Medrese-Abschluss standen. Dabei hatte auch er ein paar Brocken Albanisch gelernt.
Es wurde ein langer Abend, weil alle viele Fragen an Betim hatten. Schließlich würde er von nun an einige Jahre bei ihnen wohnen. Als sie gegen Mitternacht zu Bett gingen, äußerte Betim den Wunsch, in Saids Zimmer zu schlafen. Betim hatte ihn auf Anhieb sehr gemocht.
Am nächsten Morgen entschuldigte sich Said bei Betim dafür, dass er ihn nun allein lassen musste, versicherte seinem neuen Freund aber, ihm nach der Schule das ganze Viertel zu zeigen: die Moschee, die Läden und die Menschen. Für Said war es eine große Herausforderung, sich ohne viele Worte zu unterhalten. Aber das tat seiner Begeisterung keinen Abbruch. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich auch weiterhin gut verstehen würden.