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Kapitel 12

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Wieder einmal wich die eisige Kälte des Winters einer kühlen, aber erfrischenden Brise des Frühjahrs. Die Stadt nahm erneut eine grüne Tönung an. Vögel zwitscherten wieder am Himmel und auf den Ästen, und die verlassenen Straßen wurden mit den herumtollenden Kindern lebendiger. Nicht nur die neue Jahreszeit sorgte für diese Stimmung, die auch im Viertel erkennbar war, sondern auch die Festtage, die die Menschen freudvoller werden ließen. Muslime hatten vor einigen Wochen ihr Neujahr gefeiert und die Aschura-Suppe gekocht. Sie teilten sie mit ihren Nachbarn, als Andenken an den Propheten Noah. Dieser hatte auf seiner Arche den noch übriggebliebenen Proviant in einem großen Kessel zu eben jener Suppe zusammengerührt. Die Mischung bestand aus Bohnen, Kichererbsen, Weizen, Reis, Rosinen, Mandeln und weiteren Zutaten. Die verschiedenartigen Aromen vermischten sich und vereinten sich zu einem wunderbaren Geschmack.

Im Viertel lebten neben den Muslimen auch Orthodoxe, Katholiken und Juden, die anders glaubten, aber in dieser Gesellschaft, wie es auch diese Suppe symbolisierte, zu einem einzigen Gemeinwesen zusammenwuchsen. So ließ sich aus der Verschiedenheit eine Gemeinsamkeit bilden.

An diesem Freitag dagegen feierten die Christen eines ihrer größten religiösen Feste und bereiteten sich für die Morgenmesse vor. Adil Bey, der seinen freien Tag genoss und nicht den Weg in den Palast einschlagen musste, hatte sich bereits gestern mit Garbis und Lisias verabredet, um dem Karfreitags-Gottesdienst in der Surp-Sarkis-Kirche beizuwohnen. Vor Jahren besuchte sein Bruder Ibrahim die Kirche und wurde Zeuge der großen Wasserweihe. Er erzählte seinem Bruder, wie viel diese gegenseitigen Besuche für die Verständigung der Andersgläubigen bewirkten. Garbis lud ihn auch zur Akoluthia der heiligen Leiden am Vorabend ein, mit der die Osterfeierlichkeiten der Ostkirche begannen. Vor der Huldigung des Kreuzestodes Jesu sollten nämlich in der Gemeinde aus den zwölf Evangelien gelesen und verschiedene Liturgien angestimmt werden. Aber Adil Bey entschuldigte sich bei seinem Nachbarn, er könne leider nicht kommen, weil er erst gegen Abend vom Dienst kam und dann sehr erschöpft sein würde.

Afife weckte neben Betim auch Said früh auf, damit er sein Versprechen Eleftheria gegenüber einlösen und sie zur Kirche begleiten konnte. Auch er war, wie sein Onkel, interessiert an den Riten und Messen ihrer Nachbarn, und wartete nicht auf eine Einladung, um den Gottesdienst zu erleben. Er zog seine feinsten Kleider an, doch Betim würdigte er keines Blickes. Ihm gegenüber empfand er einen immer größer werdenden Unmut und wartete sehnlich auf seinen Auszug aus ihrem Konak. Er eilte zu seinem Onkel. Als er gerade an der Tür klopfen wollte, ging die Tür des Konaks auf. Adil Bey erschien auf der Schwelle und grüßte seinen Neffen.

„Guten Morgen, Onkel“, erwiderte Said den Gruß Adil Beys.

„Du bist schon wach. Aber heute ist Freitag und du musst nicht in die Schule“, scherzte Adil Bey.

„Ich weiß Onkel. Ich wollte nur den Gottesdienst besuchen und habe von meiner Mutter erfahren, dass du auch hingehst. Ich komme mit.“

„Das ist sehr erfreulich. Ich wünschte, Mersed wäre auch begeistert von irgendetwas. Der hütet noch das Bett und zeigt kein Interesse“, erwiderte ihm sein Onkel.

In diesem Moment bogen Eleftheria und Hagop mit ihren Familien um die Ecke, an der der Konak von Adil Bey stand.

„Hallo Said“, grüßte Eleftheria als erste und sah tief in seine Augen.

„Hallo Eleftheria“, sagte Said und grüßte anschließend die anderen. Nachdem auch Adil Bey seinen Nachbarn einen guten Morgen gewünscht hatte, gingen sie gemeinsam über den Marktplatz in die Kirche.

Wieder einmal war die Kirche überfüllt von Gläubigen, die an den königlichen Stunden teilnahmen. Flankiert von seinen Subdiakonen und Pater Varujan leitete Vater Krikor am Altar die Messe vor der zum Bosporus zeigenden Apsiswand, an der Sänger und Ministranten aufgereiht waren. Er nahm das Abbild Christi vom Kreuz und hüllte es in ein weißes Tuch, während die Gemeinde psalmodierte. In der anschließenden Vesper legte Vater Krikor das Grabtuch feierlich aus, das bis zum Osterfest an diesem Ort aus Verehrung des zu Grabe getragenen Christus liegen bleiben sollte.

Was Said in diesem Gottesdienst sah, war anders als der Ritus, den er in heiligen Nächten seines Glaubens praktizierte. Auch verstand er nicht, warum Jesus, den er als Gesandten Gottes kennengelernt hatte, als Gottessohn verehrt wurde. Was er jedoch verstand, war der Zusammenhalt der Menschen, die die anderen so respektierten, wie sie waren. Das war eben auch der Schlüssel für die Entstehung seiner großen Familie, die er sein Wohnviertel nannte.

Gegen Nachmittag kamen sie wieder in ihrem Viertel an und schritten über den Marktplatz. Said bemerkte seinen Großvater, der sich zu Samis Kaffeehaus begab, verabschiedete sich von Eleftheria und Hagop und folgte Halil Agha. Sein Großvater drückte in letzter Zeit bei seinem Enkel ein Auge zu, wenn er das Kaffeehaus betrat. Sein kleiner Said zählte inzwischen vierzehn Jahre und durfte sich zu den alten Männern in diesem Vergnügungshaus gesellen.

Der Eingangsbereich des Kaffeehauses, der auch Mittelraum genannt wurde, bestand aus einer Fläche, die eine Größe von zwanzig Fuß im Quadrat besaß und von Sitzflächen umsäumt war. Diese waren vier Fuß hoch. Hier genossen die eiligen Gäste ihren Kaffee, während die Sitzflächen im Kernbereich, der dem Mittelraum ähnelte, um einen Springbrunnen aufgereiht waren. Beim Plätschern des Wassers aus dem Brunnen genossen die Kunden, die für längere Unterhaltungen Zeit mitbrachten, neben Kaffee auch ihre Wasserpfeifen. Sie hatten genügend Zeit für längere Unterhaltungen mitgebracht. Gegenüber der Theke führte eine Holzleiter auf eine söllerartige Sitzplattform, die Platz für zwanzig Genießer bot.

Halil Agha saß meistens auf diesem höher gelegenen Balkon und vertrieb sich seine Zeit mit Gleichgesinnten. Said stieg zum ersten Mal auf diese Fläche, nahm neben seinem Großvater Platz und betrachtete die Kunden von oben.

„Na gefällt dir dieser Ort, Said?“, fragte ihn Halil Agha.

„Ja, sehr. Aber es ist niemand außer uns beiden da“, beklagte sich Said.

„Sie werden alle gleich kommen“, beruhigte ihn sein Großvater.

„Wen meinst du mit alle, Großvater?“, fragte Said.

„Alle, die heute auf die Geschichte warten, die ich erzählen werde“, sagte Halil Agha.

„Du erzählst auch hier deine Geschichten? Ähnlich wie zu Hause?“, bohrte Said nach.

„Ja, mein Lieber. Du weißt ja, dein Großvater hat viel zu erzählen“, entgegnete ihm Halil Agha, der inzwischen vierundsiebzig Jahre auf dem Buckel hatte und viel erlebt hatte. Seine Geschichten waren, im Gegensatz zu denen, die andere erzählten, keine Legenden. Andere erzählten von den Epen des Gilgamesch oder Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Er jedoch war ein Kämpfer im Auftrag seines Sultans gewesen und erzählte aus seinem eigenen Leben.

„Ist der Herodot schon da?“, hörte Said eine Stimme von unten. Es war ein Mann mittleren Alters.

„Großvater, wer ist denn hier Herodot?“, wollte Said wissen, da er keinen Herodot kannte.

„Ich, mein Sohn“, sagte Halil Agha.

„Aber so heißt du doch nicht“, widersprach ihm Said.

„Sie nennen mich nur so, weil ich hier die meisten und auch die spannendsten Geschichten erzähle. Herodot war ein griechischer Geschichtenschreiber und -erzähler, der vor über zweitausend Jahren gelebt hat“, klärte ihn Halil Agha auf.

„Ach so ist das“, staunte Said.

Der Mann, der nach Herodot gefragt hatte, stieg die Leiter hoch, grüßte Halil Agha und fragte nach Said, wer er sei.

„Mein Enkel Said“, stellte Halil Agha Said vor.

Nachdem der Mann auch Said begrüßte, erschienen Hüseyin, der Schreiner und David im Mittelraum des Kaffeehauses, denen Said von oben zuwinkte. Sie eilten zu ihnen hoch und setzten sich auf die Diwane, die der Bequemlichkeit der Gäste Samis dienten. Auch Hagop kam an diesem Nachmittag zusammen mit seinem Vater Garbis und mit Lisias, die neben Halil Agha aufrückten.

Am späten Nachmittag gab der Balkon keinen einzigen freien Platz mehr her und auch unten um den Springbrunnen saßen Menschen, die alle gespannt auf die heutige Geschichte von Halil Agha warteten. Said entdeckte Mersed in der Menge, und auch Betim, der seit einiger Zeit das Kaffeehaus ohne Begleitung besuchte, gesellte sich dazu und setzte sich ins Sichtfeld von Said, der zur Rechten seines Großvaters saß. Vorher tranken die Anwesenden schnell ihren letzten Schluck Kaffee, damit sie zum einen beim Schlürfen nicht die Geschichte störten, zum anderen aus Respekt gegenüber Garbis und Lisias. Diese bedienten sich nicht, weil die orthodoxen Christen heute fasteten.

„Seid willkommen, meine Freunde“, begrüßte Halil Agha die Anwesenden und honorierte Garbis und Lisias an diesem Tag besonders.

„Unsere Freunde feiern heute den Karfreitag und ich gratuliere ihnen beiden herzlichst.“ Die anderen folgten seinem Beispiel und sprachen ihre Glückwünsche aus, die Garbis und Lisias dankend entgegennahmen.

„Meine Freunde, heute erzähle ich euch von einem Vorfall, der sich vor gut vierzig Jahren ereignet hat“, fing Halil Agha zu erzählen an.

„Der Hauptdarsteller bist wieder einmal du, nicht wahr?“, kam eine Frage von einem der Zuhörer, und einige schmunzelten, weil von Halil Agha nichts anderes zu erwarten war.

„Sicher“, sagte Halil Agha und fuhr fort: „Unser Reich verfiel, weil eine große Last die Hauptstadt plagte. Der Sultan wurde in die Enge getrieben und war nicht mehr handlungsfähig. Seine Wesire wurden nacheinander enthauptet, weil dies eine Gruppe von Frevlern forderte. Mit der Unterstützung vieler persischer Spitzel, die im Land weilten und zum Tumult anstifteten, erhoben sich auch viele Janitscharen, die unter meinem Kommando standen. Sie revoltierten gegen ihren Vorgesetzten und stürzten ihren Suppenkessel um. Wie ihr alle wisst, bekundet ein Janitschar seine Unzufriedenheit gegenüber der Hohen Pforte, indem er seine Suppe aus dem Kessel verweigert. Wenn sie ihn jedoch umstürzen, dann erklären sie den Krieg. So kam es auch, und diese Rebellen waren nicht mehr zu bändigen. Angeführt wurde der Frevel von dem berühmten Patrona, der mit seinen Genossen Yanaki und Muslu Besche den Aufstand anführte. Sie gehörten nicht unserer Armee an, aber rührten die Soldaten auf. Sie behaupteten, der Großwesir habe die Treue gegenüber seinem Herren verletzt, und warfen ihm Korruption vor. Unter diesem Vorwand suchten sie eine Gerechtigkeit, die sie mit einem Aufruhr nie hätten erreichen können. Denn sie taten dem Volk großes Unrecht, weil sie dessen Hab und Gut plünderten und sogar Menschen umbrachten.“

Halil Agha ereiferte sich in seinem Vortrag so, dass er mehrmals tief Luft holen musste. Er hatte den Aufstand wieder vor Augen, empfand seine Gegenwart und machte ein trauriges Gesicht.

„Erzähl weiter, Halil Agha“, sagte eine Stimme.

„Wir hören dir aufmerksam zu“, mischte sich auch Garbis ins Wort ein. Halil Agha erzählte schluchzend weiter:

„Sie schändeten meine Geliebte, die ich zu meiner Frau machen wollte, und töteten sie. Sie hieß Dilruba. An jenem Tag schwor ich Rache. Ich wollte Patrona den Kopf vom Rumpf trennen.“

„Geschieht ihm recht“, unterbrach ihn Hüseyin.

„Sie marodierten wochenlang auf den Straßen Istanbuls. Keiner konnte ihnen Einhalt gebieten. Sie versprachen dem Sultan, ihre Untaten zu beenden, wenn der Großwesir ermordet würde. Dem kam der Sultan nach. Aber sie brachen ihr Wort und forderten schließlich den Kopf des Sultans. Unser Sultan musste notgedrungen abdanken. Er wurde zusammen mit seiner Familie im Topkapi-Palast eingesperrt, wo er nach sechs Jahren in Gefangenschaft starb. Der neue Sultan strickte einen Plan, um diese Schmach zu überwinden: Er lockte die drei Anführer des Aufstands in den Palast und versprach ihnen hohe Ränge im Reich. Patrona sollte Großadmiral werden, Muslu Besche der Janitscharen-Agha und Yanaki der Gospodar von Moldawien. Dieser Plan funktionierte: Die drei kamen in den Palast. Ich versteckte mich im Beschneidungsraum hinter einem Vorhang und sah Patrona alleine den Raum betreten. Ich trat hervor und zog meinen Säbel aus der Scheide, der er mit seinem Jatagan-Schwert entgegnete. Unermüdlich kämpfte ich gegen ihn und fand schließlich seine Schwachstelle. Ich trennte ihm mit einem Hieb den rechten Arm ab und enthauptete ihn. Damit ward meine Rachsucht gestillt. Auch die beiden Komplizen eilten nach dem Todesschrei von Patrona herein und sahen mir in die Augen. Hinter ihnen überschattete sie ein Oberst, der unter meinem Kommando stand. Auch er zog seinen Schwert und gemeinsam überwanden wir die beiden ähnlich wie Patrona. Alle drei lagen leblos in einer Lache aus ihrem dreckigen Blut. Zum Abend lud uns der neue Sultan aus Dank zum gemeinsamen Mahl ein, bei dem er sich bei uns beiden herzlich bedankte. Endlich hatten wir unsere Feinde bezwungen.“

Als Halil Agha diese Geschichte zu Ende erzählt hatte, schauten ihm alle sprachlos ins Gesicht. Said fühlte sich sehr angetan von der Heldentat seines Großvaters. Es waren also turbulente Zeiten gewesen, in denen keiner der Zuhörer hätte leben wollen. Endlich brach David die Stille und äußerte sich zu den Ereignissen von damals.

„Halil Agha, erst einmal bedanke ich mich bei dir für diese Heldengeschichte. Ich hörte von meinem Vater, wie mühsam es in diesen Zeiten war. Der Pöbel soll auch unser Viertel Dschibali in Brand gesteckt haben. Aus diesem Grund evakuierte uns der Kadi von Istanbul hierher.

„Wurdest du nach der Niederschlagung dieses Aufstands zum Janitscharen-Agha befördert?“, ergriff Hüseyin das Wort.

„Ja. Der alte Sultan stellte mir bereits die Führung des Korps in Aussicht. Jedoch war der Widerstand zu groß und er konnte seine Pläne nicht umsetzen. Es gelang dem neuen Herrscher und das Korps fügte sich schließlich meinem Befehl. Die Verbrecher wurden bei dieser Niederschlagung mit dem Tode bestraft.“

„Jesus und die heilige Maria mögen uns beistehen, damit wir nicht nochmal solche Zeiten erleben“, betete Garbis.

„Das wünschen wir uns alle“, ergänzte Adil Bey.

„Gleich wird der Gebetsruf zum Abend erklingen, und auch unsere christlichen Freunde haben an diesem Karfreitag noch mit ihren Familien zu feiern. Also ich verabschiede mich schon mal“, sagte Halil Agha. Er beugte sein rechtes Bein vor, um sich darauf zu stützen und richtete sich auf. Said, Betim und Mersed folgten ihm nach. Aus Höflichkeit standen alle auf, ließen ihren Herodot die Leiter hinunterklettern und folgten ihm nach. Nach kürzester Zeit sah die hochgestellte Plattform so aus, als hätte dort niemand gesessen.

Nach dem Abendgebet, an dem Said und Mersed zusammen mit ihrem Großvater teilnahmen, begaben sie sich nach Hause. Obwohl Said Merseds Dasein nicht ertragen konnte, gesellte er sich dazu und kam mit Halil Agha und Said in ihren Konak. Denn auch wenn Mersed sich mit Said nicht vertragen konnte, gab es eine Person, die er besonders schätzte. Destegül, das Schwesterherz, nahm sich immer Zeit für ihn und kümmerte sich um ihn.

„Wie war euer Abend, Vater?“, fragte Afife ihren Schwiegervater. Bevor Halil Agha etwas sagen konnte, sagte Said:

„Es war mitreißend. Mein Großvater ist ein großer Held, Mutter. Er hat einem Mann die Kehle durchgeschnitten und einen großen Aufstand abgewehrt. Vor Jahren erzählte er von dem Zwischenfall in der Schänke und wie er die Radaumacher zurechtwies, falls ihr euch noch daran erinnert. Aber das hier ist viel mehr als das. Es änderte das Schicksal eines Reiches.“

Betim, der Halil Agha bisweilen als einen erfahrenen Mann respektierte, bewunderte ihn nach dieser Tat, die er vollbracht hatte. Er hatte den Frevlern eine Lehre erteilt und war dabei groß herausgekommen. Noch einige Monate, dann stünde Betim selbst im Dienste des osmanischen Staates. Er würde seine Kraft und Intelligenz einsetzen, um mehr als das zu erreichen, was Halil Agha erreicht hatte. Den Respekt und die Bewunderung, die er Halil Agha gegenüber zollte, sollten alle ihm erweisen.

Destegül reichte auch Betim eine Tasse Kaffee, den er in seinem Alter bereits vertragen würde. Er war zu einem jungen Mann herangewachsen und konnte sich den gesüßten Kaffee schmecken lassen, den ihm Destegül kredenzte.

„Dann lasst mal schauen, wie es schmeckt. Ich trinke es zum ersten Mal“, erfreute sich Betim und blickte in Destegüls Augen. Rasch wandte sie sich von ihm ab und setzte sich zu ihrer Mutter nahe dem Ofen.

„Großvater, du hast heute nicht erzählt, wie es zu diesem Aufstand kam“, sagte Said.

„Es gab viele Gründe, Said“, sagte Halil Agha. „Zum einen waren es wirtschaftliche Gründe. Wie ich schon sagte, wurden viele Janitscharen gierig und ...“

Betim hatte genug Geschichten gehört und wollte der Realität in die Augen schauen. Die Wahrheit war für ihn die Anwesenheit von Destegül, für die er andere Gefühle hegte. Ihre runden, schwarzen Augen und die weiße Hautfarbe verführten Betim. Sie konnte ihn verzaubern, auch wenn sie ihn nicht ansah. Mit dem Mut, den er dadurch gewann, stierte er Destegül weiter an, während sie wie gefesselt ihrem Großvater zuhörte und Betim keines Blickes würdigte. Neulich hatte er Mersed verspottet, seine Liebe zu Eleftheria sei aussichtslos, weil sie Said liebte. Aber ob seine unbeschreibliche Hingezogenheit zu ihr erwidert wurde, wusste er nicht. Ihm stand zudem sein Glaube im Weg, den er ablegen müsste, um ihr überhaupt den Hof machen zu können. Denn muslimische Mädchen wiesen christliche Verehrer vehement ab. Auch wenn er von diesem Glauben nicht überzeugt war, würde er augenblicklich konvertieren, auch weil er sonst nicht als Rekrut ins Militär aufgenommen werden konnte. Das hatte ihm Köse Musa Pascha bei ihrer ersten Begegnung erklärt. Nach einer Konvertierung konnte er sowohl Destegül heiraten, als auch seine Karriere bis zum Großwesir verfolgen. Die Mitgift für sein neues Leben war auf dem Dachboden versteckt. Die sollte er nicht vergessen, wenn er von hier aufbrach.

Machtkampf am Bosporus

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