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Kapitel 6
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Der Winter kam überraschend früh in diesem Jahr. Seit Wochen schon fror die Stadt unter einer weißen Decke. Wer keinen dicken Mantel besaß, trollte am ganzen Leib zitternd durch die Gassen. Die Kälte setzte den Menschen zu, doch das Leben im Viertel ging weiter. Sie gingen ihren alltäglichen Bedürfnissen nach. Überall schimmerten nach Einbruch der Dunkelheit Gaslampen, die auf dem Schnee wie glitzernde Sterne wirkten.
Vor einigen Wochen waren die drei heiligen Monate des islamischen Kalenders angebrochen, sodass sich die Menschen anders als sonst auch noch abends versammelten; die Frauen auf dem Marktplatz bei Kaffee und Kuchen, die Männer in Samis Stube, die Kinder in den Gassen zum Spielen. Und in diesem Jahr fiel auch das Neujahrsfest der christlich-orthodoxen Untertanen des Sultans in den Zeitraum. Sie feierten es am Dreikönigstag mit einer großen Wasserweihe und gedachten dabei der Taufe Christi.
Als er seinen Freund Ibrahim am Vorabend dieses Festes in Samis Kaffeehaus traf, lud Garbis, der armenische Schneidermeister, ihn kurzerhand dazu ein, seine Familie am nächsten Tag in den Gottesdienst zu begleiten. Ibrahim nahm die Einladung gerne an.
„Das freut mich, Ibrahim. Ich selbst schäme mich fast, weil ich jetzt schon dreiundvierzig Jahre alt bin und noch nie bei einem religiösen Fest der Muslime dabei gewesen bin.“
„Keine Ursache, mein Freund, das können wir jederzeit nachholen. Gleich zum Beispiel findet nach dem Nachtgebet in der Moschee eine Rezitation mit anschließendem Bittgebet statt. Wir begehen heute die Berat-Nacht, von der wir uns erhoffen, dass sie uns von unseren Sünden erlöst. Begleite mich doch einfach dorthin.“
„Aber darf ich als Christ denn auch in der Moschee vor Gott treten?“
„Natürlich. Gott nimmt die Gebete aller seiner Geschöpfe an, sofern sie sich Ihm nur mit reinem Herzen zuwenden.“
In dem Moment erschallte der Gebetsruf. Also tranken sie ihren Kaffee aus und gingen beide zur Moschee hinüber. Während Ibrahim das Nachtgebet verrichtete, wartete Garbis im Hof auf ihn. Anschließend holte Ibrahim ihn zu den Rezitationen herein.
Den Kindern war es auf dem Marktplatz schon vor einer Stunde zu voll geworden, und so spielten sie nun in der Galata-Turm-Straße Verstecken. Hier machte es ihnen viel mehr Spaß, und in der Dunkelheit dauerte es häufig sehr lange, bis die oder der Suchende alle Flüchtigen gestellt hatte. Aber als Betim mit Suchen an der Reihe war, weigerte er sich plötzlich, weiter mitzuspielen.
Die anderen, allen voran Hagop, schimpften ihn einen Spielverderber und versuchten ihn zum Weiterspielen zu überreden. Aber er ließ sich nicht umstimmen, sondern gab Mersed per Handzeichen zu verstehen, dass er ihm folgen sollte.
Mersed zögerte keine Sekunde, und ohne ein weiteres Wort der Erklärung ließen sie die anderen stehen.
„Was soll denn das?“, empörte sich Hayrunnisa. „Ein Wink von Betim genügt, und Mersed folgt ihm blind. Fast als wäre er sein Handlanger. Und das schon seit geraumer Zeit.“
„Ach lass sie doch, dann spielen wir eben ohne sie weiter“, machte sich Destegül keine großen Gedanken.
„Diese lächerlichen Kinderspiele gehen mir inzwischen einfach nur noch auf die Nerven“, sagte Betim zu Mersed. „Es gibt wichtigere Dinge zu tun.“
„Und welche?“
„Das wirst du schon gleich sehen.“
Sein Ziel, der stärkste und reichste Mann im Land zu sein, steckte er nie zurück. Seit dem Tag seines Aufbruchs aus der Heimat träumte er davon, nicht der Untergebene, sondern der Machthaber zu sein, um irgendwann über alles selber zu entscheiden.
Die Stiftung blühte in den letzten Jahren wieder auf, und die Kasse war bestimmt nicht irgendwo versteckt. Sie musste in der Holzschatulle hinter dem Schreibtisch im Verwaltungszimmer sein, in das Ibrahim ihn und die anderen vor Jahren geführt hatte. Seine Tage in Ibrahims Konak waren zudem gezählt. Er würde jederzeit in der Rekrutenschule aufgenommen werden. Also musste er heute damit fertig werden. Gerade wenn alle in dieser Nacht in der Moschee waren, um um Vergebung ihrer Sünden zu bitten. Dass das Aneignen von fremdem Geld auch eine Sünde war, darüber wollte er nicht denken.
Kurze Zeit später standen sie vor dem Eingang zum Hof des Stiftungsgebäudes. Betim vergewisserte sich, ob ihn auch niemand beobachtete, dann öffnete er vorsichtig das Tor. Als er sah, dass auch der Hof menschenleer war, zog er den verdutzten Mersed schnell hinein. Dann schloss er das Tor hinter ihnen und flüsterte Mersed zu:
„Wir werden jetzt der Residenz deines Onkels einen kleinen Besuch abstatten.“
„Aber zu dieser Zeit ist doch dort niemand.“
„Ich weiß. Genau deshalb ja.“
„Ich verstehe nicht, was du vorhast, Betim.“
„Warte nur, bis wir oben sind.“
Die Stiftungen dienten dem Allgemeinwohl, das ganze Viertel profitierte von ihnen. Daher betrachtete man es als nicht erforderlich, sie vor Einbrechern und Dieben zu schützen. Selbst nachts wurden sie nie verriegelt. Zu dieser späten Stunde hielten sich neben den Patienten im Krankentrakt nur noch einige wenige Pfleger in dem Gebäude auf. Und keine von ihnen bemerkte, wie Betim und Mersed leise die Treppe hinaufstiegen. Oben angekommen sperrte Betim vorsichtig die Tür zur Verwaltung auf, und mit einem schwachen Knarren gab sie nach.
„Bleib du hier und pass auf, ob jemand kommt!“, befahl er Mersed.
Betim betrat den Raum und schaute sich um. Da der Mond durchs Fenster schien, brauchte er kein anderes Licht. Nach kurzem Suchen entdeckte er in einer Nische in der Wand hinter Ibrahims Schreibtisch die Holzschatulle, die ihm schon damals bei ihrer Führung durch das Gebäude aufgefallen war. Konnte es sein, dass darin die Gelder der Stiftung aufbewahrt wurden?
„O mein Gott“, entfuhr es Betim, als er den Deckel anhob. Aus der Schatulle lachte ihm ein ganzes Vermögen entgegen; viel mehr, als Betim je gehofft hätte. Rasch füllte er die Gold- und Silbermünzen in einen Stoffbeutel, den er zu diesem Zweck mitgebracht hatte, und eilte zurück zur Tür.
„Was ist denn das?“, fragte ihn Mersed, als er den prall gefüllten Beutel sah.
„Meine Zukunft, oder vielmehr unsere Zukunft, Mersed. Wir sind reich“, strahlte Betim und ließ ihn einen Blick hinein werfen.
„Aber, das gehört uns doch gar nicht!“
„Doch, ab jetzt schon.“
„Das ist nicht dein Ernst, Betim“, erschrak Mersed, verstummte aber schnell wieder.
Auf einmal hörten sie ein Geräusch von unten. Sie mussten sich verstecken. Sofort. Panikartig suchten sie Zuflucht hinter einer zweiten Tür am Treppenabsatz, die sich widerstandslos öffnen ließ. Sie schlüpften hinein, riskierten es aber nicht, sie wieder zuzuziehen. Also kauerten sie sich an der Wand nieder und horchten durch den Türspalt, was im Treppenhaus vor sich ging. Ohne Zweifel, da stieg jemand zu ihnen hinauf. Sie erschraken zutiefst, und Sekunden später tauchte eine Gestalt mit einer Gaslampe in der Hand vor ihnen auf. Hatten sie sich irgendwie verraten, oder handelte es sich vielleicht nur um einen Kontrollgang?
Kaum mehr als einen kleinen Schritt trennte die Gestalt von den Jungen hinter der Tür. Jeden Moment würde sie die Tür weit aufsperren und mit der Lampe hineinleuchten. Das wäre das Ende. Auch er betrat das Verwaltungszimmer und kurze Zeit später ließ er sich wieder im Korridor erkennen. Was, wenn er die leere Schatulle bemerkt hatte?, dachte sich Betim. Doch beruhigte er sich wieder, denn dann hätte die Gestalt schnellen Schritts nach Hilfe suchen müssen. Stattdessen ging sie langsam und ihre Schritte entfernten sich die Treppe hinunter, bis sie schließlich ganz verhallten.
Schweißgebadet konnten die Jungen ihr Glück kaum fassen. Erst eine gefühlte halbe Ewigkeit später fanden sie ihre Sprache wieder. Wer war das gewesen? Einer der Pfleger? Den Konturen nach zu urteilen eher ein beleibter Mann mittleren Alters. Die Pfleger waren junge, schlanke Männer. Aber viel mehr als die breiten Schultern hatte Betim in der Dunkelheit nicht erkennen können.
Eine weitere halbe Ewigkeit später wagten sie sich aus ihrem Versteck heraus. Mit größter Vorsicht schlichen sie nach unten und über den Hof zum Tor hinaus. Dann liefen sie, so schnell sie konnten, nach Hause. Den Geldbeutel hatte sich Betim in den Mantel gesteckt, sodass sie unauffällig blieben. Denn auch so war die Gasse um diese Stunde menschenleer.
Noch hatten sie sich von der Aufregung nicht erholt, als sie Kerzenschein aus der Mittelhalle des Konaks leuchten sahen. Vorsichtshalber legte Betim den Beutel an der Schwelle zur Mittelhalle auf den Boden.
Said saß auf dem Diwan und stellte sie prompt zur Rede.
„Woher kommt ihr so spät?“
Betim hatte fest damit gerechnet, dass Said nach dem Versteckspiel noch in die Moschee gehen würde. Aber hier saß er nun, verlangte eine Antwort und durfte auf keinen Fall den Beutel mit dem Geld zu Gesicht bekommen.
„Ach, wir waren noch etwas draußen ...“, stotterte Mersed.
„... und haben die Gelegenheit genutzt, und sind durch die Gassen gebummelt. Die Gaslampen, das Mondlicht, der glitzernde Schnee und die feierliche Atmosphäre. Was gibt es Schöneres?“
„Mit den Mädchen zu spielen hat euch wohl keinen Spaß gemacht?“, bohrte Said nach.
„Doch, schon. Aber Betim und ich wollten einfach lieber nur für uns sein.“
„Schon gut, macht doch was ihr wollt. Vor mir müsst ihr euch nicht rechtfertigen.“
Nun galt es, die Beutel schnellstens zu verstecken, und Betim wusste auch schon wo. An der Decke im Flur des Obergeschosses festgebunden hing eine Leiter, die man mit einer Leine herunterziehen konnte, um dann durch eine Luke in eine Dachkammer hinaufzusteigen. Die Zeit eilte. Destegül übernachtete heute bei ihrer Cousine, aber Ibrahim und Afife konnten jeden Augenblick nach Hause kommen. Deshalb forderte er Mersed auf, Said abzulenken.
In der Kammer befanden sich vor allem Lebensmittelvorräte. Diese wurden den Sommer über im kühlen Erdgeschoss aufbewahrt und im Winter dann hier oben gelagert. Fehlte nur noch ein geeignetes Versteck für die Geldbeutel, und das fand er unter einer losen Holzplanke auf dem Fußboden, die sich nach oben bog und nur noch von einem einzigen Nagel gehalten wurde. Betim verstaute die Beutel in dem Loch und klemmte die Planke anschließend wieder fest. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich darunter ein wahrer Schatz verbarg. Sogar ihm selbst würde es wahrscheinlich schwerfallen, die Stelle wiederzufinden: die dritte Fußbodenplanke hinter der großen Holzstrebe, das durfte er nicht vergessen.
Als Betim wieder herunterstieg, fiel ihm ein großer Steinbrocken vom Herzen. Said und Mersed saßen auf der Fensterbank und schauten auf die Straße hinaus, und auch von Ibrahim und Afife war nichts zu sehen. Niemand hatte mitbekommen, wo er gerade gewesen war.
„Ihr beide müsst morgen früh in die Schule und ich in die Kirche zur Neujahrsmesse. Lasst uns die Decken aus dem Schrank holen und schlafen“, schlug Betim den anderen beiden vor. Und als er wenig später auf seiner Matratze lag und die Augen schloss, verspürte er vor allem eines: Stolz auf sich selbst und seinen Wagemut.
Der nächste Morgen war für Said ein ganz gewöhnlicher Schultag, während Ibrahim, Afife und Betim ihren Nachbarn Garbis wie versprochen zur Neujahrsmesse in die Surp-Sarkis Kirche begleiteten.
Direkt vor ihrem Haus stießen sie auf Garbis und seine Familie, und auf dem Marktplatz dann auch auf Lisias und Daphne mit Eleftheria und Stavros, die schon ungeduldig auf die Armenier warteten.
„Guten Morgen Ibrahim, hast du dich verirrt?“, grüßte Lisias gut gelaunt. Deine Medrese liegt doch in der anderen Richtung, oder wollt ihr so früh schon in die Moschee?“
Als ihm Garbis verriet, dass Ibrahim und Afife mit ihnen in die Messe kommen würden, verbesserte das Lisias' ohnehin schon gute Laune noch weiter.
Eine knappe halbe Stunde später standen sie vor der Kirche der orthodoxen Armenier am Bosporus. Gerade noch rechtzeitig, denn an Feiertagen wie diesem herrschte immer großer Andrang. Und an keinem anderen Tag im Jahr war die Messe so gut besucht wie am Neujahr.
Kaum hatten sie in der letzten Reihe Platz genommen, setzte auch schon die musikalische Begleitung der Psalmen ein, die gemeinsam gesungen wurden. Danach trug Vater Krikor, in eine lange, pechschwarze Kutte mit Kapuze gekleidet, Verse aus dem Liturgiebuch Mastoc vor. Vorn auf seinem Gewand prangte neben einem silbernen Kreuz ein goldener Adler, der die armenische Kirche symbolisierte.
Anschließend sprach die versammelte Gemeinde einige Bittgebete, dann erhoben sich die Kirchenbesucher geschlossen von ihren Plätzen.
„Jetzt gehen wir alle zusammen zum Meer hinunter“, klärte Garbis Ibrahim auf. „Dort weiht Vater Krikor das Wasser, indem er das Kreuz dreimal kurz hinein taucht.“
„Was hat diese Weihe denn zu bedeuten?“, wollte Afife von Tamar wissen.
„Sie ist vor allem eine symbolische Handlung. Das Wasser wird stellvertretend für die ganze Schöpfung geweiht, die ja auch aus Wasser besteht. Außerdem gedenken wir mit dieser Weihe auch der Taufe unseres Herrn Jesus Christus.“
Die feierliche Prozession zum Meer und die anschließende Wasserweihe waren die Höhepunkte der Messfeier. Danach standen die Kirchenbesucher noch eine Weile zusammen und zerstreuten sich dann in alle Himmelsrichtungen.
„Feiert ihr denn gleich zuhause noch weiter, Lisias?“, fragte Ibrahim seinen griechischen Nachbarn auf dem Rückweg ins Viertel. Lisias redete von Natur aus nicht viel. Man musste ihm die Wörter förmlich aus der Nase ziehen, aber am heutigen Tag war er in bester Festtagslaune:
„Ja natürlich, mit der Familie. Wollt ihr nicht auch kommen? Daphne hat gestern Abend gebacken.“
„Na dann, auf zu Lisias“, scherzte Garbis und hakte sich bei Ibrahim unter. Einzig an Betim nagte die Unruhe. Was, wenn heute oder in den nächsten Tagen die Spuren der Eindringlinge von gestern Abend entdeckt würden?
Sami bediente gerade seine Gäste, als er die Kirchbesucher den Marktplatz überqueren sah. Augenblicklich ließ er alles stehen und liegen, stürzte ihnen förmlich entgegen und nahm Ibrahim und Garbis zur Seite. Garbis bedeutete den Frauen, schon einmal ohne sie vorzugehen.
„Ibrahim, Garbis endlich! Salih Hodscha sucht schon die ganze Zeit nach euch. Er wirkte völlig aufgelöst. Als ich ihn fragte, was los ist, wollte er mir nichts sagen. Aber so habe ich ihn noch nie erlebt. Er wartet in der Stiftung auf euch.“
Betim löste sich in diesem Augenblick auch aus der Gruppe. Nicht etwa um zu Lisias zu gehen, um mit den anderen noch weiter zu feiern. Er hegte die Absicht, nach Hause zu gehen, um sich von der angeblich anstrengenden Feierlichkeit in der Kirche zu erholen. Er ahnte schon, dass die leere Schatulle, die er gestern Nacht leergeräumt hatte, der Grund für Samis Aufgebrachtheit war. Während dessen gingen Ibrahim und Garbis schnellen Schritts in die Stiftung.
Im Hof des Gebäudes begegneten sie zwei Soldaten, die ihnen berichteten, dass der Naib, der Hilfsrichter von Galata, in einer dringenden Angelegenheit in die Verwaltung gerufen worden sei.
„In einer dringenden Angelegenheit?“, stutzte Ibrahim. „Was in aller Welt könnte denn bei uns so dringlich sein?“
„Komm, lass uns keine Zeit verlieren. Wir gehen nach oben und besprechen die Sache mit Salih Hodscha“, mahnte ihn Garbis zur Eile.
Die Tür der Verwaltung im Obergeschoss stand weit offen. An Ibrahims Schreibtisch saß ein in einen langen Mantel gekleideter vollbärtiger Mann mit einer hohen Kopfbedeckung, der sich ihnen als Naib vorstellte, als Stellvertreter des Kadi, des obersten Richters. Als solcher führte er Ermittlungen durch und durfte auch Urteile sprechen. Ibrahim und Garbis wunderten sich nur, dass sie beide ihn nie zuvor gesehen hatten. Auch wenn diese Beamten dienstlich nicht örtlich gebunden waren, mussten sie einem solchen Mann bereits einmal begegnet sein. Neben ihm stand Salih Hodscha in einer fast als unterwürfig zu bezeichnenden Haltung. Ibrahim und Garbis begrüßten den Hilfsrichter und fragten ihn:
„Verratet Ihr uns, was Euch hierher führt?“
„Salih Hodscha hat heute Morgen bemerkt, dass das Geld der Stiftung verschwunden ist. Daraufhin hat er uns sofort verständigt. Wir untersuchen gerade, ob eingebrochen wurde oder was sonst vorgefallen sein könnte. Erst jetzt entdeckte Ibrahim die Holzschatulle, die offen und leer auf seinem Schreibtisch stand. Er war fassungslos.
„Von dem Geld fehlt jede Spur, genau wie von den Dieben.“
„Aber das ist doch unmöglich. Wer käme denn auf die Idee, hier einzubrechen? Ausgeschlossen. Unsere Stiftung gehört doch allen Menschen hier im Viertel“, stammelte Garbis.
„Vielleicht jemand von außerhalb des Viertels“, schlug der Hilfsrichter vor. „Noch wissen wir es nicht. Unsere Untersuchungen laufen noch, und dafür werdet auch Ihr mir gleich Rede und Antwort stehen müssen. An Euch, Salih Hodscha, habe ich vorläufig keine weiteren Fragen mehr. Ihr könnt gehen.“
Und so befragte der Hilfsrichter Ibrahim und Garbis im Beisein von zwei Soldaten, was jedoch keine weiteren Erkenntnisse zu Tage förderte. Tatsache war, dass das Geld nicht mehr an seinem Platz lag. Einbruchsspuren fanden sich keine, aber die Türen waren ja ohnehin nicht verschlossen gewesen. Folglich konnte durchaus jemand in das Gebäude eingedrungen sein.
Im Laufe der Befragung kam der Hilfsrichter aber von diesem Gedanken ab.
„Ihr habt Recht. In all den Jahren ist noch nie jemand in das Stiftungsgebäude eingebrochen. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt geändert haben? Ihr beiden dagegen habt freien Zugang zu dem Raum und wusstet, wo das Geld deponiert war.“
Schockiert und gleichermaßen entrüstet wiesen Ibrahim und Garbis diesen unausgesprochenen Vorwurf zurück und beteuerten ihre Unschuld.
„Hatte vielleicht einer von Euch Schulden, die er dringend zurückzahlen musste?“, hakte der Hilfsrichter weiter nach. Auch Salih Hodscha hatte er diese Frage schon gestellt. Aber nicht zuletzt deshalb, weil er es gewesen war, der den Diebstahl angezeigt hatte, hatte der Hilfsrichter ihn schnell als Dieb ausgeschlossen.
„Was wollt Ihr damit sagen, Euer Ehren? Wir engagieren uns doch schon seit Jahren für die Stiftung, ohne uns dafür bezahlen zu lassen. Gerade in den letzten Jahren haben wir ihr unendlich viel freie Zeit geopfert“, verteidigte sich Ibrahim empört, und Garbis geriet schier außer sich:
„Dass wir uns bereichert haben sollen, kann nicht Euer Ernst sein. Die Menschen in diesem Viertel kennen uns von Kindheit an. Ich kenne keinen ehrlicheren und aufrichtigeren Menschen als Ibrahim. Er ist ein Vorbild für uns alle und lehrt die islamischen Wissenschaften in der Medrese. Wie könnt Ihr ihm da einen Diebstahl unterstellen?“
„Das ist mir bereits zu Ohren gekommen. Doch wenn ich Ihn ausschließen würde, würde nur noch ein Verdächtiger übrigbleiben, nämlich Ihr, Garbis, sein Stellvertreter.“
„Ich weiß wirklich nicht, wohin dieses Gespräch führen soll, Euer Ehren, und was Ihr mit diesen Unterstellungen beabsichtigt. Aber Ibrahim und ich würden jeden Eid bei Allah und der heiligen Maria schwören, dass wir nichts mit diesem Diebstahl zu tun haben“, setzte sich Garbis verzweifelt zur Wehr.
„So leid es mir tut, als Verantwortliche der Stiftung muss ich Euch beide festnehmen. Denn wie man es auch dreht und wendet - die Stiftungsgelder wurden Euch anvertraut, und nun sind sie nicht mehr da. Wie könnte ich Euch also von Schuld freisprechen?“ Ohne weitere Widerrede zuzulassen, befahl er den Soldaten: „Abführen!“