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Kapitel 11
ОглавлениеJeden Freitag langweilte sich Said, weil ihm Eleftheria und Hagop fehlten, die in der Schule die Bank drücken mussten. Destegül verbrachte die meiste Zeit mit ihrer Mutter im Hof, wo sie seit einiger Zeit aus Stoffballen, die sie von Garbis bekamen, entsprechende Kleider zuschnitten. Der armenische Schneider nahm von seinen Kunden jeden Tag viele Bestellungen entgegen, denen er alleine mit seiner Frau nicht nachkommen konnte, und war auf Unterstützung angewiesen. Er schlug Afife vor, ihm die viele Arbeit abzunehmen und sich damit einen Nebenverdienst zu sichern. Ibrahim fehlte ihr seit nunmehr zwei Jahren. Die Pension von Halil Agha fiel gegenüber den Ausgaben der Familie nicht ins Gewicht.
Saids Langeweile konnte auch die Gesellschaft seines Cousins nicht vertreiben. Denn mit Mersed ließ sich nichts Gebührendes anfangen. Neulich hatte er den Mewlewi-Konvent besucht und dort seinen guten, alten Freund Selim getroffen, der ihm von den Verhältnissen im Palast berichtete und darüber, dass er nur noch in Begleitung der zwei Soldaten in die Öffentlichkeit durfte. Saids Hände waren gebunden. Er ging mit gesenktem Kopf auf den Marktplatz, um sich durch die Schreie der Händler abzulenken, die ihre Waren feilboten. Dabei dachte er an die zwei Jahre, die er noch hinter sich bringen musste, um den Abschluss zu schaffen und in die Rekrutenschule aufgenommen zu werden. Betim war zwei Jahre älter als er und würde in diesem Sommer bereits ihr Konak verlassen und in den Staatsdienst eintreten. Schließlich tröstete er sich mit den Worten seines Hodschas, der ihm eine Verkürzung seiner Schulbildung versprach, falls er so ehrgeizig und emsig weiterlernte wie bisher.
„Hallo Said!“, hörte er aus dem Hintergrund. Die Stimme kam ihm vertraut vor. Er drehte sich um und sah Daphne.
„Hallo Tante Daphne. Schön dich zu sehen“, erfreute sich Said.
„Du bist ja ganz verträumt. Was ist?“, fragte sie.
„Ach nichts. Mir ist nicht gut zumute. Es gibt vieles, was mich betrübt“, sagte er.
„Verstehe mein Lieber. Am meisten vermisst du, so glaube ich, deinen Vater, nicht wahr?“, fragte sie.
Seine Gefühle vermischten sich dermaßen, dass er sie nicht einordnen konnte und nicht entscheiden konnte, was ihn am meisten bedrückte.
„Mein Vater“, sagte er dann, „verließ uns für einige Jahre. In der Zeit sollte er seine Ausbildung zum Naib abschließen und wieder zurückkehren. Es kam jedoch anders. Der Provinzgouverneur von Bosnien beorderte ihn zu sich und ließ meinen Vater dort das Amt des Naib antreten. Aber das ist doch nur der Wunsch dieses Mannes. Der sollte auch mal an die Kinder des Naibs, und nicht nur an sich denken.“
„Aus deiner Sicht hast du natürlich Recht, Said. Aber wer will einen Mann wie deinen Vater, der aufrichtig, ehrlich und fleißig zugleich ist, aus seinen Händen gleiten lassen?“
„Sollte mein Vater doch lieber ein unehrlicher und fauler Mensch sein, damit ich ihn wiedersehen kann“, sagte Said. Daphne lächelte hinter vorgehaltener Hand und versuchte dabei ihre Gefühle im Zaum zu halten, die Said kränken konnten, wenn er sah, wie sie sich über diese Bemerkung amüsierte.
„Die Wege des Herrn sind unergründlich, Said. Warten wir es ab, was unser Herr uns demnächst bescheren wird“, versuchte Daphne ihn aufzuheitern.
„Mein Glaube an ihn ist unerschütterlich, Tante Daphne. Er wird uns schon einen Weg zeigen“, tröstete er sich.
„Braucht ihr etwas vom Markt? Deine Mutter hat in letzter Zeit alle Hände voll zu tun von Garbis‘ Aufträgen. Sie lässt sich seit zwei Wochen auch nicht auf dem Markt blicken“, sagte Daphne.
„Sie hat mir nichts gesagt. Aber trotzdem danke sehr“, entgegnete ihr Said.
„Nicht zu danken, mein Lieber. Komm doch am Nachmittag zu uns. Eleftheria erfreut sich deiner Anwesenheit. Auch Stavros fühlt sich sehr wohl, wenn du mit ihm spielst.“
Für das Spielen werde ich zu alt, dachte sich Said, aber stimmte ihr dennoch zu, weil er diesen öden Zustand kaum noch ertragen konnte.
Am Nachmittag saß er auf einem Stein auf der Galata-Turm-Straße gegenüber dem Konak von Eleftheria und schaute sich nach ihr um. Jeden Augenblick sollte sie mit Hagop und Stavros um die Ecke marschieren und ihn grüßen. Sie waren nämlich die einzigen, mit denen die Zeit wie im Flug verging. Sein sehnliches Warten verwandelte sich in eine unbeschreibliche Begeisterung, als er seine Freunde um die Ecke kommen sah.
„Hallo Said“, grüßte ihn schnell Eleftheria und winkte ihm zu.
„Hallo Eleftheria“, sagte Said, schaute sie an und hielt einen Moment inne.
„Was ist mit uns?“, fragte Hagop pikiert.
„Ach, Hagop. Auf dich habe ich auch die ganze Zeit gewartet“, sagte Said und umarmte seinen Freund, damit er es ihm vergab.
„Schon gut“, sagte Hagop. Sie legten ihre Taschen ab, setzten sich auf große Steine, die sich am Straßenrand befanden, und unterhielten sich. Eleftheria entwickelte Said gegenüber andere Gefühle als noch vor einem Jahr und merkte, dass sie und Said zu jungen Erwachsenen heranwuchsen. Es war nicht mehr das Freundschaftsgefühl, das in ihr aufflammte, sondern es keimte ein Gefühl auf, das sie anders über Said zu denken verleitete. Sie empfand eine Zuneigung zu ihm, die sie jedoch noch nicht aussprechen konnte. Da sie sich zum ersten Mal in einen Jungen verliebte, wusste sie nicht, ob ihre Gefühle von anderen verstanden wurden oder nicht. Sie ließ es nicht anmerken und tat so, als wären sie die Nachbarskinder, die wie ehedem ihre Spiele auf den Straßen spielten.
„Hast du in letzter Zeit von deinem Vater gehört?“, fragte Hagop Said.
„Nein. Das letzte Mal schrieb er vor einem Monat und sagte, es gehe ihm gut in Bosnien. Aber er vermisse uns und sein Viertel sehr“, antwortete Said.
„Wie sehen die Aussichten für eine Rückkehr aus?“, stellte Eleftheria die nächste Frage.
„Wenn ich das wüsste, Eleftheria. Ich brauche einfach seine Nähe. Mein Großvater versucht seine Abwesenheit vergessen zu machen, indem er mit mir einfach alles unternimmt, aber ein Großvater ist kein Vater“, schluchzte Said.
„Kann ich verstehen“, bestätigte Hagop.
„Wie das? Dein Vater ist doch bei dir, Hagop“, sagte Eleftheria.
„So hat er es doch nicht gemeint“, korrigierte Said sie.
Eleftheria verspürte den Missmut, den sie bei Said erzeugt hatte, und entschuldigte sich. Sie wollte ihm nie wehtun und ihm auch nie widersprechen. So sehr mochte sie ihn.
„Schon gut“, ergriff Said wieder das Wort und lenkte das Gespräch in eine andere Bahn: „Wie sieht es mit deiner Zukunft aus Hagop? Bist du immer noch entschlossen, das Geschäft von deinem Vater zu übernehmen, wenn du die Schule abgeschlossen hast? Oder hat sich an deinen Plänen etwas geändert?“
„Die Geschäfte meines Vaters blühen auf. Es wäre schade, wenn ich ihn im Stich lassen und unseren Familienbetrieb nicht ausweiten würde. Außerdem ist mein Vater lokal beschränkt und bei der Lieferung der Stoffballen auf bestimmte Händler angewiesen. Ich werde bei der Anschaffung der Stoffe über die Grenzen fahren und neue Zusteller finden, die die gleichen Waren preisgünstiger anbieten. Er bezieht seine Ballen von holländischen Kaufleuten, deren Schiffe unten am Hafen anlegen. Als ich einmal meinen Vater zum Hafen begleitete, hörte ich Händler untereinander reden, chinesische und indische Stoffe wären noch strapazierfähiger und langlebiger“, berichtete Hagop.
„Na, du hast dich ja schon in das Geschäft eingearbeitet, mein Freund“, sagte Said und wandte sich an Eleftheria und stellte ihr die gleiche Frage.
„Ob ich meinem Vater in seinem Pelzgeschäft aushelfe oder meinen eigenen Weg gehe, weiß ich noch nicht“, sagte sie und dachte an die gemeinsame Zukunft mit Said. Ihn als Mann zu haben und mit ihm glücklich sein. Das waren eigentlich ihre Wünsche, aber wie sollte sie das äußern? Sie wusste es nicht und schwieg.
„Vielleicht tun sich unsere Väter zusammen und die Geschäfte expandieren dann. Wer weiß?“, sagte Hagop und schaute Eleftheria an.
„Vielleicht“, sagte sie nur knapp und hob ihre Schultern hoch.
„Egal, was wir auch später sein mögen, eins steht fest: Wir bleiben immer die besten Freunde. In guten wie in schlechten Zeiten“, brachte es Said auf den Punkt. Hagop und Eleftheria stimmten ihm zu.
„Will denn keiner fragen, was ich sein möchte?“, fiel ihnen belustigt Stavros ins Wort. Der inzwischen elfjährige Sohn des Griechen Lisias erfand immer frohsinnige Sprüche und brachte die anderen zum Lachen.
„Na dann schieß mal los, mein Kleiner“, forderte ihn Said auf.
„Also, ich möchte Priester sein, so wie Vater Krikor. Er wird von jedem in der Gemeinde geachtet. Er kümmert sich um seine Schüler und sorgt für die armen Menschen, die an seine Tür klopfen. Er ist für mich der Repräsentant unseres Herren Jesus Christus in unserer Umgebung. Wenn ich ihn mir ansehe, denke ich an unseren Herren“, teilte Stavros seine Wünsche mit.
„Das wird eine tolle Gemeinschaft. Der eine wird Geschäftsmann und denkt wirtschaftlich. Der andere geht in die Armee und denkt militärisch. Der letztere geht in die Mutter Kirche und denkt geistlich“, fasste Said zusammen und überlegte, was er Eleftheria zuschreiben sollte. Er hörte in letzter Zeit viel von den musikalischen Bemühungen seiner Freundin und setzte fort:
„Und du Eleftheria, wenn du deines Vaters Geschäfte nicht übernehmen solltest, dann sei du unsere Künstlerin. Deine Begabung beim Spielen auf der Harfe ist in aller Munde. Du sorgst dann immer für eine gute Stimmung, wenn es uns nicht heiter zumute ist.“
Sie alle lachten.
Diese Heiterkeit schwand dahin, als Betim um die Ecke kam und nach ihnen rief. Ihn konnten mittlerweile auch Hagop und Eleftheria nicht mehr leiden, weil er jeden Spaß verdarb und immer wieder mit überflüssigen Bemerkungen stichelte.
„Na Kinder, was macht ihr hier?“, fragte Betim.
„Nichts“, erwiderte ihm Said.
„Ich kam soeben aus der Schule und habe dich im Konak nicht gefunden, Said. Ich dachte mir, dass du wieder mit deinen kleinen Freunden zusammen bist“, spöttelte er.
„Sag mal. Wie wäre es, wenn du deinen Kumpel Mersed suchst und mit ihm die Zeit verbringst, anstatt uns zu belästigen?“, zürnte Eleftheria.
„Meine Anwesenheit ist also nicht erwünscht“, bemerkte Betim.
„So viel Intelligenz in deinem Alter ist anerkennenswert“, verhöhnte ihn Hagop.
Said trat Betim nicht zu nah. Obwohl er ihn innerlich hasste, teilte er seit Jahren denselben Haushalt mit ihm. Gleichgültig was er tat – er war seiner Familie anvertraut. Er würde bald von alleine das Viertel verlassen, wenn er zur Rekrutenschule aufgerufen würde.
„Komm Betim, du bist hier nicht willkommen, also mach dich jetzt vom Acker“, sagte Said.
Betim ließ diese Sprüche nicht länger über sich ergehen und begab sich zurück in den Konak.
Von der Gasse aus sah er Mersed aus dem Fenster ihres Konaks auf die Straße schauen und winkte ihm zu.
„Kommst du runter?“, fragte Betim.
„Ja. Warte. Ich wollte sowieso gleich zu dir kommen“, erwiderte Mersed und eilte auf die Gasse. Auf Wunsch Merseds trotteten sie gemeinsam zu Said und die anderen, nicht um sich mit ihnen zu unterhalten, sondern um sie aus der Nähe zu belauschen und sie zu piesacken. Hagop sah die beiden Quengler, die sich in Hörweite auf Steine hockten und in ihre Richtung blickten.
„Einer reicht wohl nicht, um unseren Spaß zu verderben“, sagte Hagop.
„Lass dich doch nicht aus der Fassung bringen. Das ist das, was die wollen“, entgegnete ihm Eleftheria und schielte zu den beiden Plagegeistern. Sie bemerkte Mersed, wie er sie mit seinen Blicken durchbohrte und währenddessen Betim etwas erklärte. Sie wandte sich wieder ab und tat so, als ob sie sich nicht davon verdrießen ließe. Doch die Neugierde ließ Eleftheria nicht los. Sie blickte über die rechten Schulter von Said, der Mersed den Blickwinkel versperrte, erneut zu ihm hinüber, und empfand seine Stielaugen, mit denen er sie anstierte, als grobe Belästigung.
„Sag mal, hast du Probleme mit deinen Augen?“, stürmte Eleftheria auf Mersed los. Sie heftete ihre geballten Fäuste an ihre Hüfte und sah Mersed herausfordernd an.
„Was ist los?“, mischte sich Said in die Furore ein.
„Ach nichts, Said. Dieser Spanner glotzt mich schon die ganze Zeit an“, sagte Eleftheria und deutete mit dem Zeigefinger auf Mersed.
„Was erlaubst du dir eigentlich, unsere Freundin anzugaffen, du Lümmel?“, rief Hagop zu und bewegte sich zwei Schritte nach vorne, um Mersed Angst einzujagen.
„Was soll das Spektakel, Kinder?“, schritt Betim in den Zank ein und versuchte die Streiterei beizulegen.
„Betim, nimm meinen Cousin mit und unterhaltet euch woanders. Das Viertel ist groß genug und reicht für uns alle aus“, versuchte Said die erhitzten Gemüter zu besänftigen.
Die beiden Radaumacher sausten davon und suchten sich einen ruhigeren Ort, als ob sie nicht für die Unruhe zuständig gewesen wären. Sie schritten die Galata-Turm-Straße hoch und blieben vor der Bäckerei von Emrullah stehen. Der Duft der frischgebackenen Fodlas verführte die beiden. Mersed sog den Geruch auf und schloss dabei seine Augen.
„Unser Herr hat schon Hunger bekommen“, scherzte Betim. Mersed fand sich wieder, dachte an den Zwischenfall von vorhin und öffnete sich Betim. Obwohl er dessen Herumkommandieren nicht ausstehen konnte, gab es für Mersed niemanden, dem er seine Geheimnisse anvertrauen könnte. Mit wem, wenn nicht mit Betim, sollte er sein Anliegen teilen? Wenn er dieses Gefühl nicht aussprach, kam es ihm vor, als ob es ihm zur Last fiele.
„Betim, ich muss dir was beichten“, fing er dann an.
„Ich höre, Mersed“, erwiderte ihm Betim und richtete seine Blicke auf seinem Kumpan. Durch die Angst, von jemandem belauscht zu werden, schlug er Betim vor, hinter den Galata-Turm zu gehen und sich in eine menschenleere Ecke zu verkriechen. Sie kauerten sich auf den Boden, wobei Mersed sich umsah und sich vergewisserte, dass auch niemand in der Nähe war.
„Betim. Ich muss dir was beichten“, wiederholte er.
„Na, dann schieß mal los, Junge. Was gibt‘s?“, bohrte Betim nach.
„Ich glaube, ich bin verliebt“, beichtete Mersed schließlich.
„Verliebt? In wen denn?“, schrie er inbrünstig.
„Sei leise, Mann“, warnte ihn Mersed flüsternd und hielt seinen rechten Zeigefinger vor seine Lippen.
„Ist gut. Ist gut“, wisperte Betim. „Wahnsinn. Unser Herr ist verliebt. Und wer ist die Glückliche?“, fragte er weiter.
„Eleftheria“, gestand Mersed.
„Na ob das gut geht? Sie hasst dich wie den letzten Dreck“, kränkte er Mersed.
„Woher willst du das wissen?“, widersprach ihm Mersed.
„Na, an ihren Augen. Glaubst du ich merke es nicht, wie sehr sie in Said verliebt ist?“, sagte Betim.
„In Said? In meinen Cousin?“, staunte Mersed.
„Natürlich. Das sieht doch eine blinde Kuh“, versicherte ihm Betim.
„Ich nicht. Denn ich bin weder blind noch eine Kuh“, schimpfte er mit Betim, trat ihm näher und ging ihm an den Kragen. Zum ersten Mal in ihrer Beziehung fühlte sich Mersed überlegen.
„Was machst du Junge?“, versetzte Betim. Mersed nahm seine Hand wieder von Betims Kragen und nahm wieder Vernunft an.
„Ist das wahr, Betim?“, fragte er sodann.
„Natürlich.“
„Aber ich empfinde eine grenzenlose Liebe zu ihr“, sagte Mersed. Betim sah die Trauer auf Merseds Gesicht und die Tränen, die seine Wangen herunterkullerten.
Betim, der eine harte Natur besaß und sich von niemandem in Mitleidenschaft ziehen ließ, betrachtete die Gefühle seines Freundes als kindisch und verweigerte seinen Trost. Er begnügte sich sogar mit einem spöttischen Lachen, verließ die Ecke hinter den Galata-Turm und ließ seinen Freund mit seiner Kummer allein. Mersed blickte ihm nur hinterher und wägte seine Beziehung zu Betim nochmal ab. Betim behandelte ihn wie seinen Handlanger. Er plante alles, befahl und verheimlichte sogar einiges, während er, Mersed, nur gehorchte und tat, was er sagte. Seine Beschimpfungen ließ er sogar über sich ergehen und brachte keinen Ton heraus. Auch in dieser Lage dachte Betim nur an sich. Was war mit dem vielen Geld, das sie der Stiftung entwendet hatten? Betim versteckte es oben auf dem Dachboden bei Said, und er, sein Komplize, wusste nicht einmal, wo es war, obwohl das Geld unter ihnen beiden aufgeteilt werden sollte. Das sagte zumindest Betim, aber er ließ seinen Worten keine Taten folgen. Wenigstens die Hälfte müsste doch ihm gehören, weil sie diesen Raub zu zweit durchgezogen hatten. Betim konnte und durfte das Geld nicht für sich beanspruchen und er das Nachsehen haben. Wer braucht schon kein Geld?, dachte er. Der Freitag bot eine gute Gelegenheit, den Konak von Ibrahim zu durchsuchen, um herauszufinden, wo Betims Versteck war. Der Markt und die anschließende Beschäftigung von Afife und Ibrahim in der Stiftung dauerten länger, sodass sie bis in die Abendstunden fort waren. Said und Destegül nutzten den einzigen schulfreien Tag der Woche aus und trödelten auch auf dem Markt herum. Blieb nur noch zu hoffen, dass Halil Agha nicht dort war.
Am Nachmittag schlich Mersed in den Konak, wo er von seinem Kumpan überrascht wurde. Er hockte alleine zu Hause und langweilte sich. Mersed setzte sich zu Betim und ließ sich von seinem Zorn ihm gegenüber nichts anmerken. Auf Merseds Frage hin, tischte ihm Betim eine Lüge auf, er sei krank und sei deshalb zu Hause geblieben.
„Na, hast du dich von deinem Kummer wieder erholt, Mersed?“, fragte Betim.
„Ja, es geht wieder“, log ihn diesmal Mersed an.
Er hielt kurz inne und wechselte das Thema, um seinem Plan nachzugehen.
„Sag mal, Betim“, ergriff Mersed das Wort, „ich habe gehört, wie du in der Schule bist. Es heißt, du passt nie auf“. Damit zog er den Zorn Betims auf sich.
„Wer erzählt denn diesen Mist?“, schimpfte Betim.
„Na der Hagop. Euer Lehrer, wie er auch immer heißt ...“
„Pater Varujan“, ging Betim dazwischen.
„... genau der. Er soll sich über deine Leistungen sehr beschweren und hätte mit Onkel Garbis in der Gemeinde darüber gesprochen.“
„Unsinn. Onkel Garbis hat mir nichts davon erzählt“, protestierte Betim.
„Mit meinem Großvater wolle er auch sprechen“, setzte Mersed fort.
„Soll er doch. Ich werde auch alles erzählen, was in der Schule vorgeht“, sagte Betim.
„Was meinst du, ob er eher dir oder deinem Lehrer glaubt?“ Mersed ging Betim allmählich auf die Nerven.
„Junge, guck dich erst einmal selber an. Du bist auch keinen Deut besser als ich“, brauste Betim auf.
„Wir reden aber gerade von dir, Betim. Nicht von mir“, ließ Mersed den Streit eskalieren.
„Halt jetzt deinen Schnabel, Mersed. Du gehst mir auf die Nerven“, fing Betim zu schimpfen an und drängte Mersed hinaus. „Ich will dich hier nicht sehen!“
Merseds Plan ging trotzdem auf. Zu seinem Staunen legte sich Betim nicht hin, sondern ging wutentbrannt aus dem Haus, ließ aber noch die Bemerkung los, Mersed solle auf der Stelle nach Hause gehen.
Auf der Gasse bog Betim in die Galata-Turm-Straße in Richtung Feuerwehrturm ab und Mersed tat so, als ginge er nach Hause. An der Straßenecke spähte er ihm nach, bis er ihn aus den Augen verlor.
Er machte auf dem Absatz kehrt und begab sich wieder in den Konak seines Onkels. Dort nahm er zuerst die Treppe und stieg dann vorsichtig mit gedämpften Schritten die Leiter zum Dachboden hinauf.
Oben angekommen durchwühlte er leise die Dachkammer nach der Beute, die sie gemacht hatten. Wo mochte Betim sie wohl versteckt haben? Es kam ihm vor, als suche er eine Nadel im Heuhaufen. Ab und zu spähte er nach unten, um sicher zu gehen, dass niemand früher als gewohnt nach Hause kam. Zudem musste er zu Hause sein, bevor sein Onkel und natürlich auch seine eigenen Eltern kamen. Allmählich schwanden seine Hoffnungen und er dachte ans Gehen. Plötzlich fielen ihm die Geräusche ein, die er an jenem Abend aus dieser Kammer gehört hatte. Es waren Schläge mit einem Stein oder einem ähnlich festen Körper gewesen. Hatte er etwas zugemauert oder etwa versperrt? Mersed schaute sich schnell nach einer Zange um, die er in der Werkzeugkiste seines Großvaters fand. Wenn sein Schicksal es gut mit ihm meinte, dann würde er das Versteck schon finden. Dafür wollte er jede Holzplanken einzeln überprüfen und die Nägel herausziehen. Nach einer Weile stand er mitten in einer großen Baustelle mit vielen lose liegenden Holzplanken um sich herum. Er besann sich an den Tag, an dem er mit Said den Schreiner Hüseyin in seinem Laden besucht hatte, und wofür dieser seine Utensilien brauchte. Hüseyin hatte den beiden Cousins erklärt, wie er beim Hämmern ein Filztuch verwendete, um kein Lärm zu erzeugen, der seine Nachbarn gestört hätte. Mersed fand in einer Kiste Reste von Filz und bediente sich. Bevor er die Nägel wieder in die Planken schlug, hielt er den Filzrest auf die Schlagfläche davor und hielt ihn fest. Anschließend nagelte er die entfernten Planken wieder fest und zog mit der Zange seines Großvaters die Nägel weiterer Planken. Es verging eine volle Stunde und jederzeit könnte er erwischt werden. Die dritte Planke hinter der großen Holzstrebe, die den Dachstuhl trug, gab ihm endlich das, was er sich wünschte. Als er sie herausnahm, lag darunter der Beutel, er schnürte ihn auf und erblickte die Goldmünzen, die einst der Stiftung gehört hatten. Ohne zu zögern, füllte er die Hälfte des Geldes nach Augenmaß in einen zweiten Beutel, den er mitgebracht hatte, und versiegelte mit hastigen Handbewegungen und zittrigen Händen die Öffnung im Boden. Plötzlich vernahm er von unten das Quietschen einer Tür im Obergeschoss und verschloss rasch die Dachbodenklappe, damit niemand Verdacht schöpfte. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, hob er den Deckel leicht hoch und spähte in den Korridor. War es ihm mit Betim in der Stiftung nicht ähnlich ergangen, als die dunkle Gestalt ihren Rundgang gemacht und sie fast erwischt hatte? Mersed sah keine Menschenseele und hörte keinen Ton. Vorsichtig öffnete er die Klappe, steckte seinen Anteil unter seinen Gürtel und stieg die Leiter hinunter. Aus dem Vorbereitungsraum überraschte ihn eine Katze, die fauchend in den Korridor und von da aus in die Mittelhalle flitzte. Mersed erschrak durch diese plötzliche Bewegung des Tieres und fiel auf den Boden. Was hatte wohl diese Katze im Konak zu suchen? Sie gehörte nicht seinem Onkel, auch wenn er ein Tierliebhaber war. War das ein Zeichen für Mersed, das ihn seiner Untat wegen ermahnte? Langsam stand er auf, vertrieb diese abergläubischen Gedanken und wandte sich der Treppe zu.
„Ich kriege heute Abend einfach keine Ruhe“, brummte Betim im Hof und kam auf die Treppe zu. Hastig suchte Mersed nach einem Unterschlupf, um von Betim nicht gesehen zu werden. Wieso kam er so schnell wieder zurück? Er musste auch draußen einen Zank mit jemandem gehabt haben. Mersed floh wieder auf den Dachboden, denn Betim konnte im Konak in jedes Zimmer gehen, aber was hätte er um diese Zeit auf dem Dachboden gewollt? Er stieg die Leiter wieder hoch und hielt sich so lange oben auf, bis die Luft unten wieder rein war. Dabei versuchte er von oben zu verfolgen, womit sich Betim gerade beschäftigte. Als er von ihm nichts mehr hörte, öffnete er die Luke, kletterte die Leiter hinunter und machte sie vorsichtig wieder zu. Auf Zehenspitzen wandte er sich zur Treppe und blickte in die Mittelhalle. Betim lag mit dem Gesicht zum Fenster und bekam nichts von seinem Eindringen mit.
„Du hältst mir meinen Anteil vor, aber ich nehme ihn mir trotzdem, du Schlafmütze. Träum weiter von deiner Zukunft“, lachte Mersed in sich hinein und ging von dannen, um ähnlich wie Betim sein eigenes Versteck auf dem Dachboden ihres Konaks zu basteln.
Seine Eltern und seine Schwester waren nicht zu Hause. Das Schicksal meinte es heute einfach gut mit ihm. Es ging alles wie geschmiert. Aber die Umsetzung seines Planes verlief sehr mühevoll. Doch wenn man auf dieser Welt etwas erreichen wollte, dann musste man dafür etwas opfern. Sein Vater pflegte einst zu sagen, das Geld verdiene man nicht so einfach. Es koste einen Schweißperlen auf der Stirn. Mersed strich mit seiner Hand über die Stirn, wischte den Schweiß ab und gab seinem Vater Recht.