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Kapitel 10

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Die Hohe Pforte, 1774

In den Morgenstunden eines kalten Freitags im Januar begab sich Prinz Selim mit seiner Mutter Walide Sultan, seiner Amme und einer aus einem Dutzend Soldaten bestehenden Eskorte in die Eyüp-Moschee, um Bittgebete auszusprechen. Nicht nur die Königlichen besuchten freitags das neben der Moschee befindliche Grabmal des großen Märtyrers Eyüp, eines Weggefährten des Propheten, der für die Eroberung dieser Stadt vor über zehn Jahrhunderten in den Sattel gesprungen war und hier den Tod gefunden hatte. Walide Sultan suchte in letzter Zeit öfter diesen Ort auf, um für ihren Ehemann, den Sultan Mustafa, der seit Tagen im Sterbebett lag, zu beten. Als die Kutschenpferde gegen Mittag durch das großherrliche Tor des Palastes in den ersten Hof galoppierten, ahnte Walide Sultan Schlimmes. Der Bote des Hofes sah die Sultansfrau hereinkommen und eilte zu ihr. Er beugte sich ehrerbietig vor ihr und dem kleinen Prinzen und bekundete schluchzend sein herzzerbrechendes Anliegen.

„Walide Sultan, euer Ehren. Unser Herr, Sultan Mustafa, nahm vor kurzem Abschied von uns. Seit einer Stunde suche ich nach Ihnen.“

Walide Sultan und Selim fühlten sich wie vom Blitz getroffen und wollten dieser Nachricht keinen Glauben schenken. Sie hielt kurz inne und äußerte sich sodann.

„Unser liebster Sultan ist tot, sagst du?“, seufzte sie tief und riss sich wieder zusammen, um nicht in aller Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen.

„Vater“, kreischte Selim und lief in den zweiten Hof, wo sich die Privatgemächer seines Vaters befanden. Hinter ihm her hetzten seine Mutter und seine Amme. An der Schwelle des königlichen Gemachs hielt ihn ein wachhabender Soldat aus Reflex auf, zog er seinen Arm aber sogleich wieder weg, als er den Prinzen erkannte, und gestattete ihm den Zugang. In der Mitte des Gemachs lag sein toter Vater auf einem großen Bett, und der Scheichulislam, das religiöse Oberhaupt des Reiches, hockte neben dem Bett und rezitierte leise aus dem heiligen Koran. Selims Vater war von seinen Wesiren umringt. Die sonst sehr ehernen Männer bekundeten unter Tränen ihre Trauer um seinen Vater. Nicht zuletzt stand auch sein Onkel Abdulhamid an der Kopfseite und trauerte mit.

„Mein herzliches Beileid, Prinz Selim“, sagte der Scheichulislam, nachdem er mit der Rezitation fertig war. Selim brachte jedoch durch die Wehklagen keinen Ton heraus und nickte nur kurz mit dem Kopf. Das religiöse Oberhaupt fuhr fort:

„Jedes Wesen wird den Tod finden. So schreibt Allah in seinem Buch. Was bleibt, sind die guten Taten eines Menschen, die er hinterlässt. Er hat viel für unser Reich getan. Die vielen Erneuerungsversuche im Militär, die Gründung einer Marineschule, sogar die Geldleistungen für die Erdbebenopfer aus seiner eigenen Tasche werden ihn im Jenseits nicht alleine lassen. Was könnte ein Mensch noch hinterlassen, wenn nicht gut ausgebildete Kinder? Er hinterlässt zwei brillante Söhne und fünf makellose Töchter, die sich alle ihrer Verantwortungen bewusst sind.“

Einige Wesire blickten in diesem Moment auf Selim, der seinen Kopf hob und in die Gesichter dieser starken Männer sah. Alle bis auf einen schauten ihn mitleidig an. Allein der Kaimakam Köse Musa, der anstelle des Großwesirs seinen Platz in der Runde einnahm, ließ Selim schaudern. Er war für Selim der Luzifer in Menschengestalt, der auf Erden weilte. Er hatte diesen listigen Mann nie leiden können.

Als der Scheichulislam seine Predigt zu Ende gebracht hatte, gab er ein Zeichen an die Anwesenden, den Raum zu verlassen, damit der Sultan für die Totenwäsche vorbereitet werden konnte. Selim sollte seinen Vater nur noch einmal bei seinem Begräbnis in dessen weißen Todesgewand sehen. Denn nach dem Freitagsgebet würde der Grabeszug in Richtung Laleli-Moschee aufbrechen, damit die Menschen ihrem toten Sultan in seiner selbsterrichteten Moschee die letzte Ehre erweisen konnten.

***

Salih Hodscha verkündete in seiner Freitagspredigt auf der Kanzel die traurige Nachricht, die er kurz vor dem Gebetsruf erhalten hatte. Ihm war die Kehle wie zugeschnürt und die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er riss sich jedoch zusammen und predigte weiter. Said, der neben seinem Onkel kniete und seinem Hodscha zuhörte, dachte bei dieser Nachricht an seinen Freund Selim, in welchem Zustand er sich wohl befand und was er wohl gerade tat. Um ihn nicht im Stich zu lassen, bat er seinen Onkel nach dem Gebet, ihn in den Palast zu begleiten, damit er seinem guten Freund sein Beileid aussprechen konnte.

„Abgesehen von deiner Begleitung ist es meine Pflicht, bei der Beerdigung dabei zu sein, Said“, sagte ihm Adil Bey. „Ein Diwanmitglied darf an so einem Tag nicht fehlen.“

„Wann brechen wir auf, Onkel?“, wollte Said wissen.

„Sofort. Salih Hodscha wird auch mitkommen“, antwortete ihm sein Onkel. Der Imam vertrat die königliche Hoheit in seinem Viertel und hatte das Amt des Ortsvorstehers inne. Nachdem er sich Adil Bey und Said angeschlossen hatte, fanden sie auf der Galata-Turm-Straße eine leere Droschke und stiegen sofort ein. In Windeseile erreichten sie den Palast und fuhren an ihm vorbei.

„Warum haben wir nicht angehalten, Adil Bey?“, fragte Salih Hodscha.

„Weil die Prozession höchstwahrscheinlich bereits auf dem Weg zum Grabmal in Laleli ist“, antwortete Adil Bey. Die Kutsche glitt über die gepflasterten Straßen und hielt in der Nähe der Moschee. Eine große Menschenschar überraschte sie am Eingang. Adil Bey versuchte, sich durch diese Menge einen Weg zum Grabmal zu bahnen und nutze sein Amt, damit die Menschen ihm aus dem Weg gingen. Salih Hodscha und Said folgten ihm. Said bemerkte Selim, der von Trauer erfüllt neben großen, vollbärtigen Männern und neben seinem Bruder stand, seine Lippen bewegte und anscheinend Bittgebete murmelte. Adil Bey stellte sich ohne ein Wort neben diese großen Männer. Said folgte seinem Beispiel und fand die Nähe seines Freundes. Selim bemerkte Said und drückte kurz seine Augen zu, als Zeichen der Entgegennahme des Beileids seines Freundes, während er weiterhin Tränen weinte. Nach der weihevollen Grablegung des Sultans bildete sich eine Reihe von Menschen, die zuerst den Wesiren und dann den beiden Prinzen kondolierten. Auch Said nahm die Anteilnahmen aus Mitgefühl zum Prinzen entgegen. Anschließend folgte Selim seinem Onkel, der wahrscheinlich der nächste Sultan sein sollte, in Begleitung der königlichen Kavalkade zurück in den Palast und trennte sich von Said.

***

Selims Onkel Abdulhamid versammelte den Staatsrat, um über die Wahl des neuen Sultans zu sprechen. Er sah sich als den größten Favoriten, weil seine beiden Neffen noch sehr jung für dieses Amt waren. Er lud sie aber trotzdem ein, weil sie das gleiche Recht auf den Thron hatten wie er. Selim bekümmerte die Staatsführung weniger und er wollte seinen Verzicht in der Runde mitteilen. Seit einigen Jahren hatte er eine Liebe zu seiner Längsflöte entwickelt, deren Klang er zum ersten Mal im Mewlewi-Konvent zu Galata gehört hatte. Inzwischen spielte er selber darauf. Die Gelehrten in der Palast-Schule Enderun lehrten ihn auch die Feinheiten der Kalligraphie, sodass er auch den Umgang mit dem Schreibrohr gut beherrschte. Er sah seine ganze Welt, die aus Musik und Kunst bestand, gefährdet, sollte er sich auf dem Thron mit den blutigen Auseinandersetzungen seines Reiches gegen die Russen und Österreicher beschäftigen. Das Blut der Soldaten auf dem Schlachtfeld durfte die harmonischen Klänge der mystischen Musik, die er spielte, und die Schriften, die sein Wesen mit einer umfassenden Zufriedenheit erfüllten, nicht überschatten.

Sein Onkel ergriff das Wort in der Runde, die neben den acht Wesiren und dem Kaimakam des Großwesirs Köse Musa, noch aus dem Janitscharen-Agha, dem Großadmiral, dem Scheichulislam und vier weiteren hochrangigen Paschas zusammensetzte, von den Schriftführern abgesehen. Der Großwesir weilte gerade auf der Halbinsel Krim, wo er kurz vor der Beendigung des osmanisch-russischen Krieges stand.

„Verehrte Staatsratsmitglieder. In Anbetracht der Tatsache, dass uns mein Bruder heute Morgen für immer verließ, sind wir berufen, einen neuen Sultan zu wählen. Gerade in Zeiten wie diesen, die mit Kriegen und innerem Aufruhr nicht mehr zu ertragen sind, brauchen wir einen klaren Kurs, der nur durch eine starke Regierung zu erreichen ist. Seit sechs Jahren führen wir Krieg gegen die Russen und haben in dieser Zeit immense Territorialverluste hinnehmen müssen. Fast der gesamte Balkan ist uns aus den Händen geglitten. Im Inneren dagegen haben die vielen Reformen meines Bruders, die dazu dienen sollten, das Militär und die Jurisdiktion zu verbessern, keine bedeutenden Früchte geliefert. Wir ernähren immer noch Janitscharen, die alle drei Monate ihren Sold erhalten und dafür keinen Dienst erweisen, dafür aber die Stadt plündern und das soziale Leben bedrohen. Unsere Infanterie wurde vom Schrecken des Abendlandes zur Plage unseres Reiches. Die Frevler in der Bürokratie tun es den Soldaten nach. Dagegen brauchen wir Reformen und Männer, die diese zielgerecht umsetzen. So wie Sie meine Herren, so wie einige gutmütige, verantwortungsbewusste Bürokraten in unserem Reich, so wie der treue Khan der Khanats Krim Sahib Giray, und so wie unser französischer Freund Francois Baron de Tott.“

Selim hörte den zuletzt erwähnten Namen zum ersten Mal und überlegte, ob er nachfragen oder es lieber sein lassen sollte. Schließlich unterbrach er seinen Onkel, denn die anderen Entwicklungen, die sein Onkel ansprach, kannte er bereits.

„Selim, der Mann, den ich erwähnte, kam vor vier Jahren nach Istanbul, bevor er uns zwei Jahre lang auf der Krim nützliche Dienste gegen die Russen erwies. Er ist ein französischer Militärakademiker und gründete hier die Marineschule, in der er weiterhin Mathematik für Werftingenieure unterrichtet. Er bildet qualifizierte Marinesoldaten aus und entwickelte selber Artilleriegeschosse, die wir gegen die Russen eingesetzt haben. Noch Fragen?“

„Nein, Onkel“, antwortete Selim. Sein Onkel fuhr fort und zog seine Rede in die Länge, während Selim sie lieber zügig über die Bühne gebracht hätte, um sich mit seiner Flöte zu vereinen. Die Regierungsgespräche bedrückten ihn allmählich, und er dachte an die Qual, der er ausgesetzt wäre, sollte er Sultan werden. Gott möge ihn davor beschützen.

„Onkel“, unterbrach Selim erneut. Alle Blicke richteten erneut auf ihn.

„Ich weiß nicht, was mein Bruder darüber denkt, aber ich verzichte auf den Thron und denke, dass du die richtige Person für die Aufgaben bist, die du vorhin aufgezählt hast. Du bekommst auch seit Jahren viel mit von den Regierungsgeschäften und bringst die notwendige Erfahrung mit.“ Auch wenn Abdulhamid jahrelang unter der strengen, höfischen Kontrolle seines Vorgängers im sogenannten Kafes abgeschottet lebte, erfuhr er von den Entwicklungen im Land. Sein Bruder, der dritte Thronanwärter, folgte dem Beispiel Selims und gab die Fahne an seinen Onkel weiter.

„Meine Herren“, sagte Abdulhamid, „kein Kandidat für das Sultansamt darf von anderen beeinflusst werden. Ich habe meine Neutralität bewahrt und meinen Neffen die gleiche Chance gegeben. Sie bekundeten jedoch ihren Verzicht auf den Thron, sodass uns eine Wahl zwischen drei Anwärtern erspart bleibt. Äußern Sie bitte Ihre Meinungen dazu.“

„Lang lebe Sultan Abdulhamid ... lang lebe Sultan Abdulhamid“, riefen die Ratsmitglieder, und ernannten damit den Selims Onkel zum neuen Sultan der Osmanen.

Diese schlagartige Ernennung des neuen Sultans zugunsten von Abdulhamid bereitete Köse Musa diebische Freude. Denn er, der neue Sultan, brachte nicht die Tatkraft mit, die er in seiner Rede von seinen Weggefährten forderte, sondern würde alsbald zu seinem Spielball werden. Sein verstorbener Bruder war entschlossen bei der Umsetzung der Reformen gewesen. Er jedoch war von untertäniger Natur.

Selim hatte die Durchsetzungskraft und Beharrlichkeit von seinem Vater geerbt, die man schon jetzt von seinem Gesicht ablesen konnte, obwohl er erst dreizehn Jahre alt war. Wäre der kleine Prinz in diesem Zustand Sultan geworden, hätte Köse Musa schlechte Karten gehabt. Er hätte nicht so freizügig seine Intrigen spinnen können. Nach seinem Onkel wäre er dran, und bis dahin sollte er die Beschränktheit und Abschottung des Kafes-Lebens spüren, damit er auch im gleichen Maße wie der Neugewählte ein ineffizienter Herrscher sein würde.

Nach der Ratssitzung begab sich Selim in seine Kammer und kniete mit angezogenen Beinen auf seinem Diwan. Er suchte nach den richtigen Tönen auf seiner Flöte, um die Trauer um seinen verstorbenen Vater auszudrücken. In diesem Moment klopfte es an der Tür und seine Mutter, die Walide Sultan, bat ihn um Eintritt. Er hing seine Flöte wieder an den Nagel in der Wand und blickte mit feuchten Augen auf seine Mutter. Erst mit ihrer Anwesenheit bemerkte er den Fehler, den er begangen hatte, den Trost nicht bei seiner Mutter, sondern bei seiner Flöte gesucht zu haben. Schließlich brauchte auch sie in so einem Zustand die Nähe ihres Sohnes.

„Mein liebster Prinz. Es ist schwer, in so einer prekären Lage zu reden. Aber du weißt es genauso gut zu schätzen wie ich, was das für uns bedeutet. Wir müssen stark sein. Dein Onkel wurde soeben zum neuen Herrscher gewählt.“

„Woher weißt du das, Mutter?“, fragte sie Selim.

„Aus dem Gemach der Sultansfrauen öffnete sich eine Aussparung zum königlichen Ratssaal, von der aus ich alles verfolgen kann. Diese Öffnung ist gitterartig und ist so beschaffen, dass ich alles sehe und höre, aber die Ratsmitglieder mich nicht sehen und, wenn ich nicht rede, auch nicht hören können.“

„Du belauschst also die Regierungsgespräche ohne die Kenntnis dieser Männer?“, fragte Selim und zeigte seinen Unmut.

„Die Frauen der Sultane waren dazu berechtigt, und dein Vater hatte es mir auch erlaubt, sowie unsere Vorfahren ihren Frauen. Außer der Walide Sultan durfte sonst niemand den Gesprächen zuhören.“

„Hast du auch Einfluss auf die Gespräche, wenn dir etwas nicht gefällt, Mama?“

„Nein, mein Kind. Aber ich denke, wir sollten jetzt nicht über diese Angelegenheit reden. Was würden die Menschen über uns denken, wenn sie hörten, dass wir am Sterbetag deines Vaters über das Belauschen des Rats hinter den Gittern redeten?“

„Stimmt, Mama.“

„Du hast in der Sitzung deinen Verzicht auf den Thron erklärt“, fügte Walide Sultan hinzu.

„Jawohl Mama. Regieren steht mit meiner Natur nicht in Einklang. Ich widme mich lieber meiner Musik und der Kunst der Schönschrift. Nur sie fördern meine Glückseligkeit.“

„Aber denk daran, dass irgendwann dein Onkel auch sterben wird und du oder dein Bruder dieses Land regieren werdet. Schließlich habt ihr beide euch in der Palast-Schule Enderun das erforderliche Wissen angeeignet. Du kannst nicht einfach dieser Verantwortung entfliehen“, predigte sie ihm.

„Ich kann ab und zu an den Sitzungen teilnehmen, um mich auf dem Laufenden zu halten, und beschäftige mich dann wieder mit meiner Musik“, sagte Selim.

„Ob das für dich ab heute so einfach sein wird, bezweifle ich, mein Kind“, äußerte sich Walide Sultan.

„Warum das, Mama?“

„Weil dein Onkel dich ab heute in deine Kammer verweisen wird, aus der du nur mit Erlaubnis deines Onkels und mit der nötigen Begleitung herauskommen kannst“, erklärte sie.

„Aber warum müssen die Prinzen so ein hartes Leben erleiden?“

„Weißt du es denn nicht? Deinem Onkel ging es genauso, als dein Vater noch regierte. Es ist eine Vorkehrung der Sultane, um ihre mögliche Opposition auszuschalten, damit sie nicht durch diese am Regieren gehindert werden.“

„Aber ich zeige doch kein Interesse an den Regierungsgeschäften, Mama.“

„Wem sagst du das, Kind?“

„Und wenn ich in den Mewlewi-Konvent in Galata gehen oder zusammen mit meinem Freund Said Zeit verbringen möchte?“

„Es wird immer jemand in deiner Nähe sein, der deinem Onkel berichtet, wo du warst und mit wem du verkehrst, mein Kind.“

„Das ist aber eine Knechtschaft, die man einem Prinzen zumutet, Mama.“

„So ist es, Selim. Das ist das Schicksal der Prinzen. Ich begebe mich zu den Konkubinen, die für mich eine Trauerveranstaltung abhalten wollen. Sie erwarten mich bereits.“

„Danke für deinen Besuch und für deine Ratschläge, Mama“, sagte Selim.

Walide Sultan stand auf und machte ein paar Schritte bis zur Tür. Dann blieb sie an der Schwelle stehen, drehte sich um und gab ihrem Sohn einen letzten Hinweis mit auf den Weg:

„Pass auf die Leute in deiner Nähe auf, Selim. Es werden nicht alle deine Freunde sein.“

Selim stimmte ihr mit einer kurzen Kopfbewegung zu, und seine Mutter verließ die Kammer.

***

Als Selim sich entschloss, seine Kammer zu verlassen und auf dem Hof nach frischer Luft zu schnappen, bemerkte er vier wachhabende Soldaten an seiner Tür.

„Was ist der Grund eurer Anwesenheit vor meiner Kammer?“, zürnte Selim.

„Wir sind damit beauftragt, Sie stets zu beschützen und überall hin zu begleiten, Euer Exzellenz“, sagte ein Soldat, der der Befehlshaber dieser Gruppe zu sein schien.

„Wie und gegen wen wollt ihr mich beschützen?“, hakte Selim nach.

„Die zwei werden immer an Ihrer Tür stehen und Wache halten, Exzellenz“, sagte der Mann und zeigte auf zwei seiner Männer.

„Ich und mein dritter Soldat werden sie auf Schritt und Tritt begleiten, wohin Sie auch zu gehen wünschen.“

Mit einem zweiten Schatten hatte Selim nicht gerechnet, aber die Worte seiner Mutter trafen zu.

„Ich würde gern in den Hof gehen, wenn ihr gestattet“, sagte Selim und schaute den Mann missbilligend an.

„Euer Exzellenz, Sie entscheiden, wohin Sie gehen möchten und wir folgen Ihnen.“

Selim äußerte sich nicht mehr und schlenderte über den Hof, wobei er sich immer wieder zu seinen beiden Verfolgern umdrehte, die links und rechts hinter ihm gingen.

Die Menschen zeigten ihre langgezogenen Gesichter und zwangen sich zu einem Lächeln, als sie ihren Prinzen begrüßten. Der Tod seines Vaters musste die Hofbewohner hart getroffen haben. Plötzlich tauchten vor ihm zwei Gestalten auf, die er zuvor nie gesehen hatte. Der Junge und das Mädchen, die ihm gegenüberstanden, schienen in seinem Alter zu sein.

„Euer Exzellenz. Ich spreche mein herzliches Beileid aus. Es war für Sie sicherlich ein harter Schicksalsschlag. Aber der liebe Gott meint es auch mit dem Tod der Menschen immer gut mit uns. Es wird eine Lehre für die Hinterbliebenen sein“, sagte der Junge. Das Mädchen nickte bei diesen Worten nur zustimmend mit dem Kopf und brachte keinen Ton heraus.

„Danke sehr. Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie sich mir vorstellen würden?“

„Sicher. Wir sind Geschwister und wurden vor sechs Jahren im Palast aufgenommen. Wir werden in den Palastschulen dem Stande entsprechend erzogen. Ich in der Jungenschule Enderun und meine Schwester in der Mädchenschule Harem. Ich heiße Kamil, eure Hoheit, und meine Schwester heißt Kamile.“

Kamil verschwieg seinen echten Namen und den seiner Schwester mit Absicht. Selim sollte erst Jahre später erfahren, dass er es mit einem Farhad und einer Parwin zu tun haben sollte, die vom persischen Schach in den Palast geschickt und von dem listigen Köse Musa hineingeschmuggelt wurden waren und später dem Prinzen das Leben zur Hölle machen sollten.

Machtkampf am Bosporus

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