Читать книгу Lese-Paket 1 für den Strand: Romane und Erzählungen zur Unterhaltung: 1000 Seiten Liebe, Schicksal, Humor, Spannung - Sandy Palmer - Страница 54

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Sie saßen sich in Dr. Timmels Praxis gegenüber, Dr. Timmel noch im weißen Kittel, Hans in Wildlederjacke, weißem Rollkragenpullover und Jeans. Im Augenblick sah er aus wie ein Sportler, nicht wie ein Arzt. Aber an sein Äußeres verschwendete er im Augenblick keinen Gedanken. Und obgleich er ein erfahrener Mediziner war im Bereich der Notfallchirurgie, fragte er dennoch, als sei er ein Medizinstudent im ersten Semester: „Wie geht es weiter?“

Dr. Timmel lächelte nicht über die Frage des Freundes. Er konnte sich vorstellen, wie einem Mann zumute ist, der zwar Hunderte, vielleicht Tausende von Patienten behandelt hatte, der schon oft genug dem Tod ins Angesicht sah, dass dieser selbe Mann, wenn es um die eigene Frau ging, ganz anders empfand, und sich in nichts von einem normalen Nichtmediziner unterschied.

„Es ist jetzt der Beginn des Nervendruckstadiums. Das Karzinom hat begonnen, auf die Blase überzugreifen. Von nun an geht es ziemlich rasch. Erlösung aus diesem unheilbaren Stadium bedeutet die Urämie infolge der Umklammerung oder eine sekundäre Infektion der Harnwege, schließlich Tod durch septische Pyelitis - also einer Nierenbeckenentzündung - einer Nierenentzündung oder ganz einfach einer allgemeinen Sepsis, also einer Blutvergiftung infolge Einbruch des Karzinoms in ein Gefäß. Es kann auch zu einer Bauchhöhlenentzündung kommen, einer Peritonitis also. Auf alle Fälle wird sie von Tag zu Tag mehr Schmerzen empfinden, und wir müssen sie unter einer Morphiumglocke halten, um ihr wenigstens das zu ersparen.“

„Und du hast nichts machen können?“

„Nichts“, erwiderte Dr. Timmel. „Eine Totaloperation hätte nicht nur nichts gebracht, sondern die Sache nur noch beschleunigt. In einem solchen Zustand wäre das kriminell.“

Hans rang die Hände, wischte sich wie geistesabwesend über die Stirn, schüttelte fassungslos den Kopf und stöhnte: „Sie ist noch so jung. Sie ist doch viel zu jung dazu, zu jung, um zu sterben.“

Dr. Timmel schwieg. Was sollte er auch sagen? Was es zu sagen gab, war gesagt.

Hans hob den Kopf, sah ihn an und meinte: „Es musste so kommen. Aber dass es sie trifft, ausgerechnet sie! Mich hätte es treffen müssen.“

„Wieso dich?“, fragte Dr. Timmel kopfschüttelnd.

„Es ist eine lange Geschichte, das heißt, so lang ist sie gar nicht. Vorige Woche, als ich vom Kongress zurückkam, habe ich unterwegs eine junge Frau kennengelernt. Sie war mit ihrem Wagen auf einer Landstraße in den Graben gerutscht. Harmlose Sache. Ich habe den Wagen wieder herausgezogen mit meinem Fahrzeug, und wir beide haben im selben kleinen Gasthof übernachtet, in allen Ehren natürlich. Und weil dort in diesem Gasthof gerade ein Ball war oder irgend so etwas, haben wir nicht unten, sondern in meinem Zimmer gegessen.“ Dr. Timmel nickte, als wisse er schon, wie es weitergehen müsste. Aber Hans sah es und schüttelte den Kopf.

„Nicht, wie du denkst. Ehrlich gesagt, auch da wäre ich nicht gefeit gewesen. Ich wollte es von ihr. Aber sie hat sich mir verweigert, obgleich ich sah und erkannte, dass sie mit allen Fasern ihres Körpers danach verlangte. Und trotzdem hat sie eine Kraft aufgebracht, die ich noch nicht einmal versucht habe, aufzubringen. Aber ich wusste, schon in diesem Moment wusste ich, dass ich sie wiedersehen wollte, und ich will sie noch immer wiedersehen. Ich wollte sie wiedersehen - genauer gesagt, wollte ich das bis vorhin, bis zu dem Augenblick, da du mir diese furchtbare Erkenntnis um Ingrids Zustand übermittelt hast.“

„Aber wieso gibst du dir da eine Schuld?“, fragte Dr. Timmel.

„Das fragst du noch?“, rief Hans. „Ich habe sie betrogen. Es war zwar nur ein Kuss. Mehr ist nicht passiert zwischen uns. Aber im Grunde kann ich da nur wiederholen, was schon Tolstoi sagt, dass man seinen Ehepartner schon dann betrügt, wenn man eine andere Frau nur verzehrend ansieht und sich das wünscht, was hier gar nicht eingetreten ist. Aber ich habe es mir gewünscht. Und ich habe gehofft, dass sie ja sagt. Am nächsten Morgen ist sie dann vor mir weggefahren. Ich habe nicht mal ihren Namen. Ich weiß nur, dass sie ein Auto fährt, das aus Frankfurt stammt, ein kleiner elfenbeinfarbener Fiat 127.“

„Ziemlich mager, aber im Grunde schon zu viel, denn du willst sie ja vergessen. Willst du es wirklich?“, fragte Dr. Timmel.

„Ingrid ist meine Frau. Wie lange glaubst du, ohne zu übertreiben, wird sie noch leben?“

„Ich habe dir ja erklärt, welche Möglichkeiten eintreten können. Es ist ungefähr in einem Monat so schlimm, dass es für sie eine Gnade bedeutet, wenn es geschieht. Natürlich werden wir mit einer Polychemotherapie und mit Bestrahlung die Sache zumindest einzudämmen versuchen. Aber du weißt ja selbst, dass all das nur verzögernde Wirkung hat. In ihrem Zustand sind viele Maßnahmen, die wir treffen, rein palliativen Charakters, also dienen letztendlich der Linderung. Aber eine Heilung können sie nicht erzielen. Wem sag ich das? Du weißt das ja so gut wie ich. Ich gebe ihr alles in allem höchstens ein halbes Jahr.“

Hans presste sich die Fäuste an die Schläfen. „Das ist es ja. Ich weiß es. Und soll ich dir etwas sagen? Hartmut, die ganze Zeit, da sagst du dir, das ist ein Patient. Es ist ein Mensch, dem du helfen willst, dem du helfen wirst, aber irgendwie letztendlich ist es ein Fremder. Doch jetzt betrifft es mich selbst. Es ist meine Frau, eine Frau, die ich einmal sehr geliebt habe.“

„Liebst du sie nicht mehr?“, fragte Dr. Timmel.

Dr. Berring hielt die Hände wie im Gebet zusammen, betrachtete seine Fingerspitzen und sagte so leise, dass ihn Dr. Timmel nur mit Mühe verstand: „Ich weiß nicht. Diese Frau, die ich da kennengelernt habe, ist so etwas Besonderes, so etwas Überwältigendes, dass das, was ich bisher für meine Liebe zu Ingrid hielt, im Grunde fast ein Nichts ist, eine Freundschaft, eine vielleicht liebevolle Bindung, aber Liebe? Liebe ist etwas ganz anders. Das weiß ich jetzt. Stell dir einmal vor, ich lerne eine Frau kennen und bin vom ersten Augenblick an wie verzaubert von ihr, und irgendwie bilde ich mir ein, dass es ihr ähnlich gegangen sein muss. Gibt es so was? Wenn ich das früher einmal gehört oder gelesen hätte, ich wäre versucht gewesen, zu lachen. Und jetzt erlebe ich, dass so etwas möglich ist. Ich fühle mich schuldig, denn in diesem Augenblick weiß ich, dass dieses Verhältnis zu Ingrid doch eine Bindung ist, die mich verpflichtet, die mir nicht nur Rechte gibt, Rechte an Ingrid. Es ist eine Verpflichtung. Und deshalb möchte ich die Frau, die ich da traf, nie wiedersehen.“

„Du redest dir eine Schuld im Augenblick ein, die ich für sinnlos halte. Das ist keine Schuld“, sagte Dr. Timmel. „Natürlich hat dich alles geschockt. Aber, mein Gott, so hart es auch sein mag, du wirst es ertragen müssen. Du musst damit leben. Und vor allen Dingen musst du die Kraft haben, sie von früh bis abends anzulügen. Der Augenblick, da sie von selbst dahinterkommt, wird sowieso eines Tages eintreten. Dann musst du Farbe bekennen. Aber je länger du es hinauszögern kannst, umso länger erhältst du ihr die Unbefangenheit, gibst du ihr die Kraft, aus der kurzen Zeit, die ihr noch verbleibt, etwas Schönes zu machen.“

Hans war wie benommen, als er aufstand, sich fast mechanisch bei Dr. Timmel bedankte und dann wie in Trance hinausging, hinaus auf den sonnenüberfluteten Hof, wo die Rosen in voller Blüte standen, wo der Springbrunnen hoch aufsprühte und im Sonnenlicht in allen Farben des Spektrums schillerte, wo ein paar Schwestern, die dienstfrei hatten, am Rande des Brunnens saßen, miteinander scherzten, wo Patienten gingen, die lachten. Die ganze Welt schien glücklich zu sein, glücklich über diesen schönen Tag nach einer langen Regenperiode.

Hans ging wieder an seine Arbeit. Drüben, in der Unfallchirurgie, da war reichlich zu tun. Er versuchte, sich damit zu betäuben. Jetzt zu Ingrid zu gehen, war sinnlos. Sie befand sich noch unter den Nachwirkungen der Narkose. Vorhin war er kurz bei ihr gewesen. Sie hatte ihn erkannt kurz nach dem Erwachen, hatte ihn angelächelt, und außer einigen belanglosen, wie einstudiert wirkenden Worten hatte er nichts zu ihr gesagt. Jetzt wäre es ihm noch schwerer gefallen, da er die ganze Wahrheit kannte.

Es gelang ihm nicht, Ingrids Schicksal zu vergessen, auch während einer Notfalloperation nicht. Immer wieder musste er an sie denken. Und unter diesen Gedanken verblasste tatsächlich das Bild von Heidi, was vorher noch alles andere überstrahlen konnte.

Hans fühlte sich schuldig. Und wenn alle zu ihm gesagt hätten, dass es Wahnsinn war, sich für etwas die Schuld zu geben, was er gar nicht verschuldet haben konnte, er selbst machte sich diese Vorwürfe. Ich habe sie betrogen. Ich habe ihr bis heute nichts davon gesagt, und ich werde es ihr niemals sagen können. Jetzt erst recht nicht. Aber ich werde es wieder gut machen, dachte er. Ich werde mich um dich kümmern, Ingrid. Ich werde nur für dich da sein, für dich und niemand anderen.

Nach der Notfalloperation wollte er auf die Station gehen, aber die Sekretärin des Chefarztes kam zu ihm und sagte: „Herr Dr. Berring, der Chef lässt Ihnen etwas ausrichten. Morgen kommen diese Herren aus Frankfurt. Sie wissen doch, diese Untersuchungsreihe, an der Sie zusammen mit unserem Anästhesisten teilnehmen werden.“

„Ach ja!“ Dr. Berring blickte die etwa fünfzigjährige blonde Chefsekretärin an, eine nette Frau, die er wegen ihrer Zuverlässigkeit sehr schätzte. Mit ihrer dunklen Brille und dem weißen Kittel wirkte sie streng und unterkühlt, ein Eindruck, der überhaupt nicht stimmte. Sie galt als sehr hilfsbereit und war immer recht nett ,Der Chef hat Sie für die Operationen, die morgen angesetzt sind, dispensiert“, sagte die Sekretärin.

Hans nickte nur, und es sah mürrisch, fast grimmig aus.

Ein wenig besorgt kam die Chefsekretärin näher und fragte: „Herr Dr. Berring, ist etwas mit Ihnen? Sind Sie krank? Sie sehen so blass aus.“

„Ach was“, meinte er schroff, „was soll sein? Ein Haufen Arbeit, was sonst?“

Sie blickte ihn zweifelnd an und sagte: „Vielleicht sollten Sie einmal Urlaub machen. Verdient hätten Sie es. Ihre Frau würde sich gewiss auch freuen, wenn Sie mit ihr in Urlaub führen.“

„Meine Frau liegt drüben in der Gynäkologie.“

„Um Himmels willen, das habe ich nicht gewusst“, sagte die Sekretärin erschrocken. „Entschuldigen Sie bitte. Wie geht es ihr denn?“

„Nun ja, wie soll es ihr gehen? Reden wir nicht davon!“ Er wandte sich ab und ließ die erschrocken dreinblickende Frau einfach stehen.

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