Читать книгу Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext - Sara Izzo - Страница 10

1.1.3 Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses

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Die beiden unterschiedlichen Konzepte des Möglichkeitsfeldes finden bei Foucault und Bourdieu in der Vorstellung eines aussagenspezifischen Korrelationsraums eine Schnittmenge, die den Ausgangspunkt für die sich anschließende Analyse formen soll. Die textuelle Grundlage bildet ein Korpus politischer, teils journalistischer, teils literarischer, Schriften Jean Genets, sodass sich die Untersuchung um eine Autorenpersönlichkeit innerhalb der gesellschaftspolitisch ereignisreichen Jahrzehnte der 1960er und 1970er Jahre zentriert.

Anhand seiner zwischen 1968 und 1983 entstandenen Texte soll ein historisch determiniertes Aussagensystem herausgearbeitet werden, das auf der Basis textueller Interdependenzbeziehungen in Erscheinung tritt. Trotz dieser Autorenzentrierung, welche den diskursanalytischen Prämissen entgegenläuft und daher einen flexiblen Umgang erfordert, können Foucaults Bestimmungskriterien nutzbar gemacht werden: Gemeinsame Diskursobjekte, -konzepte und -typen repräsentieren wichtige Marker einer diskursiven Einheit. Die historische Situierung von Genets Stellungnahmen erfolgt durch das Erfassen von Interdependenzverhältnissen sowohl auf der personalen, als auch auf der textuellen Ebene. Die interpersonalen Relationen ergeben sich aus dem zeithistorischen und biographischen Kontext und determinieren auch die textuellen Referenzen. So werden in einem ersten Schritt beispielsweise ausgewählte, in konkreten, zeitpolitischen Situationen entstandene Schriften Genets mit vor demselben historischen Hintergrund verfassten Texten Michel Foucaults und Jean-Paul Sartres einerseits sowie solchen Allen Ginsbergs und William S. Burroughs’ andererseits kontrastiert. Der so abgesteckte Kommunikationsraum zwischen den Autoren soll in Analogie zu Bourdieus Konzept feldspezifisch strukturiert werden. Genets politische Positionsnahmen werden daher in einem ersten Teil im intellektuellen Feld in Frankreich und in einem zweiten Teil im gegenkulturellen Feld in den USA situiert. Insbesondere jener Aspekt aus Bourdieus Feldanalyse, wonach stets der Einzelpersönlichkeit ein feldspezifischer Distinktionswert zuerkannt und der Bereich der Stellungnahmen in Homologie zu den Einzelpositionen betrachtet wird, erweist sich in Hinblick auf die so komplexe und schillernde Autorenpersönlichkeit eines Jean Genet als gewinnbringend. Wie die Analyse aufzeigt, kennzeichnet sich seine Positionierung in beiden Feldern tatsächlich durch eine ostentative und strategische Desertion.

Genet betritt die politische Bühne Frankreichs erstmals während der studentischen Unruhen im Mai 1968, erwehrt sich jedoch von Beginn an einer öffentlichen Funktionalisierung seiner Persönlichkeit für bestimmte politische Zielsetzungen. Obgleich er sich im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen bewusst von seinem literarischen Werk distanziert, beansprucht er auch weiterhin die Denomination als Poet für sich, die ihm gegenüber Sartre und Foucault als Differenzierungsmodell dient. So berichtet Edmund White in seiner monumentalen Biographie, dass Genet die Publikation eines zeitkritischen Artikels mit den Worten verweigert:

I don’t want to publish anything about France. I don’t want to be an intellectual. If I publish something about France, I’ll strike a pose as intellectual. I am a poet. For me to defend the Panthers and the Palestinians fits in with my function as a poet. If I write about the French question I enter the political field in France – I don’t want that.1

Genets Sonderweg spiegelt sich entsprechend in seinen zwischen 1968 und 1983 publizierten, aber auch unveröffentlichten Texten und Werken wider, die von diesem essentiellen Spannungsverhältnis zwischen einem rein poetischen Anspruch und der politischen Intentionalität zeugen, wodurch die ohnehin komplizierte Verortung seines Werks erschwert wird. Innerhalb der Untersuchung seiner Position im intellektuellen Feld wird die offensive Abkehr von etablierten intellektuellen Modellen problematisiert, welche in seinem Verhältnis zu Sartre und Foucault erkennbar wird. So betont Sylvain Dreyer beispielsweise die bewusst auf Dissens angelegte Verteidigung der palästinensischen Zielsetzungen und das in ihr zum Ausdruck gebrachte problematische Verhältnis zu Sartres Persönlichkeit sowie zu seinem Konzept des Engagements: „La question palestinienne semble attirer l’écrivain d’abord par sa puissance de dissensus. Il est permis de penser qu’elle constitue notamment l’occasion de rompre avec son mentor Sartre, en soldant une relation complexe et ambivalente […].“2 Darüber hinaus muss auch dem Bedeutungswandel der gesellschaftlichen Funktion des Intellektuellen insgesamt Rechnung getragen werden. Die sich ab Mitte der 1960er Jahre abzeichnende Krise des französischen Universitätswesens manifestiert sich in einem allgemeinem Infragestellen etablierter Autoritäten, darunter der Lehrenden und der universitären Intellektuellen, erklärt aber die Eskalation der studentischen Protestbewegung im Mai 1968 nicht hinreichend.3 Das spontane Aufbegehren stellt den Kulminationspunkt eines unterschiedliche weltpolitische Geschehnisse umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs dar. Die in ihrer Vehemenz überraschenden Proteste drängen die französischen Intellektuellen nicht nur zu einer Positionierung, sondern auch zu einer Beleuchtung ihrer eigenen Rolle und Funktion innerhalb der Protestbewegung. Die Intervention der Intellektuellen lässt sich daher mit Ory/Sirinelli über den soziokulturellen Wandel der französischen Gesellschaft deuten, der sich wiederum auf diskursiver Ebene in den Stellungnahmen einzelner Intellektueller niederschlägt.4 So beschreiben Ory/Sirinelli die veränderte Haltung der Intellektuellen am Beispiel Sartres,5 der 1970 die ‚Auflösung‘ des Intellektuellen als Verteidiger universeller Werte und die Hinwendung zum ‚konkreten Universellen‘, d.h. einer Überwindung des intellektuellen Separatismus, postuliert.6 Der Wandel des intellektuellen Feldes zeichnet sich aber auch insbesondere durch das Auftreten Michel Foucaults ab, der mit seinem Konzept des spezifischen Intellektuellen dem in der Figur Jean-Paul Sartres verkörperten moralischen Universalitätsanspruch das Prinzip des intellektuellen Expertentums entgegenstellt. Es lassen sich folglich unterschiedliche intellektuelle Handlungsentwürfe identifizieren, welche als feldspezifische Orientierungspunkte fungieren. Die Gegenüberstellung von Genet, Sartre und Foucault lässt sich auch durch die Solidarisierung dieser drei Akteure in gemeinsamen Projekten und Aktionen rechtfertigen. Ihre Interventionen beispielsweise im Rahmen unterschiedlicher Strafprozesse gegen politische Dissidenten beruhen auf der epochenspezifisch determinierten Kritik an der Rechtsstaatlichkeit und lassen sich wiederum zu einer diskursiven Formation gruppieren. Sie bedienen vor dem Hintergrund der Übertragung von strafrechtlichen Problemstellungen in den öffentlichen Diskussionsraum den fundamentalen Topos des intellektuellen Engagements, der in Frankreich bis zu Voltaires öffentlichen Stellungnahmen zu bestimmten Prozessen, wie etwa der Affäre Jean Calas im 18. Jahrhundert, zurückreicht und auch vor allem in der Dreyfus-Affäre als Geburtsstunde des Intellektuellen verankert ist.7

Jean Genets Verortung im gegenkulturellen Feld in den USA, das aus dem Anspruch erwächst, ein alternatives Wertesystem zu begründen, lässt sich als ambivalent beschreiben. Auf politischer Ebene kann seine Haltung durch eine grundsätzlich dissoziative Position charakterisiert werden, insofern er die politische Axiomatik seines öffentlichen Engagements für die Black Panthers negiert und eine Typisierung als Revolutionär zurückweist. Indem er aber seine poetische Entpflichtung unter Bezugnahme auf den Existenzentwurf des Vagabunden begründet, bedient er damit zugleich einen gegenkulturellen Topos, der seine Bezugsgrößen in den amerikanischen Autoren der Beat Generation hat. Wie jene wird Genet als Vordenker und Akteur der Gegenkultur wahrgenommen. Im Unterschied zu seinem dissensuellen Verhältnis zu den französischen Intellektuellen verbindet Genet und die amerikanischen Autoren Allen Ginsberg und William S. Burroughs das literarische Schaffen, wie auch Véronique Lane hervorhebt: „De tous les leaders de mouvements révolutionnaires qu’il [Genet, S.I.] ait connus (Fraction armée rouge, Black Panthers, Palestiniens), Burroughs et Ginsberg sont en effet, les seuls ‚littéraires‘.“8 Dieser kreative Berührungspunkt determiniert auch die gemeinsame Berichterstattung über den demokratischen Parteitag in Chicago im August 1968, welche prototypisch die besondere Problematik der poetischen Codierung innerhalb der dem Wesen nach der objektiven Sachlichkeit verschriebenen journalistischen Texte bei Genet abbildet. Im textuellen Bezugssystem zwischen Genet, Ginsberg und Burroughs kristallisiert sich maßgeblich eine antiamerikanische und antiwestliche Kritik heraus, die als diskursive Formation repräsentativ für das gegenkulturelle Feld ist, insofern sich dieses nämlich in Opposition zur normativen Kultur der amerikanischen Gesellschaft definiert. Gemeinsamer Diskursgegenstand ist dabei vor allem der Vietnamkrieg, der als Ausdruck der amerikanischen Gesellschaft verstanden wird und als Vehikel dient, um deren Ablehnung zu manifestieren.

Genets feldspezifische Positionierung wird folglich sowohl im Kontext der historischen Entwicklungen, als auch im Verhältnis zu anderen politisch aktiven Persönlichkeiten vorgenommen. Deren vor dem Hintergrund der weltweiten Proteste – gegen beispielsweise den Vietnamkrieg, den Imperialismus, den Kapitalismus, soziale Missstände und freiheitsunterdrückende Machtinstitutionen – hervorgebrachte Stellungnahmen bilden ein gemeinsames epochenspezifisches, textuelles Referenzsystem. Was hier als revolutionärer Diskurs bezeichnet werden soll, lässt sich folglich über die zeithistorisch bedingten Problemstellungen eines spezifischen Feldes der Stellungnahmen definieren und differenziert sich in unterschiedliche Teildiskurse mit charakteristischen Diskursgegenständen aus, wie etwa die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit, die antiamerikanische Kritik oder die Diskussion einzelner Interventionsformen. Es muss jedoch betont werden, dass dieser revolutionäre Diskurs nicht mit einem Revolutionspostulat gleichgesetzt werden darf.

Hinsichtlich der Analyse der Texte soll grundsätzlich keine Abkoppelung vom jeweiligen Autor stattfinden. Einzelne Positionsnahmen können interreferentiell als positiv oder negativ rekurrierbare Problemstellungen fungieren. Berücksichtigt werden muss dabei auch die Transformierbarkeit des revolutionären Diskurses, der beispielsweise zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Genets Artikel über die Rote Armee Fraktion 1977 aus rezeptionskritischer Perspektive manifest wird. Es soll daran gezeigt werden, wie die für die in den frühen 1970er Jahren typische Argumentationsstruktur einer Kritik an den machtstaatlichen Institutionen unter Bezugnahme auf das Gewaltkonzept in den Bereich des Unsagbaren absinkt und somit eine gesellschaftliche Umkehr indiziert wird. Somit wird die Dynamik des diskursiven Wandels sowohl durch Bourdieus Prinzip einer subjektbezogenen Möglichkeit beschrieben, insofern sich der feldspezifisch abgegrenzte Kommunikationsraum als Möglichkeitsfeld durch die Stellungnahmen einzelner Akteure durchgliedert und transformiert, als auch durch Foucaults Konzept der objektiven Möglichkeit, welches die historischen Brüche und Diskontinuitäten epistemologisch aufzeigt.

In einem abschließenden Kapitel liegt der Schwerpunkt schließlich auf der Entwicklung einzelner diskursiver Konzepte, die in Genets letztem Werk Un captif amoureux von 1986 eine literarische Aufarbeitung erfahren und in einem metatextuellen Verweissystem transformiert werden. Es soll die These aufgestellt werden, dass seine im Kontext des revolutionären Diskurses entstandenen Interventionen innerhalb literarischer Rahmenbedingungen metaisiert werden. Voraussetzung ist dabei die zeitliche Distanz zu den eigenen politischen Aktivitäten, welche aus einer rückblickenden Perspektive bespiegelt werden. Durch werkexterne Verweise auf textuelle Interventionen werden Konzepte aus dem politischen Kontext kommentiert und umgeschrieben. Mit dieser literarischen Bilanz seines eigenen Engagements besiegelt Genet seinen Austritt aus der politischen Öffentlichkeitssphäre.

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext

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