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2.2.2.2 Der G.I.P. und das Konzept des ‚contre-discours‘ nach Foucault

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Innerhalb der Werkgenese Foucaults lässt sich die Gründung des G.I.P. als Intermezzo zwischen zwei Grundpfeilern des theoretischen Werks situieren, nämlich seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vom 2. Dezember 1970 mit dem Titel L’ordre du discours1 und der Veröffentlichung von Surveiller et punir2 im Jahre 1975. Die im Kontext des G.I.P. entstandenen Kurztexte journalistischer und essayistischer Natur sowie die zahlreichen Interviews auf nationaler und internationaler Bühne sind jenem – um es mit Polats Formulierung zu halten – „zweiten Werk“3 des Philosophen zuzurechnen, welches das umfassende Korpus zusätzlicher sekundärer Texte konstituiert. Der Begriff des Gegen-Diskurses wird aus einer Verknüpfung von Diskurs- und Machttheorie generiert, wie sie im Spielfeld des G.I.P. taktisch praktiziert wird.

Der in L’ordre du discours theoretisierte Diskursbegriff ist durch seine Abhängigkeit von einer rein negativ konnotierten Auffassung von Macht charakterisiert, die sich schließlich in Surveiller et punir aufzulösen beginnt.4 Unter der Prämisse, dass in der Gesellschaft die Produktion des Diskurses durch gewisse Prozeduren kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird,5 determiniert Foucault drei Kategorien von Kontrollmechanismen: externe Prozeduren der Ausschließung, interne Prozeduren zur Selbstkontrolle des Diskurses und die Verknappung des Diskurses durch das sprechende Subjekt bzw. den Autor. Insbesondere die Reflexion der externen Ausschließungsmechanismen fließt in das theoretische Fundament des G.I.P. maßgeblich mit ein. Foucault benennt an erster Stelle die zensierenden Formen der Ausschließung, das Verbot und die Tabuisierung, die sich vornehmlich in den Bereichen der Sexualität und der Politik manifestieren; an zweiter Stelle figuriert das Prinzip der Grenzziehung und der Verwerfung, das in der Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn Ausdruck findet; im Gegensatz zum dritten Prinzip, dem der Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem, bezeichnet Foucault diese ersten Formen der Ausschließung als „arbitraires […] ou […] s’organis[a]nt autour de contingences historiques“6, also als willkürlich und der geschichtlichen Zufälligkeit entsprungen, wohingegen der Wille zur Wahrheit, welcher die Diskurse durchdringt, am Ursprung des westlichen Gesellschaftssystems steht und alle übrigen Ausschlussprinzipien zusammenhält. Alle drei Ausschlussmechanismen betrachtet Foucault als institutionell fundiert und gesichert, so dass man – um an die eingangs formulierte Prämisse anzuschließen – folgern kann, dass jenseits dieses diskursiven Filters keine Diskursbildung möglich ist. Wie Foucault unter Rückbezug auf seine eigene Antrittsrede quasi metadiskursiv verlautbart, liegt es in der Funktion und im Anspruch der Institution, darüber zu wachen, dass der Diskurs „dans l’ordre des lois“7 liegt, um damit die ursprüngliche Kraft des Wortes zu entmachten.

Konnex zwischen der theoretischen Grundlage in L’ordre du discours und dem praktischen Experiment des G.I.P. ist dabei die institutionell gesteuerte diskursive Filterung, die mittels der Worterteilung an die Gefangenen unterlaufen werden soll. Die Charakteristika jenes Diskurses der Gefangenen, den er in einem Interview mit Gilles Deleuze als „contre-discours“8, nämlich als „discours contre le pouvoir“9, bezeichnet, kann man in L’ordre du discours bereits ex negativo bestimmen. Analog zur Praxis des G.I.P. – obwohl Foucault darauf insistiert, dass der G.I.P. von jeder seiner vorgängig publizierten theoretischen Abhandlungen zu distanzieren ist10 – richtet er sein Interesse auf den Kampf gegen die Ausschließungsprinzipien der Macht. Innerhalb jenes umfassenden externen Mechanismus der Exklusion, der Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Falschen, könnte in Anlehnung an die Trennung zwischen Vernunft und Wahnsinn eine zusätzliche ausschließende Kategorie gesetzt werden: die Opposition von Gesetzlichkeit und Kriminalität bzw. von Legalität und Illegalität. So zentriert Foucault 1971 in einem Interview sein Interesse auf ebendiese Fragestellung, also „celui du système pénal, de la manière dont une société définit le bien et le mal, le permis et le pas permis, le légal et l’illégal, la manière dont elle exprime toutes les infractions et toutes les transgressions faites à sa loi.“11 Das Phänomen der Transgression des Gesetzes im Zusammenspiel mit dem der Repression von Illegalität durch das Justizsystem eröffnet einerseits eine zeithistorisch bedingte Reflexion über die juristische Grenzziehung zwischen Verbot und Erlaubnis und durchdringt andererseits die Thematik der Diskursformation. Denn den Begriff der Transgression erstreckt er durch das Konzept des Gegen-Diskurses gleichsam auf den Gegenstand der Diskursivität, insofern er nämlich dadurch die Grenze zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit reflektiert:

Dans Les Mots et les Choses, j’ai surtout étudié des nappes, des ensembles de discours. Dans L’Archéologie du savoir aussi. Maintenant, nouveau mouvement du pendule: je suis intéressé par les institutions et les pratiques, par ces choses en quelque sorte en dessous du dicible.12

Es geht Foucault folglich auch um die Aktivierung des Unsagbaren, das vom regulierenden Diskurs abfällt und auch nicht von diesem angeeignet werden kann.

An dieser Stelle bedarf es allerdings einer Differenzierung: Während Foucault in L’ordre du discours noch die Möglichkeit des grundsätzlich Gesagten in Dependenz zum diskursiven Regelwerk stellt, jenseits dessen keine Wissensverbreitung denkbar ist, zersetzt er unter Einfluss seines Engagements im G.I.P. diese nomische Enklave kurz darauf. Die Transgression des Sagbaren scheint Foucault offenbar in der Wortergreifung durch die Gefangenen realisiert. Jedoch muss hier zum einen kritisch eingewendet werden, dass die Gefangenen dazu mobilisiert wurden und eine Initiative höchstens von den politischen Gefangenen, d.h. also dem ohnehin sensibilisierten Teil der Insassen, ausging; und zum anderen muss das Verhältnis zwischen Sagbarem und Unsagbarem hinterfragt werden. In L’ordre du discours kristallisiert sich die Problematik dieser Relationalität in folgender Textpassage heraus: „Il se peut toujours qu’on dise le vrai dans l’espace d’une extériorité sauvage, mais on n’est dans le vrai qu’en obéissant aux règles d’une ‚police‘ discursive qu’on doit réactiver en chacun de ses discours.“13 Was Foucault an dieser Stelle undifferenziert als ‚wildes Außen‘ bezeichnet, wirft Fragen auf, die Christian Kupke überzeugend diskutiert.14 Wenn Kupke auch die Unmöglichkeit eines reinen Außen konstatiert, so spielt er doch verschiedene mögliche Grenzziehungen zwischen einem Diesseits und einem Jenseits des Diskurses durch. So gibt es also die Variante eines diskursiven Außen als quasi privilegierte Position, von der aus der nomische Diskurs überblickt werden kann, und die dazu invertierte Variante einer aus dem Inneren des Diskurses entspringenden spaltenden Perspektivierung. Beide Varianten werfen die Frage auf, inwieweit es überhaupt zu einer Transgression des Sagbaren kommen kann. Fasst man den Diskurs nämlich als zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ausschließlich Sagbares auf, bleibt offen, wie jenes Unsagbare, ob als Außen oder als Innen des ordnenden Diskurses, im selben historischen Rahmen Ausdruck finden kann. Kupke eröffnet einen neuen Denkansatz, indem er

zwischen der reinen Möglichkeit, alles oder nur Unbestimmtes zu sagen, und der von dieser Möglichkeit durchdrungenen, sie implementierenden Wirklichkeit, nur etwas Bestimmtes zu sagen, das entweder der Gesamtheit aller Regeln folgt und sie heteronom reproduziert oder aber ihnen widerspricht und neue Regeln setzt15,

unterscheidet. Jenseits der Perspektivierung eines Innen oder eines Außen des Diskurses, reflektiert Kupke hier die Kategorie des ‚reinen Möglichen‘, wodurch grundsätzlich alles stets sagbar ist, jedoch durch den diskursiven Filter eines aktivierten Regelwerks als Unsagbares erscheint. Foucaults ‚wildes Außen‘ könnte vor diesem Hintergrund als jenes zur Immanenz des im Gesellschaftskörper implementierten Diskurses mögliches transzendentes Feld des Unsagbaren aufgefasst werden. Vergleichbar ist Kupkes Ansatz mit Jägers Opposition eines ‚konkreten‘ und eines ‚abstrakten Apriori‘, wobei das konkrete Apriori die historischen und sozialen Möglichkeitsbedingungen umfasst – Foucault verwendet hierfür den Begriff des Epistems – und das abstrakte Apriori als eine Möglichkeitsbedingung jenseits der tatsächlich historisch realisierten zu verstehen ist.16 Jedoch behandelt Jäger die beiden Apriori als Gegensätzlichkeit, während Kupke eine Verknüpfung gelingt. Denn erst durch die Anerkennung der der symbolischen Ordnung inhärenten Negation erklärt sich die Grenzverschiebung bzw. -überschreitung der erfahrbaren Ordnung.17 Durch Kupkes Schwerpunktsetzung auf die Dynamis sind auch die historischen Rahmenbedingungen des ordnenden Diskurses mit denen dessen, was Foucault als Gegen-Diskurs bezeichnet, zu vereinbaren. Betrachtet man das Unsagbare als immer potentiell Sagbares, so muss sich das historische Apriori als interferentielle Schnittstelle beider Diskursordnungen, der möglich-werdenden und der tatsächlichen, manifestieren.

Daraus erklären sich auch die Eigenschaften des Gegen-Diskurses, wie sie in L’ordre du discours als Negativum zu jenem regulierenden Diskurs vorliegen. Man findet hier vornehmlich folgende Charakteristika: die Ereignishaftigkeit sowie die Virulenz und Militanz. Durch die Kontrollmechanismen, die in Bezug auf den Diskurs das Ziel verfolgen „d’en conjurer les pouvoirs et les dangers, d’en maîtriser l’événement aléatoire“18, werden aber ebendiese Eigenschaften unschädlich gemacht. Ihre Wirkung sei entwaffnend19 und sie entsprängen einer

profonde logophobie, une sorte de crainte sourde contre ces événements, contre cette masse de choses dites, contre le surgissement de tous ces énoncés, contre tout ce qu’il peut y avoir là de violent, de discontinu, de batailleur, de désordre aussi et de périlleux20.

An der Bruchstelle des ordnenden Diskurses tritt eine all jene Eigenschaften vereinende Diskursform hervor, die durch die Ausschlussmechanismen gebändigt werden soll.

Vor der Folie der theoretischen Vorgaben in L’ordre du discours ist das Engagement des G.I.P. als Versuch einer Durchbrechung des institutionalisierten Diskurses im Bereich des Justizsystems zu bewerten. Durch die Produktion eines neuen Wissensdiskurses durch jenen als ‚Gegen-Diskurs‘ bezeichneten Diskurs gegen die Macht wird die Grenzziehung zwischen Sagbarem und Unsagbarem experimentiert. Das grundsätzlich mögliche Unsagbare wird durch die Worterteilung an die Gefangenen aktiviert, so dass es für Foucault zur Sichtbarmachung jener eruptiven Kraft kommt, die den konzeptuellen Kern seines radikalen Journalismus konstituiert. Wie anhand des Vorwortes der Broschüre zur Ermordung George Jacksons deutlich wird, unterstützt Genet im Grundsatz die Idee der Produktion eines eruptiven Gegen-Diskurses ausgehend von den Betroffenen selbst, jedoch zeigt sich gerade in Hinblick auf George Jacksons Gefängnisbriefe, dass Genet mit deren Bewertung als „livre révolutionnaire“21 zusätzlich an ein anderes politisches Konzept anknüpft. Tatsächlich stehen bei ihm Poesie und Revolution in einem eigentümlich interdependenten Verhältnis, wodurch eine Verquickung von Ethik und Ästhetik stattfindet, die auch in seinem Projekt der Korruption von Sprache erkennbar wird und im Anschluss analysiert werden soll. Über die Tatsache hinaus, dass ein Gegen-Diskurs produziert wird, hinterfragt er insbesondere die Modalitäten dessen Verbalisierung. Genets Postulat einer neuen Ausdrucksform wird zum ersten Mal als Appell in seinem Brief an die amerikanischen Intellektuellen formuliert: „Je crois que le temps est venu d’user d’un vocabulaire également neuf et d’une syntaxe capable de rendre chacun attentif au double combat, poétique et révolutionnaire, des mouvements qui sont chez les Blancs comparables à ceux des Black Panthers.“22 Diese Sprachreflexivität bringt die Vorstellung einer Anpassung der Sprache an die sozialen Umwälzungen zum Ausdruck. So bemerkt Genet in demselben Text, dass sich aus der poetischen Vision der afroamerikanischen Bevölkerung ein politischer Gedanke entwickelt habe. Und dieser müsse vermittels einer neuen Sprache verbalisiert werden. Solange müssten einige Worte in Verwendung bleiben, bis diese dann in einer neuen Sprache aufgehen könnten: „Il est bien évident que je n’écrirais pas cela si la révolution planétaire avait eu lieu: certains mots, maintenant doivent être repris, d’autres supprimés plus tard obligeant à un langage nouveau.“23 Hier zeigt sich, dass Genet 1971 von einer Situation des Übergangs in eine Revolution und somit des akuten Kampfes ausgeht, die sich in einer spezifischen Ausdrucksform äußert, welche er als poetisch klassifiziert.

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext

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