Читать книгу Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext - Sara Izzo - Страница 18
2.2.1.2 Genet als Verfasser von Vorworten
ОглавлениеDie Textgattung des Vorwortes, derer sich Genet während seines politischen Aktivismus mehrfach bedient, konstituiert aufgrund ihrer liminalen Stellung einen Sonderstatus in Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Pragmatik und Literarizität. Genet orientiert seine Rolle als préfacier an Sartres Modell.1 In seinem Text über zeitgenössische maghrebinische Autoren mit dem Titel „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ (1974) zeichnet sich seine Wertschätzung für Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre2 ab, wobei er jedoch bemängelt, dass jener nichts dergleichen für Tahar Ben Jelloun oder Ahmed in der Aktualität unternehme: „Il [Sartre, S.I.] n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Frantz Fanon.“3
Sartres Vorwort muss in Hinblick auf Genets eigene Funktion als préfacier bewertet werden. So verfasste Genet das Vorwort zu den Gefängnisbriefen von George Jackson4, zur vierten Broschüre des Groupe d’information sur les prisons über George Jacksons Tod im Gefängnis von Saint Quentin5 und zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion6.
Als literarische Kategorie repräsentiert das Vorwort auf textueller Ebene die vermittelnde Scharnierstellung, welche Genet zwischen den Black Panthers und den Intellektuellen bzw. der interessierten Öffentlichkeit einnimmt. Wie Jacques Derrida herausstellt, gehört es durch seinen Status der Vorrede bzw. des ‚avant-dire‘ „à la fois au dedans et au dehors du concept“7, welches im Werk selbst veranschaulicht wird. Diese Wechselbeziehung aus Werkinteriorität und -exteriorität kennzeichnet jene als „liminaire“ designierte Textsorte,8 wobei sich das der Textsorte inhärente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen auch in Genets Mittlerfunktion widerspiegelt. Darüber hinaus repräsentiert der préfacier nach Genette nicht nur einen „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“9, der unter Berufung auf seine Bekanntheit das Werk implizit empfiehlt, sondern er interveniert zudem auf gesellschaftspolitischer Ebene als porte-parole für ein bestimmtes politisches Ziel.10 Die gesellschaftspolitische Referentialität und Kontextualisierung des Vorwortes begründet auch die umstandsbedingte Notwendigkeit, welche das Erscheinen dieses Paratextes charakterisiert: „Les préfaces […] se multiplient d’édition en édition et tiennent compte d’une historicité plus empirique; elles répondent à une nécessité de circonstance.“11 Die Verankerung des Vorwortes in der politischen Aktualität sowie die auf den Haupttext vorausschauende Perspektive fundieren die Zeitform einer manifesten Gegenwärtigkeit, einer „présence manifeste“12.
In Sartres Vorwort zu Les damnés de la terre von 1961 wird die liminale Stellung dieser Textsorte anhand der Problematik der Adressateninstanz thematisiert. Während sich nämlich Fanons Text an die algerische Bevölkerung richtet und zur Befreiung von der französischen Kolonialmacht aufruft, schreibt Sartre sein Vorwort explizit für die Europäer, wie die zahlreichen Appelle unterstreichen, so beispielsweise „nous, les Européens, nous pouvons l’entendre [Frantz Fanon, S.I.]: la preuve en est que vous tenez ce livre entre vos mains“13 oder „Européens, ouvrez ce livre, entrez-y“14. Sartre rechtfertigt seine adressatenorientierte Vorrede, indem er auf die – gerade für die okzidentale Gesellschaft bedeutsame – informative und auch bewusstseinsverändernde Charakteristik des Textes verweist: „Fanon révèle à ses camarades […] la solidarité des ‚métropolitains‘ et de leurs agents coloniaux. Ayez le courage de le lire: par cette première raison qu’il vous fera honte et que la honte, comme a dit Marx, est un sentiment révolutionnaire.“15 Sartre positioniert sich somit explizit als Vermittlerinstanz zwischen Fanons Text und dem okzidentalen Leser und beschreibt diese Mission mit Bezug auf die marxistische Dialektik als komplementären Bestandteil eines revolutionären Prozesses:
Ce livre n’avait nul besoin d’une préface. D’autant moins qu’il ne s’adresse pas à nous. J’en ai fait une, cependant, pour mener jusqu’au bout la dialectique: nous aussi, gens de l’Europe, on nous décolonise: cela veut dire qu’on extirpe par une opération sanglante le colon qui est en chacun de nous.16
Während Fanon den Bewusstseinsprozess der algerischen Bevölkerung vorantreiben möchte, zielt Sartres Vorwort darauf ab, den Leserkreis um die europäischen Leser zu erweitern. Der Philosoph nimmt die Funktion eines Fürsprechers an, der darüber hinaus die theoretischen Grundgedanken des Werks erklärt und interpretiert, was sich vor allem durch seine Kommentierung des Gewaltkonzeptes in Fanons erstem Kapitel offenbart.
Auch Genets erstes Vorwort zu George Jacksons Gefängnisbriefen wird durch jene Scharnierstellung determiniert, welche die Vorrede zwischen Haupttext und Leserkreis einnimmt. Wenn sich Sartre selbst jedoch jenem „nous“ zurechnet, mithilfe dessen er die potentiellen europäischen Leser adressiert, vermittelt Genet zwischen zwei Lagern, ohne jedoch sich selbst mit dem „vous“ zu identifizieren, das er auf diejenigen Leser anwendet, welche den Erfahrungshorizont Jacksons nicht teilen. Jene Haltung der offenen Distanzierung vom Leser knüpft an die narrative Struktur seiner frühen Romane an, in denen er gleichsam unter Rekurs auf die Personal- und Possessivpronomen „vous“ bzw. „votre“ eine Demarkation zur normierten Welt außerhalb von Kriminalität und Gefängnis markiert. Genet erhebt die im Gefängnis oder in der Reklusion entstandenen Texte, denen auch Jacksons Buch angehört, zu einer eigenen literarischen Kategorie, deren verbindendes Merkmal sich in einer Gleichgesinntheit zeige:
Si une même complicité noue les œuvres écrites en prison ou dans les asiles (Sade et Artaud se rejoignent dans la même nécessité de trouver en eux-mêmes ce qui, pense-t-on, doit les conduire à la gloire, c’est-à-dire, malgré les murs, les fossés, les geôliers et la magistrature, dans la lumière, dans des consciences non asservies), ces œuvres ne se rencontrent pas dans ce qu’on nomme encore la déchéance: se cherchant elles-mêmes à partir de cette déchéance exigée par la répression sociale, elles se découvrent des points communs dans l’audace de leur entreprise, dans la vigueur et la justesse de leurs idées et de leurs visions.17
Wie in diesem Zitat deutlich wird, präsentiert sich Genets Vorwort als Literaturkritik, und er selbst figuriert als „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“18 im Sinne Genettes, eine Rolle, zu der ihn seine eigene Gefängniserfahrung prädestiniert. Das Identifikationsmoment liegt für Genet folglich hier weniger im Programm der Black Panthers oder in der Problematik des Rassismus als in der literarischen Aufarbeitung jenes Momentes der Reklusion, welche an eine ganze literarische Tradition anknüpft, die auch durch sein eigenes Frühwerk repräsentiert wird. Es scheint daher kaum verwunderlich, dass auch seine beiden anderen Vorworte in den Kontext des Gefängnisses zu rücken sind. Damit unterscheidet sich Genets Initiative als préfacier maßgeblich von jener Sartres, wie sie in seinem Vorwort zu Les damnés de la terre manifest wird. Sartre rechtfertigt seine mithilfe des Vorwortes operierende Vermittlung, indem er auf einen ethisch intendierten Bewusstwerdungsprozess der europäischen Bevölkerung abzielt, wohingegen Genet sein Vorwort auf Basis seiner Affinität zur Thematik des Gefängnisses als Literaturkritik verfasst. Dadurch nimmt Genet eine ambigue Position ein, insofern in seinem Vorwort Jacksons politische Forderungen und dessen poetisches Konzept gleichgewichtet behandelt werden, denn, wie Genet betont, „Jackson est poète, mais il encourt la peine de mort.“19 Über die Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation der Afroamerikaner in den USA hinaus erläutert Genet den für ein im Gefängnis entstandenes literarisches Werk eigentümlichen Stil und hält für jene „lecteurs non réprouvés, qui jamais n’ont été et n’iront en prison“20 einen Lektüreschlüssel bereit. Par excellence wird in diesem Text die Verquickung von Poesie und Politik inszeniert, durch welche auch Genet sein eigenes politisches Engagement legitimiert.21 So beschreibt er den „génie poétique“ als Quelle jeder revolutionären Unternehmung:
Si l’on accepte cette idée, que l’entreprise révolutionnaire d’un homme ou d’un peuple a sa source en leur génie poétique, ou, plus justement, que cette entreprise est la conclusion inévitable du génie poétique, il ne faut rien rejeter de ce qui permit l’exaltation poétique.22
Die unwissende Leserschaft warnt Genet vor, dass ihr der Inhalt von Jacksons Werk unmoralisch erscheinen könne, und er begründet dies mit den Worten, „c’est parce que l’œuvre tout entière refuse votre morale“23. Im Unterschied zu Sartre identifiziert sich Genet in seiner Vermittlerrolle nicht mit den Adressaten, sondern mit dem Autor, dessen Werk er nicht mit dem erklärenden Anspruch einer moralischen Instanz, sondern aufgrund seiner persönlichen Erfahrung kommentiert. Die Situation dieser Mediation zwischen Autor und Leserschaft durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle hindurch, denn „c’est donc derrière une grille, seule acceptée par eux, que ses lecteurs […] devineront l’infamie“24, soll im Nachfolgenden vor dem Hintergrund des von Foucault gegründeten Groupe d’information sur les prisons und dem darin operationalisierten Konzept des Gegen-Diskurses näher beleuchtet werden. Zusammenfassend muss Genets offene Konkurrenz zu Sartre betont werden, auf dessen Interventionsmodell er stets negierend rekurriert. Als Mediator agiert er zwar strategisch für die politischen Zielsetzungen der Black Panthers, verortet sich selbst dabei jedoch nie eindeutig in deren oder etwa im intellektuellen Lager. Im textuellen Zwischenraum des Vorwortes für George Jackson positioniert er sich insbesondere durch die gemeinsame Gefängniserfahrung auf der Seite des Autors.