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2.2.1.1 Genet und die Funktion des intellektuellen Mediators

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Genets Relation zum intellektuellen Engagement kommt besonders ausgeprägt in einem scheinbar unverfänglichen Artikel von 1974 über zeitgenössische maghrebinische Autoren zum Ausdruck.1 Darin legitimiert er seine eigene Intervention durch die mangelnde Präsenz der Intellektuellen und grenzt sich virulent von Sartre ab, den er in insgesamt vier Textpassagen offensiv kritisiert:

Il faut donc que je parle, et je reparlerai de ces voix plus lucides que plaintives puisque nos intellectuels, ceux qu’on appelle encore bêtement nos maîtres à penser, se dérobent, ceux qu’on supposait les meilleurs se taisent, l’un des plus généreux, Jean-Paul Sartre, semble avoir fait faillite, se complaire dans sa faillite. Il n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Fanon. Il semble refuser de dire les paroles non d’apaisement mais celles qui apporteraient une aide réelle. Il refuse de parler d’eux, comme s’il avait peur, ma parole, d’en avoir les mains sales! Mais Sartre n’est déjà plus le maître à penser de personne sauf d’une très pittoresque bande déjà débandée.2

Genets hier geäußerter Vorwurf, dass Sartre seiner Funktion als Intellektueller nicht nachkomme und sich in Hinblick auf die Probleme der Immigranten in Stillschweigen hülle, mündet in einer Entthronung des Intellektuellen schlechthin. Mit der impliziten Anspielung auf den Begriff der mauvaise foi und Sartres Theaterstück Les mains sales, „comme s’il avait peur […] d’en avoir les mains sales“3, in dem der Konflikt zwischen politischem Pragmatismus und revolutionärer Ideologie behandelt wird, unterstellt er Sartre mit ironischem Unterton ein inkonsequentes und in Sartres Verständnis inauthentisches Verhalten. Genet bewertet das fehlende Engagement der Intellektuellen als Zustimmung zur Situation der Unterdrückung, in welcher die Immigranten in Frankreich lebten, und betont die Ersetzbarkeit der Intellektuellen:

Évidemment, les intellectuels aussi ont un rôle dans une situation semblable, mais en refusant de hurler avec les opprimés, ils hurlent avec les loups. Mais puisque aucun écho, aucune résonance ne vient d’eux pour porter les voix, les faire entendre à ceux qui ont presque la même vie, les mêmes misères, il faut bien qu’on s’adresse directement au public: Sartre ne compte plus. Qu’il ne parle pas, que d’autres esthètes du silence ne parlent pas: on se passera d’eux.4

Genet stellt in Aussicht, dass die gesellschaftliche Funktion Sartres bzw. des Intellektuellen substituiert werden müsse und eine direkte Kommunikation mit der Arbeiterschicht jenseits einer intellektuellen Transferinstanz stattfinden solle, wie durch die Aussage „il faut bien qu’on s’adresse directement au public“5 untermauert wird. Die durch den Doppelpunkt eingeleitete Satzfolge „Sartre ne compte plus“6 verzichtet bewusst auf einen konjunktional gesicherten, kausalen Sinnzusammenhang, demzufolge man sich direkt an die Öffentlichkeit wenden müsse, weil Sartre seine Bedeutung verloren habe. So kann man die Feststellung, dass Sartre nicht mehr zähle, auch als eigentliche Botschaft für die Öffentlichkeit bewerten, wodurch dessen Bedeutungsverlust gleichsam zur Hauptaussage des Textes avanciert. Genets Ansprache ist explizit an die Arbeiter adressiert, die das Schicksal der Immigranten teilen und hat eine appellierende Funktion. Tatsächlich fordert Genet dazu auf, den Stimmen der Immigranten eine Zuhörerschaft zu bieten: „Ces voix qui brûlent avec des phrases presque en lambeaux, si les intellectuels refusent de les entendre, je demande aux ouvriers de les écouter.“7 Die offene und vehemente Kritik an den Intellektuellen verschleiert dabei, dass Genet selbst in seiner Ansprache das intellektuelle Interventionsschema bedient. Dieser Eindruck wird durch seine Ankündigung, „on se passera d’eux [des intellectuels, S.I.]“8, verstärkt. Durch die Verwendung des unpersönlichen Personalpronomens ‚on‘ bleibt unklar, wo Genet sich selbst situiert. Der zusätzliche Gebrauch der futurischen Zeitform des reflexiven Verbs ‚se passer de‘ dient dazu, das, was man in diesem Diskurs als Genets persönliche politische Intervention klassifizieren könnte, hinter einer auf grammatikalischer Ebene unpersönlichen Zukunftsprojektion zu verschleiern. Seine eigene öffentliche Funktion bleibt dadurch unkenntlich.

Albert Dichy bemerkt in seinem Kommentar zu diesem Text, dass die Polemik gegen Sartre nicht alleine aus den Divergenzen im israelisch-palästinensischen Konflikt resultieren könne, da sie zu vehement und frontal gegen den Philosophen gerichtet sei.9 Er betont, „que, par un curieux paradoxe, l’aventure politique de Genet dont on peut penser qu’elle ne serait pas tracée de la même façon sans le modèle sartrien, se sera fait contre lui.“10 Die hier geäußerte Vermutung eines paradoxen Zusammenspiels aus Modell und Gegenmodell, an dem Genet seine gesellschaftliche Positionierung ausrichte, erklärt die Unmöglichkeit der Zuschreibung eines festen Handlungsmodells und -konzepts. Genet postuliert die Substitution Sartres, ohne jedoch dessen gesellschaftliche Funktion als Sprachrohr unterdrückter Bevölkerungsgruppen tatsächlich ausfüllen zu wollen.

Insbesondere sein Engagement für die Black Panthers zeigt jedoch, dass Genet durchaus jene Mediatorenfunktion ausübt, die für Sartre eine bedeutende Komponente des intellektuellen und literarischen Engagements konstituiert. Wie sich in seinem frühen Text über den Rassismus in den USA mit dem Titel „Lettre aux intellectuels américains“11 manifestiert, versucht er als Mediator zwischen jenen Gruppierungen, deren politische Ziele er unterstützt, und den Intellektuellen zu fungieren. Der Titel indiziert die Intellektuellen als Adressaten des Textes und richtet sich de facto an ein anonymes, lediglich als „les Blancs“ determiniertes „nous“, dem sich Genet in diesem Text selbst zuzurechnen scheint. Genet nimmt eine vermittelnde Rolle zwischen den ‚weißen‘ Intellektuellen und den Black Panthers ein, indem er auf die nicht tolerierbare Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in den USA sowie exemplarisch auf die Verhaftung des Vorsitzenden der Black Panthers Bobby Seale aufmerksam macht. Stärker als in seinem späteren Text von 1974 steht 1970 das Moment der Solidarität mit den Intellektuellen im Zentrum, was sich in Hinblick auf die gemeinsamen Aktionen in diesem Zeitraum erklären lässt. So etwa mobilisierte Genet zu diesem Zeitpunkt auch andere Intellektuelle für die Bildung eines Aktionskomitees für George Jackson und organisierte ein Petitionsschreiben, für das er etwa Derrida, Barthes, Duras oder Sollers gewinnen wollte.12 Auch in seiner „May Day Speech“ 1970 appelliert er unter Anwendung eines Analogieschlusses mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich an die amerikanischen Intellektuellen:

Naturellement, ce parallèle avec l’affaire Dreyfus ne peut pas se poursuivre point par point. Et je dois reconnaître qu’en Amérique, jusqu’à présent, il n’y a aucun Clemenceau, aucun Jaurès, ni surtout, parmi les intellectuels, aucun Zola pour écrire ‚J’accuse‘. Un ‚J’accuse‘ qui porterait condamnation contre la magistrature de votre pays et contre la majorité des Blancs restés racistes.13

Seine Rede zum Ersten Mai rechtfertigt er durch seine Mittlerfunktion, welche die Kommunikation zwischen den Black Panthers und den amerikanischen Intellektuellen unterstützt: „L’entreprise du Black Panther Party ne cesse de s’étendre, le public est de plus en plus nombreux à les comprendre et les intellectuels blancs vont peut-être les soutenir: c’est pourquoi je suis parmi vous aujourd’hui.“14 Wie auch bereits der Text von 1974 demonstriert, positioniert sich Genet jedoch stets in einem nicht definierten Zwischenraum zwischen, in diesem Fall, der revolutionären Gruppierung der Black Panthers und jenem Publikum, um dessen Aufmerksamkeit er wirbt.

Dennoch kennzeichnen jene um 1970 entstandenen Texte Genet als vermittelnde, öffentliche Instanz und sind ihrer Bestimmung nach vornehmlich als pragmatisch zu charakterisieren, da Genet hier meist auf die finanzielle Unterstützung und das Engagement der Adressaten für die Black Panthers abzielt – nämlich „populariser le mouvement et ramasser de l’argent“15, wie er selbst in einem Interview mit Michèle Manceaux unterstreicht. Es scheint kaum überraschend, dass Éric Marty, der die Verstrickung von Poesie und Politik in Genets Werk mit dem Vorwurf der Amoralität grundsätzlich kritisiert, die Unterstützung der Black Panthers als kohärentestes politisches Engagement bezeichnet, welches in Konkurrenz zu Jean-Paul Sartre stehe.16

Der Einsatz seines Namens, der Transfer seines literarischen Prestiges in den gesellschaftspolitischen Bereich und vor allem die handlungsorientierte und gesellschaftsrelevante Ausrichtung seiner Reden und Texte formen eine bedeutende Schnittmenge mit der intellektuellen Interventionsform. Genet selbst verlautbart in seiner „May Day Speech“, „dans mes interventions, aucune irréalité ne doit se glisser, car elle serait préjudiciable au Black Panther Party, et à Bobby Seale, qui est bel et bien dans une prison réelle, de pierre, de ciment et d’acier“17, und distanziert sich von einer auf dem Prinzip der Irrealität basierenden Aktionsform, die sich nachteilig für die Black Panthers auswirken könnte. Dieses Phänomen zeigt sich auch in der Modifikation des sprachlichen Codes, den er an die Handlungsziele seiner Reden für die Black Panthers anpasst, wie auch aus Jacques Derridas Anmerkung hervorgeht:

I don’t mean to say he was without irony, but it wasn’t at all the same code. I remember seeing him address a meeting in Paris, during which he asked for money […] and then he expressed himself truly with a great passion and anger and even a certain hostility toward the people from whom he was demanding money – but then he wasn’t playing.18

Dieses paradoxe Verhältnis zwischen einer pragmatischen und fiktiven Verhandlung der realen Zustände in seinen Interventionen resultiert aus der bewussten Opazität der öffentlichen Positionierung und erschwert darüber hinaus auch die Klassifizierung der intervenierenden Texte, deren Affinität zur militanten Literatur Jerôme Neutres betont: „[L]es textes qui accompagnent cette période d’action n’échappent pas toujours aux écueils de la littérature militante.“19 Dennoch erscheint Neutres eine Klassifizierung jener „textes contemporains de son action, les dits et écrits qui cherchent à être performatifs, à provoquer une action“20 unproblematischer, als die des posthum erschienenen Werks Un captif amoureux, da erstere sich nicht als Literatur präsentierten.21

Zum einen muss jedoch angemerkt werden, dass auch die in L’Ennemi déclaré versammelten politisch-pragmatischen Texte, anders als Jérôme Neutres hier behauptet, kein homogenes Korpus darstellen, wie sich besonders prägnant am Beispiel seiner im Kontext der gegenkulturellen Proteste in Chicago entstandenen journalistischen Beiträge im dritten Kapitel zeigen wird. Denn während Genet in den Texten um 1970 im Rahmen des G.I.P. und des Kampfes für die Black Panthers eine zwischen Intellektuellen und Revolutionären vermittelnde Position ausfüllt und damit selbst zumindest aus strategischen Gründen das Interventionsschema einer zwischengeschalteten intellektuellen Transferinstanz übernimmt, bleibt er in anderen Texten, wie beispielsweise den hier genannten journalistischen Artikeln, auch auf stilistischer Ebene stärker seiner Rolle als Poet verpflichtet. Zum anderen verwundert es, dass sich Neutres dann insbesondere auf Un captif amoureux bezieht, um Genets Interventionsform mit Sartres Engagement zu vergleichen.

Zwar eröffnet Neutres’ Ansatz eine interessante Gegenstimme zu jenen zahlreichen Untersuchungen, denen zufolge sich Genets gesamtes Werk durch eine eigentümliche Verschränkung des Literarischen und des Politischen auszeichne und unabhängig vom Entstehungszeitpunkt nicht zwischen politischen und literarischen Werken unterschieden werden müsse.22 So nämlich untermauert Neutres zu Recht den Zusammenhang zwischen den politischen Interventionen und Un captif amoureux, dessen Genese sich nicht ohne diese beschreiben lasse, und betont dabei, dass sich Un captif amoureux durch seinen literarischen Status radikal von den politischen Interventionen unterscheide.23 Doch Genets politische Aktivitäten grenzt Neutres dann gerade in Bezug auf Un captif amoureux von Sartres Konzept des literarischen Engagements ab und er orientiert sich dabei an Goytisolos Vorstellung einer „littérature compromise“:

Pour Goytisolo, comme pour Genet et avant eux, Marx et Trotski, la littérature engagée, l’écriture mise au service d’une cause politique concrète, d’une organisation ou d’un mouvement n’a jamais donné le jour à une œuvre de valeur. Les livres engagés se révèlent illisibles dès l’oubli ou la disparition des circonstances qui les ont motivés. L’écriture compromise se distingue de la littérature engagée par un investissement radical de l’écrivain dans uns réalité politique. N’est plus engagée seulement une facette de l’écrivain – son opinion politique sur telle ou telle cause – mais tout son être.24

Diese Form des literarischen Engagements geht über die Positionsergreifung in einem spezifischen politischen Kontext hinaus und manifestiert sich in einer absoluten politischen Verpflichtung des Schriftstellers, in der auch sein Werk aufgehe. Jene hier angedeutete Verflechtung von Politik und Ästhetik bei Genet konstatiert auch Moreno, ohne jedoch dabei zwischen Genets Früh- und Spätwerk zu unterscheiden: „Le politique n’est pas un aspect extérieur à l’œuvre, il est inséparable de sa recherche esthétique: il fait partie de sa littérarité.“25 Gerade jene Studien, in denen keinerlei Differenzierung zwischen dem Status des literarischen Frühwerks, den Interventionen und dem aus diesen hervorgegangenen letzten Werk vorgenommen wird, können Genets politisches Engagement nur unvollständig erschließen, da die Beleuchtung des Status der intervenierenden Texte nicht nur Aufschluss über Genets öffentliche Position liefert, sondern auch über die Klassifizierung von Un captif amoureux. Neben Neutres konstatiert auch Sylvain Dreyer in seiner Untersuchung zu engagierten Texten und Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren den Einfluss Sartres als „contre-modèle“26 auf die in dieser Zeit aktiven Autoren und Regisseure, darunter Genet, bezieht sich jedoch in seinem Fall ausschließlich auf Un captif amoureux. Letzteren Text wählt er in seiner exzellenten Studie über die Entwicklung einer an Sartres Modell ausgerichteten Form des selbstkritischen literarischen und filmischen Engagements als Endpunkt der Ausdifferenzierung jener von ihm als „œuvres engagées critiques“27 bezeichneten Werke. Dreyer blendet dabei die Bedeutung aus, die der werkimmanenten Evolution von Genets politischen Texten hin zu Un captif amoureux zukommt. So ist nämlich fraglich, inwieweit Genet diesen überhaupt noch als Intervention konzipiert und ob dieser nicht vielmehr sein politisches Detachement bestätigt, wie im vierten Kapitel näher beleuchtet wird. Genets ablehnender Rekurs auf Sartres Interventionsmodell prägt sich stärker in seinen pragmatischen Texten aus, wie sich nachfolgend beispielsweise auch anhand seiner Vorworte aufzeigen lässt.

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext

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