Читать книгу ich - Sarah Michaela Orlovský - Страница 8

Freundschafts???!buch

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Heute war dieses Mädchen da. Das kleine rothaarige, das aussieht wie eine extrem schüchterne Version von Pippi Langstrumpf. Der Rotschopf macht wohl grad bei den seltsamen Schrebergarten-Pensionisten am Ende der Straße Urlaub. Ich glaube, das sind ihre Großeltern. Oder sie haben die Kleine entführt, wie in dem einen Film da – wo sie dann mit dem Campingbus unterwegs sind und am Ende fackelt das Mädchen den Bus samt ihren Entführern ab … Dafür sah Miss Feuerhaar aber irgendwie doch nicht verängstigt genug aus. Sie heißt Lilli, hat sie gesagt, und sie kommt schon in die zweite Klasse Volksschule. Sie hat mir ihr Freundschaftsbuch gegeben. Ich darf es aus-nahms-wei-se über Nacht haben und bis morgen Früh ausfüllen. Dreingeschaut hat sie ja, als würde sie mir die Kronjuwelen von Tadschikistan anvertrauen oder so.

Das Buch ist noch komplett leer. Ich bin die Erste, die reinschreibt. Die ERSTE. Tragisch irgendwie. Ich kann für das arme Kind nur hoffen, dass sie das Buch grade erst von Oma und Opa Schrebergärtner bekommen hat. (Das wäre dann ein Argument gegen die Entführer-Theorie. Kein Kidnapper der Welt ist so blöd und schenkt seiner Geisel ein Buch, in das sie am Anfang ihren richtigen Namen und ihre Adresse schreiben muss, um es dann anderen Leuten aufzuzwingen, die ebenfalls was reinschreiben sollen.)

Also: Ich habe mich echt bemüht. Für Lilli. Für diese riesigen rotbraunen Hundeaugen über der Zahnlücke. Für ihren Glauben an die Spontan-Freundschaftisierung über Gartenzäune hinweg. Mindestens zehn Minuten bin ich dagesessen, den Stift im Mund, und habe nachgedacht. Das müsste doch auch ohne Grübeln gehen, denkt sich mein Zeitspar-Ich. Du hast ja in deinem Leben schon genug solcher Freundschaftsbücher ausgefüllt. Da geht es doch nicht einmal darum, WAS du hinschreibst. Das ist mehr so ein Sehen-und-gesehen-Werden, ein Schau-mal-ich-bin-auch-da, ein Das-alles-sind-meine-Freunde-also-bin-ich-kein-Loser-dessen-Leben-den-Bach-runtergehen-wird.

#ichgehördazu-unddu?

Aber ich bin eben nicht mehr in der Volksschule. Ich weiß, dass ich kein Loser bin, und ich brauche kein Buch mehr, um mir meiner Freunde sicher zu sein. Warum ich die blöden Fragen dann nicht einfach trotzdem ausfüllen kann, so nullachtfünfzehn? Warum mich das so dermaßen aufregt?

Weil! Das! Grober! Unfug! Ist!

Mal ganz ehrlich: Was ist mit einem Kind im tiefsten afrikanischen Busch, das nicht lesen und schreiben kann? Oder mit einem blinden indischen Straßenkind ohne Beine, das sich von Essensresten ernährt, die es auf der Straße findet? Und was ist mit einem Menschen, der gelähmt ist, und nicht reden kann und nur die Augen bewegt, wenn er kommuniziert? Rechts blinzeln für „ja“, links blinzeln für „nein“, die Augen schließen für „Rutsch mir doch den Buckel runter, du Versager“?

SIND DIE ETWA NIEMAND, WEIL SIE KEINEN LIEB-LINGSFILM haben?

Okay, okay. Vielleicht ist das et-was übertrieben.

Meinetwegen. Aber trotzdem: Lieblingsfilm. Lieblingsspeise. Lieblingsschulfach. Lieblingspipapo … Was soll das denn über einen Menschen aussagen?

Wenn ich das alles ausfülle, und wenn ich alles genau gleich habe wie ein anderes Mädchen auf dieser Welt, sind wir dann gleich? Wenn ich einen Unfall habe und plötzlich gelähmt bin und keinen Geschmackssinn mehr habe, bin ich dann noch ICH? Wenn ich nichts TUN kann, um ich zu sein, wenn ANDERE Kleidung für mich aussuchen und mir die Haare schneiden, sodass ich nicht einmal mehr AUSSEHE wie ich – wer bin ich dann?

Wenn man das Aussehen

und das Gelernte

und das Gesehene

und all die unwichtigen Dinge dieser Welt

weggibt,

sollte es nicht etwas geben,

so einen Funken in jedem von uns,

so unverkennbar wie ein Fingerabdruck,

etwas, das bleibt,

das, was mich zu der macht, die ich BIN?

ich

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