Читать книгу Über Nacht, Mr. Zoom? - Sarah Veronica Lovling - Страница 11
8. Kapitel
ОглавлениеDer Satz des Pythagoras. Photosynthese. Äquivalenzgleichungen. Scheiße. Rick verstand nur Bahnhof. Was dachte sich diese Tussi eigentlich? Er war Schulabbrecher, verdammt noch mal! Und das waren nur ein paar Inhalte des Unterrichts in Naturwissenschaften, und Literatur und Sprachen kamen im Verlauf schließlich auch noch dazu… Rick schleuderte die Kopien mit den Lerninhalten, die er gestern mit in seine Zelle genommen hatte, wütend in die Ecke. Gestern war er zu erledigt gewesen, um noch einmal einen Blick darauf zu werfen, und hatte das auf heute verschoben. Verdammt. Schon das Überfliegen der Inhalte brachte ihn zur Weißglut. Er hatte sich kaum ein dämlicheres Projekt vorstellen können. So etwas konnte er nicht, er wollte es nicht, und er brauchte es nicht. Schule – das war vorbei. Er war schließlich schon 23, oder? Gut, er sah ein, dass er eine vernünftige Arbeit finden musste – er wollte nicht für immer am Rande des Existenzminimums und in seinem Falle auch der Legalität versauern. Aber ein Schulabschluss… was zum Teufel dachte sich diese Frau eigentlich dabei? Vielleicht hat sie aber auch ganz Recht, flüsterte da plötzlich eine leise Stimme in seinem Verstand. Die hatte er schon oft wahrgenommen, aber noch nie auf sie gehört, sie immer wütend zum Schweigen gebracht und das Gegenteil gemacht. Es war die Stimme, die ihm von seinen illegalen Geschäften stets abgeraten hatte, die er hörte, wenn er Drogen nahm, wenn er zu viel trank. Vielleicht die Stimme seiner Mutter…? Rick schob diesen Gedanken entschlossen beiseite und sammelte widerwillig die Kopien ein, die er so wütend beiseite geworfen hatte, wobei er die Themen erneut überflog. Es wurde allerdings dadurch nicht wirklich besser. Pythagoras, fuck. Wann hatte er zuletzt einen bewussten Gedanken an Mathematik verschwendet? Als er jedoch näher darüber nachdachte, regte sich etwas in Rick. Es stimmte. Er war nie wirklich schlecht in der Schule gewesen. Alles war daran gescheitert, dass er keine Lust mehr auf Schule gehabt hatte, dass er rebelliert hatte, dass ihm seine Zukunft gleichgültig geworden war. Als seine Mutter krank geworden war, und dann nach ihrem Tod, war ihm alles gleichgültig geworden, und er lebte nur noch in den Tag hinein. Natürlich hatte er dann schlechte Noten bekommen – der Unterrichtsstoff rauschte einfach an ihm vorbei, während er seinen traurigen Gedanken nachhing. Er schrieb nichts mehr mit – wie konnte er also etwas nacharbeiten? Prüfungstermine interessierten ihn nicht, er notierte sie nicht einmal – wie hätte er dann also für sie lernen können? Die Schule, und alles was damit zu tun hatte, einschließlich seiner eigenen Zukunft, war ihm egal geworden. Doch an seiner Intelligenz war es nie gescheitert, obwohl viele das gedacht hatten, und irgendwann sogar er selbst. Nur Gianna hätte er so niemals täuschen können, doch sie war weg. Weg bis auf diese kleine Stimme in seinem Unterbewusstsein, die vielleicht ihre war, vielleicht auch nicht. Du kannst es, flüsterte sie, du musst es nur versuchen… streng dich an, du kannst es schaffen! Hmmm… Vielleicht sollte er das Projekt doch nicht aufgeben, bevor es richtig angefangen hatte. Schließlich bekam er was dafür. Er kam öfter raus, durfte uneingeschränkt die Gefängnisbibliothek benutzen (oh Freude, dachte er zähneknirschend), und, sobald (falls, zweifelte sein Verstand) er die ersten Kurse tatsächlich bestand, durfte er vielleicht sogar auf Bewährung raus, zurück in seine Wohnung. Immer unter der strengen Auflage, dass er keinen Ärger machte, die Kurse besuchte – Abwesenheit ohne Attest des Arztes, und er war raus – und die Tests und Klausuren bestand. Das bedeutete Arbeit, viel Arbeit, das war ihm klar. Genauso, wie ihm klar war, dass nur ein Bruchteil seiner „Mitschüler“ das schaffen konnte. Aber vielleicht kann ich es! Er stöhnte auf, als er über das Lernpensum nachdachte und die Zeit, die er über Bücher gebeugt verbringen würde müssen. Aber jetzt sah er auch die Chance, die sich ihm hier bot. Er konnte es schaffen – wenn er sich anstrengte. Und zwar richtig. Vielleicht bekam er hier nicht nur eine x-beliebige, sondern die Chance, die einzige Chance, noch etwas aus seinem Leben zu machen. Als er sich erneut den ausführlichen Lehrplan in den Naturwissenschaften vornahm, wanderten seine Gedanken zurück zu der gestrigen ersten Unterrichtsstunde und der Lehrerin. Wider Willen musste er lächeln. Gott, sie war so jung und schüchtern… er hatte vorher gewusst, dass hauptsächlich Studenten im Projekt tätig waren, aber diese hier hatte irgendwas in ihm berührt. Woran es lag, konnte er nicht sagen. Auch wenn er sie ganz schön angefaucht hatte – Zynismus war zu seinem Naturell geworden - er hatte sie auf Anhieb sympathisch gefunden. Und dazu noch ziemlich hübsch, mit ihren wilden roten Locken und ihren Kurven… Rick stand nicht auf Knochengestelle, die behaupteten, heißblütige, sexy Frauen zu sein. Er wollte was in den Händen haben, wenn er eine Frau mit in sein Bett nahm. Und diese… wie hieß sie doch gleich… Caroline hatte diesbezüglich echt was zu bieten. Ein Klopfen an der Zellentür unterbrach seine nun angenehmeren Gedanken, und schon öffnete sich die Tür. Ein Wärter – Smith? Jones? – begrüßte ihn mürrisch. „Millers, Besuch für dich!“ Mit diesen Worten trat er beiseite und ließ den massigen Mann an sich vorbei in Ricks Zelle treten. „Benehmt euch!“ Smith-oder-Jones schloss die Zellentür und überließ Rick seinem Schicksal, denn er stand… Bad Bob gegenüber. Scheiße.
Hilfesuchend sah sich Rick in seiner Zelle um, aber natürlich gab es keine Hilfe. Was denn auch? Messer und andere potentiell gefährliche Gegenstände waren verboten. Rick hatte nicht mal eine Nagelfeile, zum Teufel! Und weglaufen konnte er auch nicht. Auf den 10 qm gab es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und einen Schrank. Dazu eine kleine abgetrennte Toilette mit Waschbecken. Er konnte Bad Bob wohl kaum Deo in die Augen sprühen, oder? Ricks panischer Blick wanderte zu seinem Tisch, auf dem sich die Bücher türmten. Vielleicht kann ich ihn ja mit der Formelsammlung erschlagen, dachte sich Rick spöttisch, und musste fast grinsen. Er versuchte, sich in den Griff zu bekommen, schluckte seinen Schreck herunter und gab sich cool. „Bob“, sprach er seinen Mithäftling an, „was führt dich zu mir?“ – „Lass die Faselei“, brummte Bob verstimmt. „Ich weiß ja, du bist jetzt einer von unseren Intelligenten“, ironisch betonte er das Wort, „aber lass mich damit in Ruhe, klar?“ – „Klar!“, gab Rick eingeschüchtert zurück. – „Du willst also wissen, was ich hier will!“ Rick nickte vorsichtig, und Bad Bob lachte, so heftig, dass es in der ganzen Zelle widerhallte. „Kleiner“, sprach er Rick vertraulich an, und Rick zuckte zusammen, „ich wollte mich entschuldigen!“ Entschuldigen? Rick glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte mehr damit gerechnet, seine nächste Abreibung zu erhalten, hatte sich auf eine Prügelei, ein blaues Auge und vielleicht sogar ein paar Platzwunden bereitgemacht – oder es zumindest versucht. Bad Bob verprügelte Leute. Er war brutal, herrisch und gewissenlos – aber nun stand er hier, vor ihm, lachte und entschuldigte sich? Rick verstand nur Bahnhof, und genau das schien sein ungläubiger Blick zu sagen, denn Bad Bob lachte erneut. „Setz dich hin, Kleiner! Und keine Angst, ich will dich nicht zu Brei schlagen!“ Rick grinste unsicher, ein Fragezeichen in seinem Gesicht. „Klar hast du das gedacht!“, fuhr Bad Bob fort, „Und das ist auch gut so!“
Eine Stunde später klopfte es erneut, und Smith-oder-Jones holte Bad Bob wieder ab. „Also, verstanden, Kleiner?“, herrschte Bad Bob Rick an, darum bemüht, möglichst böse zu wirken, „Du machst, was ich gesagt habe, sonst mach‘ ich Hackfleisch aus dir!“ Rick nickte und unterdrückte ein Grinsen, als Bad Bob ihm zuzwinkerte. Wow. Das war eine echte Überraschung gewesen…
Bad Bob war anscheinend gar nicht so „bad“, wie sein Name vorgab. „Weißt du, dass ich dich verprügelt habe, tut mir echt leid!“, hatte Bob begonnen, und Rick wurde immer verwirrter. Bob fuhr fort. „Ich muss das machen… ich bin hier der Chef und das sichert mir den Respekt von allen. Und einige haben es auch echt verdient“, schloss er. „Ich konnte bei dir keine Ausnahme machen… obwohl du eine Ausnahme bist!“ – „Wieso… ich meine, warum bin ich eine Ausnahme?“, fragte Rick ratlos. „Du bist kein Knasti. Vielleicht ein Trottel, vielleicht ein Versager, ich weiß nicht. Aber ein Knasti bist du echt nicht. Du bist hier nur reingeraten… Zufall? Dummheit? Warst du besoffen?“, fragte Bob neugierig, und Rick erzählte seine Geschichte. Bob lachte dröhnend. Er war echt ein großer Kerl, und an ihm war alles massig, einschüchternd und laut, so auch sein Lachen. Aber es war auch ansteckend, und Rick lachte mit ihm. „Soso…“, sagte Bob, als er sich wieder etwas beruhigt hatte, „ein Dummkopf also. Und trotzdem sollst du bei diesem Intelligenzkram mitmachen?“ Rick zuckte die Achseln. „Ich weiß auch nicht, was die sich dabei denken. Als ob einer wie ich so was könnte… Und was soll mir denn der Schulabschluss groß helfen… Aber vielleicht komme ich dadurch ja schneller hier raus, und das wär’s wert!“ Bob sah ihn an. Er lachte nicht mehr. „Guck mich an!“, forderte er Rick auf, und plötzlich sprach er ganz leise. Dadurch wurde er nur noch eindringlicher und respekteinflößender, und Rick gehorchte. Er blickte Bob in die dunklen Augen und sah… Ehrlichkeit, und auch Traurigkeit. „Ich sag dir jetzt was, Kleiner!“, setzte Bob an, „Die haben Recht. Du kannst das. Du kannst es schaffen. Und wehe…“ – Bob erhob sich und baute sich drohend vor Rick auf – „wehe, du strengst dich nicht an. Dann bekommst du es mit Bad Bob zu tun!“