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5. Kapitel

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„Sozialprojekt? Was denn für ein Sozialprojekt?“ Caro sah ihren Professor mit großen Augen an. Nach der Vorlesung hatte sie eigentlich schnellstmöglich nach Hause verschwinden wollen, zu ihrer Mutter, und auf dem Weg noch einkaufen bei „Hank’s Superstore“, dem Supermarkt, in dem Sandra früher gearbeitet hatte. Milch, Joghurt, Brot… Im Geiste hatte sie die Liste fast beisammen. Doch nun stand sie vorne im Hörsaal bei ihrem Anatomieprofessor, der sie nach der Vorlesung zu sich gerufen hatte. „Caroline, wollen Sie nicht bei unserem Sozialprojekt mitmachen?“, hatte er Caro unvermittelt gefragt, und sie verstand nur Bahnhof. Ihr Kopf schwirrte noch von all den lateinischen Muskelbezeichnungen… Musculus quadriceps, Musculus trapezius… Sozialprojekt? Ihr müdes Gehirn suchte nach einem Zusammenhang. Doch Professor Jones erlöste sie, in dem er es ihr erklärte. „Caroline, Sie wissen vielleicht, dass ich mich sozial engagiere, und die Uni hat ein neues Sozialprojekt auf die Beine gestellt. Es geht darum, Straftäter zu unterrichten.“ – „Straftäter? Unterrichten?“ Oh mein Gott, sie klang gerade nicht besonders intelligent, aber sie hatte keine Ahnung, worauf Jones hinauswollte. „Keine Angst“, beruhigte der Professor sie, „zunächst einmal handelt es sich nicht um Schwerstverbrecher, sondern nur, wenn man das so sagen darf, um Delikte wie Betrug, Diebstahl, leichtere Körperverletzungen… damit meine ich natürlich nicht, dass das nicht schlimm ist… aber Sie würden natürlich keine Mörder unterrichten!“ Das klang dennoch noch lange nicht beruhigend, und verstanden, was das ganze sollte, hatte sie immer noch nicht. Als Professor Jones ihren irritierten Blick auffing, fuhr er schnell fort. „Und es wäre immer Polizeischutz mit im Gebäude!“ – „Aber… unterrichten? Was soll ich denn unterrichten? Ich bin doch keine Lehrerin!“ – „Das spielt keine Rolle. Studenten unterrichten Straftäter, das ist das Konzept. Ich hatte bei Ihnen an Biologie und Mathematik, vielleicht Chemie, gedacht, aber Sie haben natürlich Mitspracherecht.“ – „Und warum ausgerechnet ich?“ Das war für Caro die Kernfrage. Jones sah sie lächelnd an. „Nun, Caroline, weil Sie zu meinen besten Studentinnen zählen. Sie haben eine große Zukunft vor sich, und die Teilnahme an einem solchen Projekt macht sich großartig in jedem Lebenslauf… Überlegen Sie es sich!“ Mit diesen Worten drehte sich Jones zu einer von Caros Kommilitoninnen um, die noch eine Frage zu der Vorlesung hatte, und ließ Caro stehen.

„Caro? Caro? Bist du da?” Die Stimme ihrer Mutter hallte durch die Wohnung, ängstlich und aufgeregt, kaum dass Caroline die Wohnungstür richtig geöffnet hatte. Verdammt. Was war denn jetzt schon wieder passiert? Sie eilte durch den langgezogenen Flur zum Zimmer ihrer Mutter, das früher das Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen war. Doch das war lange her. Bereits seit über zehn Jahren lebte Caroline allein mit ihrer Mutter, und seit etwa zwei Jahren wurde das Zusammenleben jeden Tag schwieriger. Auch früher schon war ihre Mutter eine, nun ja, eigensinnige Person gewesen. Alles musste so laufen, wie sie es wollte. Carolines ganze Kindheit über hatten ihr Vater und sie versucht, es ihrer Mutter recht zu machen. Bis ihr Vater es irgendwann nicht mehr ausgehalten war und gegangen war. Caroline konnte es ihm nicht verübeln, wohl aber, dass er sie, sein einziges Kind, zurückgelassen hatte. Zurückgelassen, ohne Unterstützung, allein mit der Bürde der schwierigen Mutter. Doch Caroline liebte ihre Mutter, hatte sie immer geliebt. Denn trotz allem war sie immer für sie da gewesen, und nun war Caroline für ihre Mutter da. Nachdem Martha schon immer „schwierig“ gewesen war – eigenartig, sagten Nachbarn, sonderbar, komisch – war sie in den letzten zwei Jahren zunehmend verwirrt und vergesslich geworden. Caroline hatte die Symptome mit ihrem Hausarzt erörtert, doch er war der Meinung gewesen, es handele sich nach wie vor um eine Facette der schwierigen Persönlichkeit ihrer Mutter. Caro konnte dies nicht glauben, und sie begann auf eigene Faust zu recherchieren. Heute war sie der Meinung, nein, der Überzeugung, dass ihre Mutter nicht „verrückt“ war, sondern einfach nur krank. Early-onset dementia –früh beginnende Demenz. Wesensveränderungen, seltsames Verhalten, Unruhe, Angstzustände, zunehmende Vergesslichkeit, und all das in einem Lebensalter, in dem noch niemand mit einer Demenz rechnete. Martha war erst zweiundfünfzig Jahre alt, und alle Symptome passten.

„Mama?“, fragte Caro, auf einen ruhigen Tonfall bedacht, „was ist denn los?“ Sie hatte gelernt, dass es wichtig war, mit ihrer Mutter während ihrer Angstzustände ruhig zu sprechen und sie und sich nicht aufzuregen, oft leichter gesagt als getan. „Caro“, antwortete Martha verängstigt, „wo warst du denn die ganze Zeit? Auf einmal warst du weg, ich konnte dich nirgends finden!“ – „Aber Mama, ich war doch wie immer an der Uni. Ich habe mich heute Morgen von dir verabschiedet, weißt du noch?“ – „Hmmm…“, machte Martha, und Caroline merkte, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Trotzdem blieb sie hartnäckig. Sie musste ihrer Mutter das irgendwie beibringen, sonst konnte sie sich ihr Studium knicken… „Mama, was studiere ich?“ Martha schaute sie verständnislos an, dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. „Ach ja, du studierst ja! Du bist so ein kluges Kind, das habe ich immer schon gewusst!“ Caro lächelte zurück. „Stimmt, Mama! Ich studiere Medizin, weißt du noch?“ – „Natürlich“, erwiderte Martha voller Überzeugung, aber Caroline wusste, dass sie sich erst jetzt, als Caro es ihr gesagt hatte, wieder erinnerte. Caro wurde es schwer ums Herz. Sie liebte ihre Mutter, trotz allem, doch der Alltag mir ihr wurde täglich schwieriger. Es war jetzt schon an manchen Tagen ein Problem, den Unialltag und die Versorgung Marthas unter einen Hut zu bekommen, denn Martha konnte kaum noch für sich selbst sorgen. Kochen, Einkaufen, Putzen… all das, und noch das Studium, war Carolines Aufgabe geworden. Und jetzt noch dieses Sozialprojekt… Caroline fluchte innerlich. Doch sie wusste, sie hatte keine Wahl. Wenn Professor Jones sie vorgeschlagen hatte, konnte sie nicht nein sagen. Sie brauchte gute Noten, genau wie Empfehlungen von renommierten Professoren wie es Jones war. Denn sie hatte ein Ziel. Sie wollte in die Demenzforschung einsteigen, irgendwann. Ihre Mutter würde sie nicht mehr heilen können – aber vielleicht würde sie anderen Menschen dieses Schicksal ja ersparen können, und deren Kindern… Das war ihr Traum, das war ihr Ziel, in das sie ihre ganze Energie steckte. Und für ihre Mutter würde sie sich etwas einfallen lassen… sie hatte schon eine Idee. Sie würde eine Tafel aufhängen, außen an ihrer Zimmertür, auf die sie schreiben würde, wo sie hinging. Dann müsste sich Martha nicht mehr ängstigen – hoffte Caro zumindest.

Über Nacht, Mr. Zoom?

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