Читать книгу Über Nacht, Mr. Zoom? - Sarah Veronica Lovling - Страница 7

4. Kapitel

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Rick hatte heute den Hofgang verweigert. Nach gestern lag ihm wenig daran, Bad Bob erneut in die Arme zu laufen… Obwohl er heute wohl sicher vor ihm wäre, dachte er sich. Selbst Bad Bob kannte seine Grenzen, und zweimal hintereinander denselben Mitinsassen zu verprügeln widersprach seinem üblichen Vorgehen. Denn er wollte sich in erster Linie Respekt verschaffen, Angst verbreiten und nicht Nachforschungen von Gefängnisverwaltungen wegen schwerer Verletzungen anderer auf sich ziehen, das wusste Rick. Dennoch, er war heute lieber noch eine Stunde mehr als sonst auch für sich allein, lag auf seiner alles andere als bequemen Pritsche und dachte nach, wie schon so oft. Die berühmte „schiefe Bahn“… wie war es nur dazu gekommen? Rick brauchte keinen Psychologen, um sich die Frage zu beantworten. Seine Mutter war der Grund.

Ricks Leben war nicht immer so gewesen. Im Gegenteil. Als Kind war er sehr behütet worden, der einzige Sohn seiner Eltern, die ihn über alles liebten – eine Familie wie im Bilderbuch. Es hatte ihm an nichts gefehlt. Er war in einer typischen Mittelschicht-Familie aufgewachsen: der Vater berufstätig und selten zuhause, die Mutter Hausfrau. Sie bewohnten ein großes Haus mit Garten, um das sich seine Mutter hingebungsvoll kümmerte. Wenn er an dieses Zuhause zurückdachte, wurde Rick noch heute manchmal etwas wehmütig. Es war dort immer blitzsauber gewesen, immer aufgeräumt und schön, und jeden Tag hatte ihn mittags nach der Schule der Duft frisch gekochten Essens willkommen geheißen. Seine Mutter war eine sensationelle Köchin gewesen, und er ein guter Esser – zum Glück ohne die Figurprobleme seiner Mutter. Gianna Millers, geborene Cagliori, war Italienerin durch und durch – und das schmeckte man auch. Fast jeden Tag hatte Rick ein, zwei Freunde nach der Schule mit nach Hause gebracht. Sie rissen sich darum, bei ihm mit essen zu dürfen. Dass sie zuhause höchstens einmal in der Woche eine Tiefkühlpizza bekamen, hatte ihnen die selbstgemachte Pizza von Ricks Mutter wie Ambrosia vorkommen lassen. Und natürlich die Pasta, in allen denkbaren Variationen. Schon mit nur zwei Jahren krähte der kleine Richie, „Tagliatelle! Spaghetti! Fussili!“, woraufhin seine temperamentvolle Mutter stets „Bravissimo, Ricardo!“ kreischte und ihn mit Küssen – und Nudeln – überhäufte. Doch dann, als Richie dreizehn war, nahm die Idylle ein jähes Ende…

Rick unterbrach seine trüben Gedanken und strich sich die Haare aus der Stirn. Scheiße. Man konnte nicht alles auf die Vergangenheit schieben, oder? Er hatte es selbst verbockt. Mit fünfzehn hatte er, da sein Vater und er umgezogen waren, die Schule wechseln müssen, aber dort war er irgendwie nie richtig angekommen. Er war kein Unruhestifter, er konnte sich einfach nur nicht richtig auf die Schule einlassen – es war ihm unwichtig geworden. Die ersten schlechten Noten waren dem Schulwechsel zugeschrieben worden, und natürlich seinem Schicksal. Er hatte eine wirklich großzügige Eingewöhnungszeit erhalten. Schlecht war es dort eigentlich nicht gewesen, doch er hatte sich die ganze Zeit fremd gefühlt, ein Außenseiter. Er hatte sich zwar mit ein paar anderen Jungs angefreundet, aber war nie ein Teil der Klasse geworden. Hausaufgaben machte er nicht, für Klausuren lernte er nicht. Manchmal vergaß er Bücher oder Hefte zu Hause. Und als die Noten auch nach einem halben Jahr nicht besser, sondern immer schlechter wurden, hatte sein Vater die Notbremse gezogen. Er hatte seine beruflichen Beziehungen spielen lassen und Richie auf einem Sportinternat untergebracht – das hatte ihn einiges an Überredungskunst und noch mehr an Geld gekostet, schien aber die beste Lösung zu sein. Der melancholische, grüblerische Sohn wurde ausgelagert. Und Sport war tatsächlich schon immer Richies Lieblingsfach gewesen. Hier brachte er gute Leistungen, ohne sich groß anzustrengen. In seiner Freizeit spielte er Fußball und joggte neuerdings auch, denn er liebte es, das sture Laufen, ohne an irgendetwas zu denken. So wurde auf der alten Schule das Gerücht gestreut, er habe ein Sportstipendium erhalten, und Richie verließ die Schule von heute auf morgen. Ab aufs Internat, weg von daheim. Doch auch hier kam Richie nicht an. Er trieb zwar Sport wie ein Besessener, war aber nie um gute Noten bemüht, war unzuverlässig wie zuvor. Nur beim Sport konnte er abschalten, spürte eine angenehme Leere im Kopf, betäubt durch Endorphine, oder was auch immer. Doch er trainierte nie richtig, hielt sich nicht an strukturierte Trainingspläne, übte keine Sportarten, die er nicht mochte. Und er fand keine Freunde. All die anderen Schüler waren Saubermänner und -frauen, wollten Karriere im Sportbereich machen. Alkohol oder Rauchen waren verpönt, bereits Fastfood oder Süßigkeiten eine Sünde. Die anderen gingen sogar früh ins Bett. Richie wollte ausgehen, trinken, Mädchen klarmachen. Als er sich das erste Mal nachts davonschlich, war er fast siebzehn. Er stieg an einem Samstagabend in den Bus, fuhr in die nahegelegene Kleinstadt und betrat den erstbesten Club. Dort erledigte er mehrere Premieren auf einmal: der erste hochprozentige Drink, die ersten Drogen, und der erste Sex.

Die Mädchen hatten sich quasi in Scharen auf ihn gestürzt. Er sah gut aus, war durchtrainiert und blutjung. Begeistert hatte er all die jungen Frauen in ihren knappen Outfits, die oftmals noch sexy tanzen konnten, beobachtet, als ihm eine besonders aufgefallen war. Die Blondine mit dem kurzen Rock sah einfach heiß aus… mit ihren langen Beinen, die durch ihre hochhackigen Schuhe noch weiter betont wurden, und ihrem sehr knappen Top, das ihre vollen Brüste kaum bändigen konnte, tanzte sie mit aufreizenden Hüftbewegungen in einer kleinen Gruppe anderer Frauen, ihre Freundinnen, wie Richie vermutete. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen, beobachtete sie, wie sie tanzte, ihr langes blondes Haar zurückwarf und ihren Cocktail trank… sogar die lasziv-erotische Art und Weise, wie sie an ihrem Strohhalm sog… wow! Rick, bereits mehr als nur leicht angetrunken, wusste, dass er nichts zu verlieren hatte, und hatte sie angesprochen. Der Rest war Formsache gewesen. Sie hatten getanzt, wobei sie ihn offensiv angeflirtet hatte, sie hatten gemeinsam getrunken und geraucht, und schließlich hatte Gabrielle, so hieß sie, von irgendwo her zwei kleine blaue Pillen aufgetrieben. Heute wusste Rick, dass es Extacy gewesen sein musste, und dass er mit seinem Leben gespielt hatte. Damals war es ihm völlig egal gewesen. Er war hier, eine heiße Frau an seiner Seite, und das Leben war schön – endlich einmal wieder. Irgendwann hatten Gabrielle und er knutschend in einer Sitzgruppe des Clubs gesessen. Sie küssten einander, als hinge ihr Leben davon ab, und Rick kam kaum zu Atem. Unglaublich. Eine ganze Bandbreite neuer Empfindungen schoss durch sein von den Drogen überreiztes Nervensystem, und er kam kaum hinterher. Er war mehr als nur erregt, und als Gabrielle ihn irgendwie in ihr kleines Auto manövrierte, war selbst ihm, unerfahren wie er war, klar, wo das hinführen würde. Im Nachhinein hatte Rick bestimmt tausendmal bereut, dass er an dem Abend Drogen genommen hatte, aber er war so jung und naiv gewesen… denn leider erinnerte er sich nur schemenhaft an sein erstes Mal. Er hatte nur einzelne Bilder vor Augen, wenige, aber intensive Empfindungen, an die er sich erinnerte. Gabrielles Augen, die ihn sexy anblitzten… ihre vollen Brüste in seinen Händen… ihre feuchte Enge, ihre geschmeidigen Bewegungen auf seinem Schoß, als er tief in ihr war… nun gut, und der Schalthebel in seinem Rücken.

Als Rick in dieser Nacht zurück ins Internat kam, war er nicht mehr derselbe. Und der Rest der Geschichte war schnell erzählt. Rick rebellierte im Internat mehr und mehr, haute immer wieder ab, auf der Suche nach dem nächsten Kick, nach verbotenem Vergnügen, nach willigen jungen Frauen. Als das Internat ihn endgültig rauswarf, landete er für ein paar Wochen sogar auf der Straße, begann, immer regelmäßiger Drogen zu nehmen. Es wäre wahrscheinlich weiter und weiter bergabgegangen mit ihm, aber sein Großvater, ausgerechnet sein italienischer Opa, den er nie kennengelernt hatte, rettete ihm das Leben. Als er starb, hinterließ er Rick – seinem einzigen Enkel, dem einzigen Sohn seiner geliebten Tochter – sein spärliches Vermögen. Reich wurde Rick nicht, aber er bekam wieder Boden unter den Füßen. Er kaufte sich eine kleine Wohnung, eigentlich mehr ein Apartment, und hatte so wieder ein Dach über dem Kopf, auch ohne regelmäßiges Einkommen. Hier und da hatte er Gelegenheitsjobs, schlug sich durch, bewegte sich zum Teil an der Grenze der Legalität – wobei diese Grenze mehr und mehr verschwamm. In guten Phasen trieb er immer noch viel Sport, entdeckte das Boxen für sich und ging zum Teil fast täglich ins Fitnessstudio. Er schaffte es, den Drogenkonsum einzustellen – er war trotz allem durch und durch Sportler, und Drogen und Sport vertrugen sich einfach nicht. Und trotz allem wollte er leben, und nicht drogenabhängig dahinvegetieren und irgendwo auf einem Bahnhofsklo verrecken. Er hatte in seiner kurzen Zeit auf der Straße genug gesehen. Nur dem Alkohol schwor er nicht komplett ab. Am Wochenende gehörte Bier und gelegentlich mal ein Wodka, oder was immer sich ihm bot, einfach noch dazu. Doch er schaffte es nun, meistens zumindest, sich selbst Grenzen zu setzen und diese einzuhalten. So erwachte er zwar teils verkatert neben schönen, jungen und zumeist nackten Frauen (wobei sie nachts einfach immer schöner waren als morgens) , aber er konnte sich immer an den Abend zuvor erinnern, und sein Kater war nichts, was mit Kopfschmerztabletten nicht in den Griff zu bekommen war. Alles in allem hatte er sich irgendwie im Griff, halbwegs zumindest. Und so lebte er in den Tag hinein, hing mit teils zwielichtigen Jungs herum, verbrachte seine Zeit beim Fitness oder im Boxclub. Und er ließ sich tätowieren. Aus einem Impuls heraus betrat er eines Tages ein Tattoo-Studio und ließ sich in römischen Ziffern Giannas Geburtsdatum auf die Brust tätowieren. Senkrecht stand es von diesem Tag an auf seinem muskulösen Oberkörper, beginnend kurz unterhalb der Brustwarzen, bis hinunter zum Bauchnabel. Und so schlug er sich durch, lebte vor sich hin, bis zu dieser Scheißidee von John… Verdammt. Rick schlug, wie schon so oft, vor Wut auf sich selbst mit der Faust auf seine harte Matratze ein. Noch sieben Monate, sagte er sich. Sieben. Wie sollte er das nur aushalten… Ich will hier raus, dachte Rick, um jeden Preis!

Über Nacht, Mr. Zoom?

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