Читать книгу Über Nacht, Mr. Zoom? - Sarah Veronica Lovling - Страница 9
6. Kapitel
Оглавление„Sozialprojekt? Was denn für ein Sozialprojekt?“ Ohne es zu ahnen, benutzte Rick dieselben Worte wie Caroline, um seiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen, und starrte Timmons entgeistert an. Der junge Anwalt hatte ihn heute im Gefängnis aufgesucht. Rick war völlig überrascht gewesen – er hatte angenommen, Timmons‘ Job sei erledigt gewesen. Doch offenbar hatte er den ihm zunächst so unsympathischen Juristen unterschätzt. Er hatte Rick erzählt, dass er an der Uni – dieser Fatzke machte gerade seinen Doktortitel – von einem neuen Sozialprojekt gehört hatte. „Die besten Studenten unterrichten junge Straftäter, damit diese einen Schulabschluss erlangen können… ich habe sofort an Sie gedacht!“, schloss Timmons seine Erklärung. Rick nickte stumm. Schulabschluss. Das klang wie ein Fremdwort, und Lernen, Büffeln, Lesen, rief in ihm nur Widerwillen hervor… dennoch. Dass Timmons sofort an ihn gedacht hatte, schmeichelte ihm im ersten Moment doch irgendwie, und er bedankte sich bei dem jungen Anwalt. „Mr Timmons, danke für die Information, aber ich denke, das ist nichts für mich“, versuchte er, ihn abzuwimmeln. Doch dieser bohrte weiter nach. „Kumpel… ich meine, Rick… Sie wissen anscheinend nicht, dass das hier Ihre letzte Chance sein könnte… Sie sind doch eigentlich kein schlechter Kerl! Sie hatten kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu… sonst wären Sie nie hier gelandet!“, fasste er Ricks unglückliche Lage eindrucksvoll zusammen. Rick nickte und schluckte. „Sie haben mehr drauf als das hier. Machen Sie Ihre Mama stolz. Denken Sie darüber nach!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Timmons, und ließ Rick zurück im Knast, allein mit seinen Gedanken. Mama. Wie gern würde er sie stolz machen… wenn er denn nur noch könnte. Damals war sie stolz auf ihn gewesen, hatte ihn geliebt und verwöhnt. Bis alles, einfach alles anders geworden war.
Als Rick dreizehn Jahre alt war, begann Gianna, die lebensfrohe, leidenschaftliche und mitreißende Italienerin, sich zu verändern. Zu Beginn fast unmerklich, dann immer mehr. Zuerst brauchte sie einfach ein paar Pausen mehr als sonst. „Ich werde wohl alt!“, hatte sie gescherzt. Dann wurde sie immer schneller erschöpft, müder, und desinteressierter. Sie putzte erst nur noch das nötigste, dann später gar nicht mehr. Alles wurde anstrengend für sie. Wäscheberge häuften sich an, so dass der Vater spätabends nach der Arbeit noch im Haushalt helfen musste – vorher einfach undenkbar für Gianna, der ihr Haushalt und die Versorgung ihrer „zwei Männer“, wie sie stets mit einem Augenzwinkern sagte, immer so wichtig gewesen war. Nie hatte es Schmutz oder Unordnung gegeben, und nun verwahrlosten langsam aber sicher erst der große Garten, und dann auch das Haus. Was war geschehen? Seine Mutter selbst wusste keine Antwort, wurde einsilbig und gleichgültig. Wurde sie gefragt, zuckte sie die Schultern. Die Eltern begannen, sich zu streiten, wobei meist nur sein Vater stritt und Gianna teilnahmslos schweigend danebensaß. Sein Vater machte seiner Mutter Vorwürfe, vermutete Depressionen, schickte sie zum Hausarzt. Sie kam mit einem stimmungsaufhellenden Medikament nach Hause, das zunächst zu wirken schien. Gianna wischte wieder den Boden und bügelte die Wäsche, und Richie und sein Vater atmeten auf. Aber nach nur ein paar Tagen lief nichts mehr, und Richie fand die halbleere Tablettenpackung im Müll. Gianna zog sich mehr und mehr zurück, schlief viel, schien in ihrer eigenen Welt zu leben, klagte über Kopfschmerzen. Das einzige, was sie nach wie vor tat, Tag um Tag, war das Kochen für Richie. Nach wie vor bekam er jeden Tag sein Essen, doch er merkte auch hier eine Veränderung. Es schmeckte nicht mehr so gut. Mal fehlte Salz, mal war das Essen durch zu viel Oregano zu bitter geworden. Einmal vergaß seine Mutter sogar, die Penne zu kochen, und bedeckte die noch steinharte, kalte Pasta mit heißer Tomatensauce. Und dann schließlich kam der Tag, an dem sie auch nicht mehr kochte. Richie fand sie nach der Schule auf dem Sofa liegend vor, schlafend, beim Erwachen eine Entschuldigung murmelnd. Nur – dass Richie diese nicht verstehen konnte. Giannas rechter Mundwinkel wies nach unten, und als sie aufstehen wollte, fiel sie hin. Dann ging alles ganz schnell. Gianna wurde ins Krankenhaus transportiert, und die eiligst durchgeführte Computertomographie zeigte einen golfballgroßen Gehirntumor – inoperabel und schnell wachsend. Sie schaffte es nicht einmal mehr nach Hause zurück. Die Ärzte behandelten sie nur schmerzlindernd, versuchten, den steigenden Hirndruck zu senken, um Anfällen vorzubeugen – das war’s. Richie stand daneben – im wahrsten Sinne des Wortes. Jeden Tag nach der Schule besuchte er seine Mutter, wachte an ihrem Bett, bis ihn die Schwestern am Abend nach Hause schickten. Sein Vater erschien immer nur kurz. Er könne Giannas Elend nicht mit ansehen, erklärte er. Es war ihm deutlich anzumerken, wie sehr er litt, doch er schottete sich ab und floh in die Arbeit. Richie hingegen vernachlässigte die Schule. Seine Mutter war ihm einfach wichtiger. Und obwohl man ihn nur sehr zurückhaltend über Giannas Zustand aufgeklärt hatte, wusste er Bescheid. Sein Herz wusste es einfach. Sie würde nicht mehr gesund, nie wieder. Sie würde sterben. Ein großer Teil von ihr war schon gestorben – die fröhliche, herzliche, lachende und energiegeladene Gianna gab es nicht mehr. Doch noch erkannte sie, wenn sie wach war, ihren geliebten Ricardo, lächelte mit ihrem so traurigen halben Mund und tastete nach seiner Hand. Dann, eines Tages, kam er wie immer von der Schule direkt ins Krankenhaus und fand seinen Vater dort sitzen, verweint und gramgebeugt. Richie wusste sofort, was passiert war – er konnte es in den Augen seines Vaters lesen. Seine Mutter war tot, gestorben ohne ihn, ganz allein. Und so fühlte Richie sich auch, selbst als sein Vater ihn in seine Arme zog – allein und tot. An diesem Tag war auch ein Stück von ihm selbst gestorben.