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Aus Sicht der Freimaurerei befindet sich die Kirche im Irrtum
ОглавлениеDiese duale Vorstellung vom Universum, die auf den ersten Blick so verlockend erscheint, brachte mich und viele andere Freimaurer auf den Gedanken, dass die Freimaurerei die Schlüssel der Wahrheit in Händen halte, während die Kirche im Irrtum sei; dass die Freimaurerei die weiße Fliese des strahlenden Lichts, die Kirche dagegen die schwarze Fliese der Dunkelheit oder sogar Verdunklung sei.
In diesem Zusammenhang hatte ich 2006 in meiner Loge in Narbonne eine Diskussion mit einem Freimaurer der höchsten Grade, der sich in der Loge oder beim Brudermahl gern abfällig über die Kirche äußerte. Dieser Eingeweihte bekleidete ein verantwortungsvolles nationales Amt innerhalb der Großloge »Le Droit Humain«. Unsere Diskussion fand während des Brudermahls nach einer Erhebung zum Meistergrad im Rahmen einer Festarbeit statt.31
Das Fazit dieser Unterhaltung war, dass die echten Meister diejenigen seien, die der Menschheit das Glück brachten – im Gegensatz zu jenen, die sie mit ihrem »Aberglauben«32 in die Irre führten. Denn wie ich im Verlauf meines Initiationsweges lernen musste, ist die Freimaurerei wirklich davon überzeugt, dass sie ihren Eingeweihten okkulte Geheimnisse zugänglich macht. Insbesondere die katholische Kirche ist in ihren Augen eine Perversion der ursprünglichen Überlieferung: »Dann verkehrte sich die esoterische Weisheit in Religion: ›Die Religionen stimmen nicht nur nicht mit der esoterischen Lehre überein, sondern entstellen sie oder lehnen sie ab.‹«33 Die Freimaurer betrachten sich als die Erben der ursprünglichen Weisheit, in der angeblich alle Religionen der Menschen ihre Wurzeln haben: »Die Freimaurerei lehrt die Grundsätze des uranfänglichen Glaubens und hat diese Gefäße, auf die sich jede Religion stützt, in ihrer Reinheit bewahrt.«34 Vor diesem Hintergrund betrachten die Freimaurer – besonders die Hochgrade des Areopags, die der schwarzen Freimaurerei angehören – die Bischöfe, die Kardinäle und speziell den Papst (vor allem Benedikt XVI., den die Freimaurer nicht ausstehen können) als Hochstapler und Betrüger.
Es entspricht somit vollkommen der Logik der Freimaurer, die Mitglieder der Kirche mit den Mördern Hirams gleichzusetzen oder zumindest zu Mittätern zu erklären. Hiram ist der Großmeister aller Freimaurer und Wahrer der letzten Geheimnisse. Er wurde von drei ehrgeizigen und neidischen Gesellen ermordet, die diese Geheimnisse in ihren Besitz bringen wollten, ohne die Voraussetzungen für ihre Initiation erfüllt zu haben. Dem altgedienten Hochgradfreimaurer fiel es übrigens nicht weiter schwer, mir zu beweisen, dass die Kirche bildungs- und fortschrittsfeindlich sei. In die Argumentation meines Bruders aus den Hochgraden, deren Subjektivität ich damals noch nicht durchschaut hatte, reihte sich ein antiklerikaler Gemeinplatz an den anderen: die Inquisition, die Borgia-Päpste und ihre Intrigen, der Prozess gegen Galileo, die Leugnung der Jungfräulichkeit Mariens und sogar der Gottheit und der Auferstehung Christi.
In den Augen der Freimaurerei will die Kirche nur eines: den Meisterfreimaurer Hiram töten, der in allen Eingeweihten wiedergeboren wird.
Die katholische Kirche, die die Freimaurerei seit deren Entstehung im 18. Jahrhundert bekämpfe, stemme sich der Emanzipation der Menschheit entgegen, erklärte mir mein Bruder. Sie lasse sich, genau wie die drei mörderischen Gesellen, von Dogmatismus, Fanatismus und Ehrgeiz leiten. Damals – das muss ich heute mit Bedauern und nicht ohne Scham zugeben – erschien mir diese freimaurerische Theorie hinreichend plausibel. Auch wenn ich weiß, dass der Herr mir diese Verirrung vergeben hat, weil ich sie »unter Einflussnahme« begangen und vor allem weil ich sie nach meiner Bekehrung aufrichtig bereut habe, muss ich bekennen, dass ich in meiner Verzweiflung Tränen vergossen habe, als ich meine Verblendung mehrere Jahre später beichtete. Ich war wie Petrus, der Christus verleugnet hatte: »Und er ging hinaus und weinte bitterlich« (Mt 26,75).