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Ein Werkzeug, um die Welt aus den Angeln zu heben Die Macht des Hebels

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Ich hatte einen hohen Grad in der Rangordnung der Freimaurer erreicht und es bis zum Großarchitekten gebracht, das heißt zu einem vollkommen autonomen Eingeweihten.

Die Freimaurerei will in einer »freien« Loge »freie« Menschen »erschaffen«. Doch diese Freiheit, nämlich die Redefreiheit, ist sehr relativ und der Rahmen des »freimaurerisch Korrekten« sehr eng.51 Die Freimaurerei erzieht ihre Eingeweihten zur Autonomie im Sinne der griechischen Etymologie des Wortes52, das heißt zur Haltung dessen, der »sich seine eigenen Gesetze gibt«. Eines Tages begriff ich, dass die freimaurerische Freiheit mehr oder weniger explizit in einem metaphysischen Ziel besteht: »Nicht von ungefähr wird der Eingeweihte aufgerufen, sein eigener König und sein eigener Priester zu werden.«53 Auf diese Weise »emanzipiert« sich der Eingeweihte, bis er sich schließlich selbst zum Gott erklärt: »Was die Freimaurer auszeichnet, ist, dass sie in voller Kenntnis der Sachlage am Großen Werk mitarbeiten […] und zu dieser Meisterschaft gelangen, die einer Vergöttlichung oder einer Apotheose entspricht.«54 Ich bezeuge, dass die Freimaurerei ähnlich wie der Pelagianismus55 auf eine Art menschliche Selbstproklamation abzielt.

Deshalb sind die Meister der Freimaurerei grundsätzlich und immer der Meinung, sich »befreien« zu müssen: »Man muss täglich seine Ketten abschütteln, um frei zu werden und zu bleiben. Die Hörigkeit belauert uns unausgesetzt und in unzähligen heimtückischen Verkleidungen. Sie zwingt sich unserem Geist auf, wenn die intellektuelle Trägheit uns daran hindert, selbst nach der Wahrheit zu suchen.«56 Eine solche psychologische und spirituelle Agitation ist nicht weiter verwunderlich. In meinen Jahren als Freimaurer musste ich jedoch erfahren, dass das Individuum, wenn es durch die Illusion der Meisterschaft endlich sich selbst überlassen ist, sich im Kreis dreht, weil es stets von sich ausgeht und stets zu sich zurückkehrt. In der Freimaurerei gab es kein göttliches Wort, das mir festen Halt gegeben hätte. Ich dachte, das Absolute zu suchen, und fand doch immer nur mich selbst. »Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.«57

Ich meinerseits gab, seit ich sie entdeckt hatte, der Auffassung des hl. Franz von Assisi den Vorzug: »Alles kommt von Gott und muss zu Gott zurückkehren, sein Wort eingeschlossen.«58 Eine Aussage, der die Freimaurerei insofern nicht zustimmen kann, als sie das Wort für verloren hält. Für den Christen dagegen ist es geoffenbart – wenn auch zuweilen so geheimnisvoll wie in der Offenbarung des Johannes.

Seit dem Gesellengrad hatte sich eine ungesunde Autonomie in mir eingenistet, die sich schon bei meiner Einweihung angedeutet hatte. Bei der Erhebung in diesen Grad wurde mir eines der neuen, für den Gesellen typischen Werkzeuge überreicht: das Brecheisen. Seine symbolische Bedeutung wird im Erhebungsritual erklärt, wenn der Zweite Aufseher die folgenden Worte spricht:

»Die Macht des Brecheisens kann erheblich sein.«

Diese Maxime wird durch die Worte des Ersten Aufsehers ergänzt, der etwas verkündet, was man mit Fug und Recht als freimaurerisches Dogma bezeichnen kann:

»Sinnvoll eingesetzt, ermöglicht das Brecheisen, behauene Steine im Innern des Gebäudes zu platzieren.«

Als ich zu diesem Grad zugelassen wurde, fühlte ich mich in meiner Ahnung bestätigt, dass die Steine die Freimaurer symbolisierten, während das Brecheisen für den freimaurerischen Willen stand, der so rationalistisch und zugleich esoterisch geprägt war, dass ihm nichts widerstehen konnte. Welch menschliche Anmaßung angesichts der Allmacht Gottes! Wenn sie über gute Lehrlinge, gute Gesellen und gute Meister verfügte, würde sich die Freimaurerei in der Menschheit unweigerlich durchsetzen: »Der Wille gibt uns das unwiderstehliche Brecheisen an die Hand, mit dem wir die Welt aus den Angeln heben können.«59 Es würde nichts nützen, wenn die verschlafenen Profanen gegen die erweckten, durch ein geheimes Licht erleuchteten Eingeweihten kämpfen würden, da die geschickt eingesetzten Brecheisen – wie ich eines war – nutzbringend und heimlich in den Behörden, Unternehmen, Gewerkschaften und Verbänden, in der Finanzwelt und in den Kreisen der Politik platziert wurden. Dass diese Darstellung der Wahrheit entspricht, bestätigen die Worte eines Großmeisters: »Der Einfluss der Freimaurerei ist heute vielleicht noch beträchtlicher […] als zu Zeiten der Dritten oder Vierten Republik60. Sie sind auf einer anderen Ebene platziert. […] Es gibt heute keinen Verband, keine Vereinigung, keine Gewerkschaft, in denen die Freimaurer nicht vertreten wären – und das in den verantwortungsvollsten Positionen.«61

Bei der Zeremonie hatte der Meister vom Stuhl seine Belehrung über das Brecheisen des Gesellen wie folgt beendet:

»Das Brecheisen entfaltet nur dann die Wirkung, die man von ihm erwarten darf, wenn es in Freiheit eingesetzt wird. Ebenso wird das Denken unfruchtbar und machtlos, wenn es in Unwissenheit, in Vorurteilen und in Dogmen (sic) befangen bleibt. Das Brecheisen symbolisiert die Macht des freien Denkens. Ohne Freiheit ist und vermag die Vernunft nichts. Möge das Brecheisen Ihnen diese Pflicht des Freimaurers immer ins Gedächtnis rufen: frei zu denken.«

An dieser Stelle drängt sich eine »Interpretation« auf, eine »Interpretation«, der über zwanzig Jahre des freimaurerischen Tuns und Denkens zugrunde liegen, somit eine »Interpretation«, die sich auf eine Vielzahl gelesener Texte, gehörter Werkstücke und mit Meistern und Hochgraden der Freimaurerei geführter Diskussionen stützen kann.

Das Brecheisen in Freiheit zu handhaben heißt, dass der Freimaurer selbst über seine Verwendung bestimmt, dass diese Selbstbestimmung jedoch ausschließlich im Rahmen der freimaurerischen Doxa erfolgt, die seine Vorstellung von »humanistischer Freiheit« unbewusst geprägt hat. »Wenig lesen und viel selbst denken, das muss die Regel des Meisters sein. Als Architekt seines intellektuellen Gebäudes trägt er die Materialien zusammen, die er nach seinem eigenen Plan verwendet und nach Gutdünken bearbeitet.«62

Nachdem ich die freimaurerischen Dogmen und besonders jene, die das Brecheisen betrafen, beobachtet hatte, erkannte ich – im Rahmen einer Zeremonie der Aufnahme in den Gesellengrad63 – ihre spirituellen Grenzen. Bei meiner Bekehrung hatte eine »immens kleine« Heilige ihre Hand im Spiel, die mir mit diskreter, zarter und geisterfüllter Liebe zu Hilfe kam.

Als ich einen ihrer Texte las, wurde mir bewusst, welchen »Halt« die Handhabung des freimaurerischen Brecheisens aufs Schmerzlichste vermissen ließ: »Ein Gelehrter hat gesagt: ›Gebt mir einen Halt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.‹ Was Archimedes nicht zu erreichen vermochte, da sich seine Bitte nicht an Gott richtete, sondern nur das Materielle betraf, das haben die Heiligen erreicht. Der Allmächtige hat ihnen Halt gegeben, indem er sich selbst gab! Sich allein! Als Hebel hat er ihnen das Gebet gegeben, das ein Liebesfeuer entzündet. Und so haben sie die Welt aus den Angeln gehoben. So tun die gegenwärtig auf dieser Welt noch streitenden Heiligen dasselbe und sie werden es bis an das Ende der Zeiten tun.«64 Mit einem Mal wurde mir klar, worin der Unterschied zwischen den Heiligen und den Eingeweihten bestand: Die Heiligen hüten kein esoterisches Geheimnis. Sie bauen schlicht und einfach auf Gott …

Die Freimaurerei ist weit von dieser Demut entfernt, wie sie jene beseelt, die ihr Dasein der größeren Ehre Gottes geweiht haben. Stattdessen stiftet sie ihre Eingeweihten in den Hochgraden dazu an, stolz auf ihr Vorankommen auf dem Initiationsweg zu sein.

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