Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 11

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Siebzehn Jahre lang hatte Marcus vom Familien-Tartan geträumt. Er war schwarz mit dünnen geraden Streifen in Gold, Rot und Lila. Für den jungen Mann stellte er all das dar, was in seinem Leben Bedeutung besaß.

Voller Stolz hatte er ihn auf dem ganzen Weg zusammen mit Sir Trygve nach Jerusalem getragen. Er hatte die Risse geflickt, die während der Reise entstanden, hatte das Blut herausgewaschen – seins und das der Feinde –, wenn er konnte. Jener dicke, wollene Tartan hatte eine sehr lange Zeit gehalten. Und obwohl die Tage im Heiligen Land so heiß waren, dass es schien, als würde die Haut von den Knochen schmelzen, hatte er ihn nicht abgelegt. Er war das Symbol seines Clans, seiner Heimat, seiner Hoffnung.

Ja, er hatte ihn aufgetragen, bis die Falten durch Dreck und Blut und Wüstenstaub brüchig geworden waren. Und jede Nacht hatte er von dem Tag geträumt, an dem er nach Schottland zurückkehren würde.

Bis Damaskus. Bis zu jener Nacht, als man ihm den Tartan vom Leib riss und verbrannte – und die Träume von seiner Kindheit mit ihm.

Als es vorüber war, hatte er Sir Trygves Halsberge und Schild genommen, die er seitdem bei sich trug. Doch immer wieder gab es Zeiten, da kehrte der Traum zurück und kroch durch die Ritzen des Schutzpanzers, den er um sich errichtet hatte. Dann dachte er wieder an Unmögliches: Schnee, Holzrauch und frische Luft, grüne Täler. Unschuld.

Es hatte mehr Willenskraft erfordert, als in ihm war, den Tartan wieder anzulegen, als er endlich heimkehrte. Nur Balthazar hatte vielleicht verstanden, wie schwer ihm das fiel. Nur Balthazar war in Damaskus dabei gewesen und hatte miterlebt, wie Marcus seine Hoffnung verlor.

Noch immer gab er sich nicht der verführerischen Bequemlichkeit hin, die das Tuch anbot. Nicht so leicht. Er trug auch weiterhin sein spanisches Schwert an der Hüfte. Es war ein deutliches äußeres Zeichen seiner inneren Andersartigkeit. Es war schön, dass die Leute seines Clans es bewunderten und es für eine absolut tödliche Waffe hielten. Doch er hätte es auch getragen, wenn sie es verabscheut hätten. Er brauchte etwas, brauchte ein sichtbares Ding, das ihn im rauen Paradies Schottlands in Schach hielt und nicht die Widrigkeiten vergessen ließ, mit welchen er in fernen Ländern hatte fertig werden müssen.

Nichtsdestotrotz war der Tartan, den er trug, neu und robust, und Marcus konnte ihn nur als etwas Wunderbares betrachten, jene geraden Fäden in Gold und Rot und Lila mit dem tiefen Schwarz, das sie umgab. Er stellte die unantastbare Verbindung mit seinem Erbe dar, welche er genauso brauchte wie jene spanische Klinge.

Und hier war nun Lady Avalon, die an diesem Morgen vor ihm stand. Die Sonne hatte beschlossen, aufzugehen und ihre Strahlen durch das Laub der Bäume zu schicken, um den elfenbeinfarbenen Glanz ihres Haares einzufangen und den zarten Schwung ihrer Wange zu liebkosen.

Sie war so lieblich – selbst in ihrem jetzt vollkommen ruinierten Kleid. Anmutig nahm sie den Tartan, den Marcus ihr reichte – und warf ihn ihm vor die Füße!

»Ich habe geschworen, ihn nie wieder zu tragen«, erklärte sie, während sie gleichzeitig Trotz und Zerbrechlichkeit ausstrahlte. Doch er ließ sich von ihrer Zartheit nicht zum Narren halten. So gewiss wie er das Produkt von Hanoch war, galt das auch für sie.

»Wie schade für Euch«, meinte Marcus, während er ihn aufhob. »Denn Ihr werdet ihn erst recht tragen.«

Sie gab nicht nach, nicht einmal ein klein wenig. Kampfbereit ballte sie die Fäuste, Blätter hingen an ihr. Die Amethyste auf ihrem Bliaud hatten nichts von ihrem Glanz verloren und blitzten in der Sonne.

»Ihr werdet mich dazu zwingen müssen«, gurrte sie mit tödlich sanfter Stimme.

In seiner Vorstellung war sie plötzlich nackt, völlig nackt und wunderbar entgegenkommend, als sie ihn mit einem Lächeln zu sich rief. Himmel, er war mehr als bereit dafür, dass sich dieses unglaubliche Haar um ihn schlang, während er wieder von ihr kostete. Dieses Mal würde es noch süßer und heißer sein. Es würde keine Lektion, sondern ein Vergnügen sein ...

Marcus verdrängte die Vision, schockiert, dass er die Kontrolle über sich verloren hatte.

Avalon öffnete die Augen weit und ihr ganzer Körper wurde starr, als sie zu ihm aufblickte.

Sie wusste es, wusste, was er gedacht hatte. Das war ihm plötzlich klar.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich ihre Gedanken auf diese Weise miteinander verbinden könnten. Der Fluch hatte es nie erwähnt. Aber Marcus bezweifelte nicht, dass diese Kraft real war. Die Legende begleitete ihn seit seiner Kindheit, war tief in ihm verankert. Seine Mutter hatte ihm sein Schicksal mit ihrer sanften Stimme vorgesungen, wenn er schlafen ging. Sie starb, als er zehn war, und die Frauen des Clans hatten ihren Platz eingenommen. Wieder und wieder erzählten sie ihm die Geschichte, damit er seine Rolle verstünde, wenn er ein Mann wurde.

Marcus glaubte an den Fluch. Und so merkwürdig es auch klang – er glaubte, dass die Braut die Gedanken und die Herzen von anderen durchschaute. Er wusste, dass solch eine Kraft real war, weil ein winziger Teil dieser Gabe auch in ihm lebte. Und er verstand es wirklich als Gabe.

Avalon riss ihm das Stoffbündel aus der Hand und ging schnell davon. Sie schob die Decke, die für sie zwischen zwei Büschen gespannt worden war, beiseite und verschwand dahinter.

Er konnte den Umriss ihres Schattens sehen, der immer wieder mit den Zweigen und Blättern verschmolz. Ein vollkommenes Profil, ein vollkommener Arm, der sich streckte, der lange Blick auf einen gerundeten Schenkel. Ein Bild der Vollkommenheit.

Als sie wieder auftauchte, trug sie den Tartan.

Den Frauen des Clans sei Dank, die daran gedacht hatten, die silberne Brosche, die den Tartan hielt, und das schwarze Kleid, das man darunter trug, dazuzulegen. Marcus hätte nie an diese Einzelheiten gedacht.

Lady Avalon warf ihm einen Blick zu, als sie ihr unterbrochenes Frühstück fortsetzte. Ein Blick, der was zeigte? Ärger, ja. Aber noch etwas anderes, das sich nicht so leicht beschreiben ließ. Argwohn vielleicht. Furcht – hoffentlich nicht. Nein, da war keine Angst, nicht bei ihr. Eher Vorsicht.

Hm – nicht schlecht! Er hatte so schon Schwierigkeiten genug, mit ihr fertig zu werden. Eine etwas respektvollere Haltung ihm gegenüber könnte nicht schaden.

Seine Männer beobachteten, wie sie schweigend aß. Sie bemerkten die Falten im Tartan, die sie selber geordnet hatte und die alle an der richtigen Stelle saßen. Über ihren gesenkten Kopf hinweg tauschten sie befriedigte Blicke. Niemand außer Marcus wusste, dass sie nur nachgegeben hatte, damit sie sich von ihm entfernen und er ihr nicht folgen konnte.

Avalon saß auf einem flachen Stein am Boden und kaute missmutig auf ihrem Haferkeks herum.

Da war es wieder, dieses schrecklich vertraute Plaid, das ihren Körper umhüllte. Hatte sie nicht geschworen, es nie wieder zu tragen? Sie war vierzehn gewesen, und in jener Nacht hatten sie die Grenze von Schottland nach England überquert. Als sie den Tartan ablegte, geschah es in der Überzeugung des letzten Mals. Sie hatte ihn selbst im Ofen des Gasthauses verbrannt, in dem sie übernachteten. Langsam wurde der Tartan von den Flammen verschlungen, und keiner hatte ein Wort zu ihr gesagt – weder der Abgesandte des Königs noch die Soldaten oder der Gastwirt. Alle zusammen hatten mit ihr zugeschaut, wie er zu Asche wurde.

Und nun war er wie ein schlechter Traum zurückgekehrt. Der Kincardine-Tartan, der über ihrer Schulter und um ihre Taille lag, genau wie bei den Schultern und Taillen der anderen Frauen des Clans. Sie hatte sich erinnert, wie das riesige Viereck aus Stoff zu handhaben war, ohne auch nur überlegen zu müssen. Mit Leichtigkeit hatten ihre Finger den Stoff in Biesen und Falten gelegt, was sie als Kind unermesslich viel Zeit gekostet hatte. Avalon unterschied sich nun äußerlich von keinem von ihnen mehr. Niedergedrückt erkannte sie, wie leicht es für die Kincardines war, sie wieder in ihrer Mitte aufzunehmen.

Konnte jener Augenblick relativer Freiheit den Verlust des Schwurs, den sie geleistet hatte, aufwiegen? War er es wert, nur um damit die reißende Flut der Gefühle aufzuhalten, die sie in Hanochs Sohn gespürt hatte, als dieser sie über das von ihr zurückgewiesene Stoffbündel hinweg anblickte?

Es ließ sich nicht leugnen, was geschehen war. Sie hatte irgendetwas gesagt – was eigentlich? –, und schon hielt er sich an ihren Worten fest und wandelte sie um in wirbelndes Verlangen. Er hatte sie mitgerissen.

Es war zu plötzlich, zu überwältigend geschehen. Es ähnelte zu sehr jenem Augenblick auf der Treppe im Gasthaus, als er nur ihr Kinn berührt hatte, und sie spürte, dass ihr ganzer Körper in Flammen aufging. Ihr Körper war in einer Art geweckt, die sie noch nicht kannte.

Was sollte sie davon halten? Sie hatte keine Ahnung. Solche Blicke wie bei ihm hatte sie bei vielen Männern in London gesehen. Und auch auf dem Weg zurück nach Gatting waren sie ihr aufgefallen. Aber keiner hatte sie so tief berührt wie er. Keiner hatte die Chimäre so heftig beschworen.

Keiner ließ sie sich so ... lebendig fühlen.

Der Haferkeks war staubtrocken und allmählich bemerkte sie wieder seinen faden Geschmack. Auch etwas, von dem sie gedacht hatte, es nie wieder zu haben.

Marcus Kincardine entpuppte sich alles in allem als ganz anders als erwartet. Er sprach gerade mit seinen Männern, die sich um ihn versammelt hatten, und alle trugen eine ernste Haltung zur Schau. Jeder von ihnen war sich genau wie sie intensiv der Anwesenheit des jeweiligen Nachbarn bewusst. Marcus wandte ihr den Rücken zu. Er sagte etwas zu einem braunhaarigen Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Wahrscheinlich war es einer von Hanochs Günstlingen.

Der Zauberer Balthazar hielt sich etwas abseits, während er das herrlich ziselierte Zaumzeug seines Hengstes festhielt. Würdevoll nickte er ihr zu.

Dieser Mann war Avalon von Anfang an aufgefallen. Es hatte nichts mit seiner fremdländischen Kleidung oder seinen Ohrringen zu tun, die ihn von den anderen unterschieden. Es lag an seinem Auftreten. Die Chimäre hatte sofort das richtige Wort geflüstert, als er sich näherte: Zauberer.

Es war erstaunlich – ein der Fantasie entsprungenes Wesen erkannte ein anderes. Wenn das Wesen auch nur der Fantasie entsprungen war, so verkörperte dieser Mann es doch zur Gänze. Seine Ganzheit wirkte so echt. Sie leuchtete aus seinen Augen. Avalon wusste, einzig und allein er akzeptierte sie ohne Vorbehalte oder Vorurteile, wie sie war. Fast wünschte sie sich, mit ihm zu reden, seine Geheimnisse zu entdecken – doch er war der Freund ihres Feindes. Deshalb kam dies nicht in Betracht.

Zwei lange Tage ritten sie weiter.

Niemand sprach unterwegs. Die einzigen Geräusche, die man hörte, waren das Schnauben und Wiehern der Pferde und der stete Klang ihrer Hufschläge auf Laub und Torf. Die Vögel verstummten, wenn sie auf der Bildfläche erschienen. Einige erhoben sich verschreckt gen Himmel, wo sie auseinander stoben.

Avalon erkannte den Moment, als sie die Grenze nach Schottland überschritten. Sie erkannte ihn sogar, bevor die anderen es bemerkten. Die Luft und das Licht änderten sich, überhaupt alles.

Marcus hinter ihr hatte es möglicherweise im gleichen Augenblick gespürt. Er richtete sich im Sattel auf. Ein einziges Wort strömte aus ihm heraus:

Daheim.

Nein, dachte sie, nicht mein Zuhause.

Aber wenn nicht hier, wo dann? Nicht Schottland, nicht Gatting, nicht London. Nicht einmal mehr Trayleigh. Ihr Leben war in so viele Teile zerbrochen, dass sie sich mit nichts und niemandem mehr verbunden fühlte.

Nur die Chimäre schien froh, wieder in Schottland zu sein. Avalon spürte, wie sie sich in ihr regte. Sie war jetzt milde gestimmt, doch so viel stärker als je zuvor ...

In diesem Land lagen ihre Wurzeln. Sie war das Produkt des wilden Hochlands und ihres eigenen Willens zu überleben. Bevor sie als junges Mädchen hierher gebracht wurde, war die Chimäre nur eine Stimme gewesen. Eine Führung, eine andere Art Auge. Hanoch war es gewesen, der die Bestie mit Schlägen aus den Funken ihres Geistes zum Leben erweckt hatte. Hanoch war es gewesen, der sie gelehrt hatte, wie schwarz Schwarz sein konnte.

In dieser Nacht lagerte die Gruppe unter einem vollständig mit Sternen bedeckten Himmel. Hier kündete der scharfe Wind bereits vom kommenden Winter und trug schwer an der Botschaft eines bitterkalten Regens. Unter ihrem Kleid und Tartan, einer Decke und einem armseligen Zelt zitterte Avalon mit verschränkten Armen auf dem Boden zusammengerollt. Ihre Träume verschmolzen zu einer verwirrenden Mischung aus Erinnerungen und Fantasievorstellungen, bis sie endlich erkannte, welche Szene sich gerade abspielte.

Onkel Hanoch war so wütend gewesen. Ja, wie hatte sie ihn nur vergessen können, jenen Moment im Ring aus Staub ...

»Sie ist nichts weiter als ein schwächliches Frauenzimmer«, knurrte ihr Onkel voller Abscheu. »Sieh sie dir an.«

Langsam setzte sie sich auf, indem sie sich am Boden abstützte. Sie widerstand dem Drang, eine Hand über ihre Augen zu legen, damit sich nicht mehr alles um sie drehte.

»Du konzentrierst dich nicht genug.« Der andere Mann – ihr Lehrmeister – sah sie mit finsterer Miene an. »Ich habe dir doch gesagt, dass du dich konzentrieren sollst!«

Sie rappelte sich vor den beiden Männern auf, ohne sich den Dreck abzuklopfen, der sich durch ihren Sturz auf den Tartan gelegt hatte.

»Noch einmal!«, bellte ihr Onkel.

Ihr Lehrmeister wartete nicht, bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Er näherte sich ihr mit einer schnellen Finte zu ihrer Rechten, sodass sie mit nach vorn gestreckten Händen in die andere Richtung rutschte und versuchte, den nächsten Angriff abzuwehren.

Ihre Augen tränten durch den um sie aufsteigenden Staub. Er behinderte ihre Sicht. Und obwohl sie wusste, dass ihr Lehrmeister sie mit einem Tritt seines Fußes gegen ihre Knie zu Fall bringen würde, konnte sie nichts tun. Ihr Atem kam stoßweise, fast schluchzend.

Sie machte den Fehler, eine Hand zu heben, um sich damit, im Bemühen, die Tränen wegzuwischen, über die Augen zu reiben.

Runter!, schrie die Bestie in ihrem Kopf. Wegrollen! Sie tat, was sie ihr sagte. Instinktiv wich sie dem Hieb des Mannes aus und warf sich zusammengekauert in den Dreck. Sie nutzte ihr mageres Körpergewicht, um sich mit einem Schwung zu drehen und wieder hoch zu kommen. Mit einer vollen Drehung sprang sie auf die Füße und wirbelte herum, um den Mann anzusehen, der jetzt hinter ihr stand.

Die Chimäre ließ sie die widerwillige Anerkennung ihres Onkels spüren, der schweigend zuschaute, während seine Lippen einen schmalen Strich bildeten.

Sie hasste seinen verkniffenen Mund. Mehr bekam sie nie von ihm zu sehen. Er war ein Zeichen der ständigen Unzufriedenheit eines Mannes, den alle anderen außer ihr »Laird« nennen durften.

Ihr Lehrmeister hielt bei ihren überraschenden Bewegungen nicht inne. Er näherte sich ihr wieder mit kleinen Schritten. Beide Hände streckte er gleich weit vor sich aus, sodass sie keinen Hinweis darauf erhielt, mit welcher er sie im Folgenden angreifen würde.

Eine Strähne ihres Haars, silbrig schimmernde Locken, hatte sich aus dem festen Knoten an ihrem Hinterkopf gelöst. Die feinen Strähnen störten sie. Beim leisesten Windhauch wirbelten sie vor ihr hoch. Sie schüttelte den Kopf, um wieder klare Sicht zu bekommen.

Links!, schrie die Bestie, aber dieses Mal war es zu spät und die Hand des Lehrmeisters traf sie mitten ins Gesicht, sodass sie wieder in den Dreck geschleudert wurde.

»Pff«, knurrte der Laird voller Abscheu. »Eine Kriegsmaid, wohl wahr!«

Avalon lauschte ihm mit gebeugtem Kopf und geschlossenen Augen, als er eine Schimpfkanonade auf den Lehrer losließ.

»Sie wird nie diejenige sein. Sie ist eine Schande!«

»Gib ihr ein bisschen Zeit, Hanoch. Sie ist noch jung.«

»Zeit!« Die Stimme des Lairds dröhnte unglaublich laut in der Stille des Hofes vor dem Cottage. »Zeit! Sie hat bereits drei Jahre Zeit gehabt! Wie lange braucht sie denn noch?«

»Fertigkeiten im Kampf erwirbt man nicht so leicht, Hanoch. Das weißt du. Und sie ist noch ein Kind.«

Bei diesen Worten hob sie den Kopf und beobachtete die miteinander streitenden Männer. Unten auf der Erde hatte sie einen guten Blick auf die beiden. Die Locken, die sich gelöst hatten, flossen über ihre Schultern und ringelten sich im Staub, wo sie einen hellen Ring gegen das Graubraun des Bodens bildeten.

»Sie wird nicht immer ein Kind bleiben, MacLochlan«, erwiderte Onkel Hanoch. »Bald hat sie das Alter, meinen Sohn zu heiraten. Und du weißt, dass sie die Anforderungen des Fluchs erfüllen muss! Ich habe darauf vertraut, dass du die Geschichte zum Leben erweckst, und dann bietest du mir das

Der Lehrmeister warf ihr einen Blick zu, und Avalon begegnete ihm mit Trotz. Es war seit langem der erste Widerstand, den sie zu zeigen wagte.

»Sie wird besser werden«, behauptete der Lehrer, und die scharfen Ohren der Bestie waren nicht nötig, um den Zweifel in seiner Stimme herauszuhören.

Der Laird ging zu der Stelle, wo sie immer noch auf Händen und Knien hockte. Er starrte auf sie hinab und kniff die Lippen vor Abscheu noch mehr zusammen.

»Avalon d’Farouche. Du bist eine Schande für deinen Clan!«

Sie stieß sich mit den Händen ab und spie die Worte, die sich in den letzten drei Jahren in ihr aufgetürmt hatten, förmlich aus:

»Ich gehöre nicht zu Eurem Clan!«

Onkel Hanoch zog die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch. Sein roter Bart sträubte sich.

»Was hast du gesagt?«, erkundigte er sich mit Grauen erregender Stimme.

Avalon kam wieder auf die Beine, während die Chimäre in ihr jetzt kauernd zurückwich und in ihrem Kopf kreiste.

Wut!, heulte die Chimäre. Oh, schreckliche Wut, Fehler, Fehler, nimm es zurück ...

Schweig!, rief Avalon ihr lautlos zu. Sie hatte so lange auf diesen Augenblick gewartet, und es war zu spät, um die Worte zurückzunehmen.

»Ich gehöre nicht zu Eurem Clan.« Sie sprach mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte. Sicher hätte es ihr Vater damals genauso gesagt, als er noch lebte.

Onkel Hanochs Haut wurde unter seinem Bart sehr blass, sodass sein struppiges rotes Haar in der Nachmittagssonne plötzlich grell hervorstach.

Die Chimäre stieß ein ängstliches Wimmern aus, das nur sie zu hören vermochte. In völliger Unterwerfung rollte sich ihr innerer Plagegeist auf den Rücken und zeigte den verletzlichen Bauch. Aber sie wusste, dass vielleicht nicht einmal dies ihren Onkel jetzt noch beruhigen konnte.

Drohend baute er sich über ihr auf, sodass kein einziger Sonnenstrahl mehr zu ihr drang.

»Euer Fluch ist dumm!«, schrie Avalon und sie konnte nicht glauben, dass es ihre eigene Stimme, ihre eigenen Worte waren, die sie da hörte und ihn bestimmt dazu brachten, sie umzubringen. Seine Augen traten aus den Höhlen, seine Hände ballten sich zu schweren Fäusten. Mit einem Hieb würde er sie vernichten. Aber zuletzt war das nicht einmal so schlimm. Dann könnte sie diesen Ort verlassen, könnte ihre Mutter, ihren Vater und Ona sehen ...

»Dumm!«, gellte sie wieder und bereitete sich auf den Tod vor. »Er ist nicht real! Nur Hasenfüße glauben an Flüche!«

Vor ganz langer Zeit hatte Ona ihr das erzählt. Damals als sie noch ein Kindermädchen hatte, in einer Burg lebte und Menschen um sie waren, die sich um sie kümmerten. Nicht wie jetzt. Nicht wie dieses Leben in einem winzigen Cottage, wo es keine Kindermädchen, keine Spielkameraden und auch sonst keine Gefährten außer dem Lehrmeister gab.

»Mädchen, hüte deine Zunge!« Das kam von ihrem Lehrmeister – eine neue Bedrohung und Ablenkung, die sich zwischen sie und den Laird drängte.

»Nein, werde ich nicht!«

Es schien, als hätte sie drei Jahre lang auf diesen Augenblick gewartet – seitdem sie hierher gebracht worden war –, um sich in diesem Ring aus Staub und Schmutz gegen die beiden Giganten, die sich riesig und Furcht einflößend gegen den Himmel abzeichneten, aufzulehnen. Was sie von ihr wollten, was sie von ihr erwarteten, lag jenseits des Vorstellbaren.

»Es ist nur ein Märchen!«, höhnte sie im Vollgefühl der Macht, endlich das zu sagen, was sie dachte. »Das ist in Wirklichkeit nie passiert! Und ich werde nicht so tun, als wäre es wahr – und ich werde niemals heiraten, weder für Euch noch sonst jemanden und ganz gewiss nicht aufgrund einer erfundenen Geschichte!«

Die Worte, die sie so lange zurückgehalten hatte, schmeckten wunderbar verrucht auf ihren Lippen. Sie waren gefährlich und jetzt nicht mehr aufzuhalten. »Ich werde ihn nie heiraten! Hier und jetzt schwöre ich es – ich werde Euren Sohn niemals heiraten!«

Avalon holte tief Atem, und sie spürte, wie die Welt um sie her still wurde. Der letzte Widerhall ihrer wahren Gedanken schwand schließlich zwischen den Bäumen dahin. Plötzlich fühlte sie sich geschlagen. Ihr Ausbruch hatte ihr das bisschen Rest von Widerspruchsgeist, das noch in ihr flackerte, geraubt. Sie gehörte nicht hierher, sie hasste diesen Ort. Mehr als alles andere wollte sie in der Lage sein, ihn zu verlassen. Der Schmerz, der in ihr aufwallte, war so heftig, dass sogar die Chimäre in ihr davon bezwungen wurde.

»Ich will nach Hause«, flehte sie auf einmal. »Bitte ... lasst mich nach Hause gehen.«

Ein langer Moment des Schweigens senkte sich herab, als ob sogar die Vögel und das sprudelnde Wasser aus Angst um sie erstarrten, angesichts des Zorns, der ihren Worten folgen musste. Die von Hanoch zischend eingesogene Luft beendete schließlich die Stille.

»Das ist also der Dank, den ich ernte!« Mühelos schob er ihren Lehrmeister beiseite. Dieser widersetzte sich nicht und verschmolz mit den Bäumen und den Bergen im Hintergrund. Er ließ Avalon allein mit ihrem Schicksal.

Hanoch war weiß vor Wut.

»Nachdem ich dich bei dem Überfall gerettet habe, der deinen Vater das Leben kostete, und dich hierher brachte, in mein Heim, zu meinen Leuten – nachdem ich dich, Avalon d’Farouche, um deines Vaters und meines Sohnes willen aufgenommen habe! Nach all dem wagst du es, zu heulen und zu jammern und ausgerechnet das zu verhöhnen, was dir das Leben gerettet hat!«

»Flüche sind nicht real«, wisperte sie. Mittlerweile war sie so verängstigt, dass sie sich nicht einmal traute, sich die Augen zu wischen. Das Haar hing ihr ins Gesicht und bildete einen Vorhang aus blonden Strähnen zwischen ihm und ihr.

»Real?«, brüllte er und trat auf sie zu. Sie zuckte zusammen, als sich seine Hände auf ihre Schultern senkten, aber sie versuchte nicht wegzulaufen. Es würde ihr nichts nützen, ihr Onkel hatte überall Wachtposten.

»Real?«, schrie er wieder und hob sie mühelos hoch, als sei sie nichts weiter als eine Stoffpuppe. Ihre Füße baumelten in der Luft. »Ich werde dir zeigen, was real ist, Mädchen! Ich zeige dir die Realität eines Tages und einer Nacht im Besenschrank. Wie hört sich das an?«

Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Laut heraus. Er hätte sie ohnehin nicht gehört, denn er brachte sie in das kleine Cottage zurück, wo sie ihr unglückliches Dasein fristete.

Sie fing an zu strampeln, als er die Küche betrat und an der Köchin mit dem verhärmten Gesicht vorbeiging, die schnell den Raum verließ. Mühelos hielt er sie nur mit einer Hand fest, während er mit der anderen die Tür zum Besenschrank aufriss.

»Da drinnen kannst du darüber nachdenken, was real ist, undankbares Gör!«

Sie wurde in den winzigen Verschlag gestoßen, wo sie hart gegen die hintere Wand prallte und von da auf den Boden rutschte, während sie eine Hand auf ihren Mund presste.

Ihr Onkel stand immer noch auf der Schwelle. Er schaute auf sie hinab, mit einer Miene, die inzwischen wieder die so vertraute dünne Linie seines Mundes beherrschte. »Du wirst meinen Sohn heiraten. Was du dir auch wünschen oder denken magst, hat keine Bedeutung, selbstsüchtiges Ding! Vergiss das nie!«

Er trat einen Schritt zurück und schloss langsam die Tür, sodass die undurchdringliche Dunkelheit immer näher herankroch.

»Du wirst bis morgen früh dort drin bleiben, bis du bereit bist, dich für die Beleidigung des Clans zu entschuldigen. Vorher kommst du hier nicht raus.«

Die Tür knallte zu und tauchte sie in tiefe Finsternis.

Avalon hockte mit hochgezogenen Schultern und geschlossenen Augen in der Ecke, während ihre Hand immer noch auf ihrem Mund lag, um die Schluchzer, die drohten nach oben zu steigen, zurückzudrängen.

Ich werde ihn niemals heiraten! Ich werde ihn niemals heiraten! Ich werde ihn niemals heiraten ...

Die allwissende Chimäre, das bittere Erbe des nicht realen Fluchs ihres Onkels legte ihren Kopf auf die Pfoten und begann, um sie zu weinen.

Sie hatte einen Albtraum.

Marcus hörte das erste leise Stocken ihres Atems, das Geräusch ihrer Hände, die unruhig über ihre Decke strichen.

Er lag ihr am nächsten. Deshalb hob er prüfend den Kopf. Trotz des provisorischen Zeltes, das sie aus überzähligen Tartans und Stöcken für sie errichtet hatten, konnte er sie deutlich sehen – ihr Gesicht, das über den Rand des Stoffes hinausschaute.

Lady Avalons Schlaf war unruhig. Sie drehte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, während sie in dieser schrecklich unregelmäßigen Art und Weise atmete, die ihm einen Kloß in den Hals steigen ließ. Es überraschte ihn, wie schlimm er es fand, dass sie im Traum so leiden musste.

Langsam setzte er sich auf und warf seine Decke zurück. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Wenn er sie weckte, standen die Chancen nicht schlecht, dass er keinen Dank für seine Besorgnis ernten würde. Doch wie sollte er andererseits bei diesen unvergossenen Tränen, die so ergreifend waren und ihn quälten, schlafen können, statt sich um sie zu kümmern?

Vorläufig schaute er sie nur an. Der Schatten des behelfsmäßigen Zeltes ließ sie in einem jenseitigen Glanz erstrahlen und tauchte ihre verlorene Seele gleichsam in Sternenlicht. Ihre glatte Stirn war leicht gerunzelt, ihre Lippen verkrampft, um sich dann etwas zu öffnen.

Ziemlich hilflos dachte Marcus, wie schön sie war, diese ihm versprochene Braut – und wie verflucht schwer es wohl würde, sie dazu zu bringen, ihn zu akzeptieren. Vielleicht würde sie das nie tun.

Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einer seltsamen Verzweiflung. Sie war ein weltentrücktes Wesen – stark und gleichzeitig zart, Kriegerin und trotzdem Frau. Selbst eine Fee, in den Widersprüchen ihres Lebens gefangen und außerhalb seines Verständnisses. Und doch, während sie sich so in ihrem ruhelosen Schlaf hin und her warf, spürte Marcus eine tiefere Verbundenheit mit ihr, als er je für möglich gehalten hätte.

Er kannte Albträume. Ja, er wusste alles über sie. Ihr Traum würde sich in Luft auflösen, genau wie die Tränen, die sie nicht vergossen hatte. Am nächsten Morgen würde sie ihm mit demselben starrsinnigen Trotz entgegentreten, den sie bisher aufgeboten hatte. Wahrscheinlich sollte er das bewundern.

Aber wie viel näher fühlte er sich ihr in diesem Moment, wo sie in ihrer Traumwelt gefangen war. Sogar die unnahbare Lady Avalon schien also menschliche Züge zu besitzen und war von eigenen Dämonen beherrscht, denen sie sich stellen musste.

Was würde er alles darum geben, an ihrer statt gegen diese Dämonen zu kämpfen.

Endlich wich der Traum und sie entspannte sich. Sie hörte auf, sich hin und her zu wälzen, ihr Antlitz glättete sich, und ihr Atem wurde wieder gleichmäßig. Doch Marcus konnte selbst keinen Schlaf finden.

Am nächsten Morgen stiegen beide in den Sattel und ritten los, als sei die letzte Nacht genau wie alle anderen gewesen. In stoischem Schweigen saß Avalon vor ihm auf seinem Hengst im Sattel. Sie registrierte, wie sich die Landschaft veränderte, die Berge höher wurden, die Bäume dichter wuchsen und mehr Kiefern zu sehen waren.

In regelmäßigen Abständen hob Marcus seinen Arm, mit dem er ihre Taille hielt, um die Zügel in die andere Hand zu nehmen. Mit einer Vertrautheit, die den Eindruck vermittelte, er täte dies schon sein ganzes Leben lang, schlang er dann den anderen Arm um ihre Mitte. Merkwürdigerweise spürte sie genau die gleiche Vertrautheit.

Avalon nahm an, dass sie Sauveur innerhalb weniger Tage erreichten. Sie war sich nicht ganz sicher, weil sie nie auf der Burg gewesen war, die dem Laird des Clans gehörte. Hanoch hatte den Umständen nicht genügend getraut, um sie dorthin zu bringen. Er hatte gewusst, dass die Pikten bezahlt worden waren, erkannte Avalon jetzt. Die ganze Zeit musste er es gewusst haben. Das würde vieles erklären: zum Beispiel, warum er in jenem abseits gelegenen kleinen Dorf bei ihr und einigen seiner vertrauenswürdigsten Leute hauste. Und in einem Cottage wohnte, wenn er doch die ganze Zeit in einer Burg hätte residieren können. Das Dorf hatte schon immer den Kincardines gehört, doch es lag außerhalb, und die umliegenden Ländereien waren im Besitz langjähriger Verbündeter. Im Falle eines Angriffs gab es einen Ort, an den man fliehen konnte.

Hanoch war sich stets der Gefahr bewusst gewesen. Immer wieder besuchte er Sauveur und hielt die Fassade seiner normalen. Lebensführung aufrecht. Doch sie war ununterbrochen in jenem Dorf geblieben. Wie sie sich vor seinen Besuchen gefürchtet hatte!

Allerdings funktionierte sein Plan, sie zu verstecken, gut. Es dauerte sechs Jahre, ehe Gerüchte bezüglich ihres Überlebens nach England durchsickerten, und ein weiteres Jahr verstrich, bis der englische König sie von Hanoch wegholte. Man hatte angenommen, dass sie bei dem Überfall, der ihren Vater und so viele andere das Leben gekostet hatte, umgekommen war. Allgemein hieß es, ihr Körper sei in der Burg verbrannt. Und Avalon hatte von all dem nichts gewusst, bis sie nach England geholt wurde.

Ihrer Auffassung nach wussten alle, dass sie in jenem kleinen Dorf in den Highlands lebte, und es war ihnen recht. Hanoch hatte sie in diesem Glauben gelassen. Doch die ganze Zeit über hatten nur die Kincardines Kenntnis von ihr.

Wie wütend Hanoch geworden war, als die Engländer ihre Rückkehr forderten. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu erwähnen, bis sie mit seinem Sohn verheiratet war. Dann wäre sie natürlich für alle Zeiten an beide gebunden gewesen.

»Euer Vater muss hoch erfreut sein, dass Ihr wieder zu Hause seid«, sprach Avalon in die Stille des Waldes hinein, während sie sich fragte, wie das Wiedersehen wohl ausfallen würde.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Marcus nach einer Weile. »Er ist vor elf Monaten gestorben.«

»Vor elf Monaten?« Keiner hatte sie benachrichtigt. Sie konnte es nicht glauben.

»Ja.« Er ließ sie die Neuigkeit verdauen, ehe er fortfuhr. »Man sagte mir, seine letzten Worte hätten Euch gegolten.«

Sie gab ein bissiges Lachen von sich. »Irgendetwas wie ›Denk daran, die Erbin zu entführen‹, nehme ich an.«

»Irgendetwas Derartiges«, bestätigte er.

Genau gesagt, hatte Marcus etwas ganz anderes gehört. Hanoch war bettlägerig geworden und innerhalb kurzer Zeit an Fieber oder Schüttelfrost oder dergleichen gestorben. Die Zeit hatte nicht mehr gereicht, einen Arzt zu holen. Einer von Hanochs älteren Freunden hatte Marcus einen Brief geschickt, in dem er ihm mitteilte, dass sein Vater gestorben war, und ihn bat, aus dem Heiligen Land nach Hause zurückzukehren. Er solle seine Pilgerfahrt beenden und heimkommen, um seinen Clan anzuführen.

Als Marcus diesem Wunsch Folge leistete, hatte derselbe alte Mann ihm im Verlaufe einer langen Nacht bei Whiskey und haggis den Rest der Geschichte erzählt. Er begann damit, dass Hanoch kurz vor seinem Tod von Lady Avalon gesprochen und sie sein Mädchen genannt hatte – als ob sie mit im Zimmer gewesen wäre. Er lobte sie, dass sie sich herausgemacht und gut gelernt hätte, was sie wissen musste. Hanoch hatte sich eigentlich nicht richtig entschuldigt für alles, was ihr zugestoßen war, berichtete der Mann. Aber er nahm an, dass der alte Laird das doch irgendwie gemeint hatte.

»Ich glaube, er mochte Euch recht gern«, erklärte Marcus seiner zukünftigen Frau und spürte, wie sie sich versteifte.

»Eine merkwürdige Art von Zuneigung«, erwiderte sie spöttisch. »Das zu schlagen, zu erniedrigen und zu verhöhnen, was man gern hat.«

Wenn es auch Hanoch nicht Leid getan haben mochte – so doch nun Marcus, der einen heftigen Schmerz in sich spürte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, solch ein liebliches Mädchen zu schlagen, auch wenn sie sicher in der Lage gewesen war zurückzuschlagen. Die Vorstellung, dass man ihr hart zugesetzt hatte, ließ ihn verstummen und erfüllte ihn mit einem sinnlosen Zorn auf seinen Vater. Oh, es war zu spät, Hanoch zu schmähen. Der alte Mann hätte ihm ohnehin bloß ins Gesicht gelacht. Er war ein Haudegen von Schrot und Korn gewesen, ohne einen Funken von Mitgefühl. Als Kind hatte er sich vor ihm gefürchtet; als Mann hatte er versucht, ihn zu vergessen. Aber dieses Mädchen war ihm ausgeliefert gewesen.

Marcus erinnerte sich an das erste – und bis zum jetzigen Zeitpunkt einzige – Mal, als er Lady Avalon gesehen hatte. Er war zwölf gewesen und sie zwei. Ein niedliches, zweijähriges Kleinkind, das bereits das Gesicht eines Engels, kurze weißblonde Haare und ein glückliches Lächeln besessen hatte. Sein Vater hatte ihn mit nach Trayleigh genommen, um die Braut kennen zu lernen. Hanoch hatte sich persönlich von ihrer Erscheinung überzeugen wollen, denn er traute den Lobeshymnen nicht, die er gehört hatte.

Aber sie entsprach wohl seinen Erwartungen und die Übereinkunft, die bereits unverbindlich zwischen den alten Verbündeten und Verwandten, Hanoch und Geoffrey, bestanden hatte, wurde mit Trinksprüchen erneuert und unwiderruflich besiegelt. Sie hatten das kleine Mädchen für eine Weile auf Marcus’ Schoß gesetzt. Er war in einem schwierigen Alter gewesen und konnte damals mit ihrem unzusammenhängenden Gebrabbel, ihrem ständigen Gezappel nichts anfangen. Nach einem kurzen, unbehaglichen Moment hatte er sie dem Kindermädchen zurückgegeben, und man ließ weiter die Gläser klingen.

Das war alles, an was er sich im Zusammenhang mit Avalon erinnerte – das kleine Mädchen, das seine Braut werden sollte. Nur ein Baby, wenn auch ein fröhliches.

»Er schlug mich zu Boden und schrie mich an, bis ich wieder aufgestanden war.« Die junge Frau sprach mit leiser Stimme. Marcus musste seinen Kopf senken, um die Worte zu verstehen, die sie an ihre im Schoß verkrampften Hände richtete. »Er ging so lange auf mich los, bis ich nicht mehr kämpfen konnte, und dann sagte er mir, dass ich des Clans nicht würdig sei.«

»Interessant«, meinte Marcus. »Mit mir hat er das Gleiche getan.«

»Er war ein Monster«, erklärte sie.

Dem konnte Marcus nicht widersprechen. Als er dreizehn wurde, war dies der schönste Tag in seinem Leben, an dem er endlich zu Sir Trygve durfte, um in dessen Haushalt als Knappe zu leben. Er war seinem Vater entronnen. Doch die jüngere und viel unerfahrenere Avalon, die nicht wusste, wie man mit Hanoch umging, hatte seinen Platz eingenommen.

Trygves Kreuzzug wurde dann sein Lebensinhalt, und Marcus hatte keine Ahnung gehabt von den Ereignissen auf Trayleigh. Lady Avalon war nur einmal kurz in einem Brief aus der Heimat erwähnt worden, und auch darin erschien sie nicht namentlich. Der Brief war in Hanochs verschlüsseltem Stil abgefasst gewesen und sprach davon, dass der Erzeuger bei einem Überfall getötet worden sei, doch dass man sich des Mädchens angenommen hätte. Mit der Zeit vergaß er sogar dies. Es gab viele andere Dinge, über die er in Jerusalem und später Damaskus nachdenken musste.

Im Laufe all der Jahre, die er fort war, erreichten ihn nur fünf Briefe aus Schottland, und der fünfte enthielt die kurze Aufforderung zurückzukommen. Das war der zweitschönste Tag in seinem Leben gewesen, als er begriff, dass er endlich wieder nach Schottland konnte.

»Ich werde Euch nicht heiraten«, verkündete Avalon kurz angebunden und unterbrach damit seine Gedanken. »Ich werde mich Euch nicht beugen. Ihr mögt mich schlagen oder hungern lassen, aber ich werde es nicht tun.«

»Aber ich würde Euch nie schlagen«, stieß er entsetzt hervor.

Ihr Schweigen war voller Skepsis.

»Noch werde ich Euch hungern lassen, Mylady. So behandle ich Frauen nicht.«

Sie sagte immer noch nichts.

»Niemals«, wiederholte er. »Niemals käme ich auf so eine Idee.«

Er hob die Hand, die um ihre Taille geschlungen war, zögernd zu ihrem Gesicht und gab sich dem Wunsch, sie zu berühren, hin. Marcus streichelte ihre Wange und rieb mit seinem Daumen über deren weiche Rundung. Sie saß vollkommen reglos vor ihm, und er konnte ihre Reaktion nicht beurteilen. Seine eigene bestand aus einer Mischung von Staunen und Verwunderung über sich selbst. Auf keinen Fall durfte sie glauben, er sei der Barbarei seines Vaters fähig. Er musste sie davon überzeugen. Aber dieser Drang verschmolz mit etwas anderem, mit dem Verlangen nach ihr, das wieder in ihm aufstieg und pochte.

»Ich würde es nicht tun«, hauchte er in ihr Haar.

Er wollte seinen Kopf in ihrem Nacken vergraben und sie dort küssen. Es gefiel ihm nicht, sie wie eine Gefangene zu halten, sondern so, wie ein Mann eine Frau hielt, und er wollte sie gern wieder schmecken ...

Ihre Lippen hatten sich leicht geöffnet, als diese Empfindungen durch seinen Körper rasten. Er dachte, dass sich ihr Herzschlag vielleicht beschleunigt hätte, um sich dem seinen anzugleichen. Er ließ seine Finger ein wenig weiter nach unten gleiten und spürte die Umrisse ihrer Lippen. Völlig gebannt blickte er auf sie hinab und sog ihren rosigen Glanz und ihre üppige Fülle in sich auf. Ihre Lider senkten sich und offenbarten dabei die schwungvolle Wölbung ihrer schwarzen Wimpern auf dem Perlenglanz ihrer Haut.

»Ihr werdet mich heiraten«, verkündete er mit heiserer Stimme – und bereute es umgehend.

Avalon stieß seine Hand fort und wandte den Kopf von ihm ab.

»Nein, werde ich nicht!«

Marcus beließ es bei ihrer Weigerung und tat sein Bestes, wieder ruhig zu werden. Sie wirkte wie Wein auf ihn und ließ ihn an Dinge denken, die, so erfreulich sie auch waren, seine Konzentration stark beeinträchtigten. Aber es würde so geschehen, wie er gesagt hatte. Was immer sie jetzt auch denken mochte – sie musste seine Braut werden. Eine Legende stand ihm zur Seite.

Zwei Tage später erreichten sie die Ländereien der Kincardines. Dann würden sie auch bald auf Sauveur ankommen.

Das Ende der Reise gestaltete sich schwierig. Der frühe Herbstregen, der sich schon angekündigt hatte, peitschte jetzt endgültig auf sie nieder, und Windböen, die so heftig waren, dass sie einen Mann vom Pferd reißen konnten, wenn er nicht aufpasste, machten ihnen zu schaffen. Aber Marcus suchte nirgends Unterschlupf, noch verlangte irgendeiner seiner Männer das von ihm. Alle waren begierig darauf, ans Ziel zu gelangen und sich damit ihrer Aufgabe zu entledigen.

Avalons Laune war bald so schlecht wie das Wetter. Er schirmte sie, so gut er konnte, ab: Aber ihre Kleider troffen wie die aller anderen. Ihre Nasenspitze färbte sich rosa vor Kälte, und ihre Haare klebten in klammen Strähnen an den Schläfen.

In den frühen Morgenstunden, ehe sie die Burg erreichten, mussten sie sich durch einen heftigen Sturm kämpfen, der noch schlimmer war als der Regen zuvor. Nach einer Besprechung mit seinen Männern beschloss Marcus, trotz des Unwetters weiterzureiten. Denn so nahe bei Sauveur zu lagern, käme sie alle hart an.

Avalon hegte eher ein gegenteiliges Gefühl.

»Ihr seid ein Narr«, beschimpfte sie ihn ungläubig, als er seinen Leuten mitten in dem Gewitter befahl, wieder aufzusteigen. Der Wind zerrte an ihrem Haar und ließ die nassen Strähnen flattern. Regen tropfte von ihrem Kinn. »Es ist der reine Wahnsinn, heute Nacht weiterzureiten! Sie werden Euch nicht bis ins Landesinnere hinterherjagen. Ihr wisst das. Ich weiß es. Und doch drängt Ihr zum Aufbruch.«

Seine Antwort bestand aus einem Achselzucken. Natürlich würde sie das noch mehr erzürnen, aber er konnte nicht anders.

Er wusste sehr wohl, dass d’Farouche es sicher nicht wagte, ihnen so weit zu folgen. Sie hatten bereits das Gebiet von vier anderen Clans durchquert, die alle mit seiner Familie auf bestem Fuße standen. Mit durchreisenden Engländern würden sie nicht so großzügig verfahren. Nur wenn sie mit einer Armee unterwegs waren.

Und weder der Baron noch sein Bruder würden in der Lage sein, so schnell eine Armee aufzustellen. Das würde später kommen. Bis dahin hätten sie keine Chance mehr, Avalon zurückzuholen.

Marcus trotzte nicht dem Sturm, um den d’Farouches zu entgehen. Es ging darum, nach Sauveur zurückzukehren.

Avalon schlang die Arme um sich und zitterte, während alles sich fertig machte. Nicht einmal der Tartan war bei diesem Wetter mehr eine Hilfe. Marcus wollte zu ihr gehen und sie halten. Er wollte eine Hitze zwischen ihnen entzünden, die den Regen und den Wind und ihre Verbitterung wegbrannte.

Aber er hatte bemerkt, dass sie sich, wann immer diese Gedanken ihn erfassten, brütend noch weiter in sich zurückzog und auf nichts mehr reagierte, was er sagte. Stattdessen hob er sie also wie zuvor auf seinen Hengst und saß dann hinter ihr auf.

Der Sturm wurde heftiger. Nur schwach erinnerte er sich aus seiner Kindheit an solche Unwetter. Mensch und Tier hielten den Kopf gesenkt, während der Regen auf sie niederprasselte und der Wind sie beutelte.

Donnergrollen überlagerte das Heulen des Windes und ließ die Pferde nervös mit den Köpfen rucken. Gelegentlich spannte ein Blitz seinen Bogen über den Himmel. Erst nur von ferne, doch allmählich kam das Gewitter näher.

Avalon wollte zwar nicht, doch sie blieb unter dem Tartan, den Marcus schützend über sie hielt. Ihr Stolz, seine Hilfe zurückzuweisen, war schon vor Stunden in sich zusammengefallen. Jetzt fühlte sie sich nur noch elend, wund und nass. Der Tartan über ihr war genauso durchnässt wie alles andere, aber zumindest schützte er ihren Kopf vor der peitschenden Gewalt des Sturms. Bestimmt fiel es ihm nicht leicht, sie die ganze Zeit mit erhobenem Arm zu beschirmen. Sie hätte gern Genugtuung darüber empfunden, dass er als Vergeltung für seinen tollkühnen Befehl, die Reise fortzusetzen, das meiste vom Wetter abbekam. Doch es gelang ihr nicht. In ihrer Erschöpfung vermochte sie nicht mehr das kleinste bisschen an Gehässigkeit aufzubringen. Der einzige Wunsch, den sie noch hatte, war, dass dieser unerträgliche Ritt endlich ein Ende nahm.

Da brach die Welt vor ihr auseinander. Wie der Arm Gottes spaltete ein Blitz die mächtige Eiche neben ihnen. Eine gewaltige Welle aus Licht und Lärm schien das Ende von allem zu bedeuten.

Sie merkte, wie sie scheinbar schwerelos durch die Luft geschleudert wurde. Dann landete sie auf der Seite im Schlamm. Kein Laut war mehr zu hören. Zu ihrer Erleichterung herrschten Stille und Schwärze.

Aber sie stellte fest, dass sie im Schlamm nicht atmen konnte; also stemmte sie sich mit den Ellbogen hoch und atmete keuchend die sengende Luft ein. Sie hörte immer noch nichts, doch sah genug, und der Anblick war erschreckend.

Zuerst nahm sie nur ein schwaches Leuchten wahr, aber allmählich klärte sich ihr Blick, und sie sah eine Folge von Bildern. Blaue Leuchtfeuer in der Dunkelheit, Blitze, die immer wieder mit den Donnerschlägen über den Himmel zuckten. Überall Chaos, Männer zu Pferde oder zu Fuß, die wild durcheinander rannten, sich aufbäumende und kreisende Pferde. Das Leuchten kam von den zersplitterten Überresten der gespaltenen Eiche, die trotz des Regens in Flammen stand.

Genau davor lag Marcus bewegungslos im Schlamm. Ein Pferd wieherte über ihm. Es bäumte sich auf den Hinterbeinen auf und schlug panisch mit der Vorderhand durch die Luft. Die Zügel hatten sich in einem schwelenden Ast verfangen, sodass es nicht fliehen konnte. Der Hengst setzte die Vorderhand ab, um sich gleich wieder über dem Körper ihres Entführers aufzubäumen. Jedes Mal, wenn er den Boden traf, verfehlte er den Mann nur um Zentimeter.

Sie war aufgestanden, ehe sie wusste, dass sie sich bewegte. Immer noch umgab sie vollkommene Stille, und sie schleppte sich durch den Morast, einzig von dem Gedanken beseelt, zu dem Pferd zu gelangen.

Es war Marcus’ Hengst. Der, auf dem sie beide gesessen hatten. Das Weiß seiner Augen bildete einen deutlich sichtbaren Kreis um die Pupillen. Man konnte seine Zähne sehen, während er wieherte, und obwohl sie die Schreie nicht hörte, spürte sie seine überwältigende Angst.

Ruhig. Mit aller Macht versuchte sie ihn mit der Kraft ihrer Gedanken zu erreichen und kämpfte sich näher. Ruhig, still, ruhig ...

Immer noch ausschlagend drehte der Hengst seinen Kopf in ihre Richtung. Marcus war nur ein verschwommener Schatten im Regen unter ihm.

Still!

Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm sie Bewegungen wahr. Sie konnte es sich nicht leisten, sich von den Männern ringsum ablenken zu lassen. Einer versuchte, nach ihrem Arm zu greifen. Ohne innezuhalten wehrte sie die Bewegung ab, doch dann hielt er sie an der Schulter fest. Avalon wich zur Seite und trat blindlings mit dem Fuß zu.

Der Hengst litt aufs Neue während des kurzen Moments, als sie abgelenkt war. Sie hörte ihn wieder wiehern und auf die Erde schlagen, wobei er Marcus nur um Millimeter verfehlte, bevor er erneut stieg. Schlamm spritzte unter den rasenden Hufen auf.

Es ist nichts, es ist nichts, ruhig, dachte sie und erlangte seine Aufmerksamkeit wieder. Sie hatte ihn fast erreicht.

Zwei weitere Männer waren zu ihrer Linken. Sie spürte ihre Absicht, sie zurückzuhalten, und es erzürnte sie, dass sie das wagten, wenn ihr Herr nahe daran war, zu Tode getrampelt zu werden. Deshalb fing sie an zu laufen, wobei sie riskierte, im schlammigen Morast zu stürzen.

Die Männer kamen näher, doch dann fielen sie zurück. Der Zauberer war aus dem Regen aufgetaucht, und er hatte sie aufgehalten. Ihr erlaubte er aber weiterzugehen.

Ho, rief Avalon dem Pferd in ihrem Kopf zu. Hier, hier, hierher!

Der Hengst warf ihr einen verängstigten Blick zu, tat dann jedoch, was sie ihm befahl, indem er seinen Leib drehte, bevor er wieder auf der Vorderhand herunterkam. Marcus befand sich nun genau zwischen den mächtigen Beinen. Ehe das Pferd erneut steigen konnte, war sie bei ihm. Nur eine ihrer Hände schien ihren Dienst zu tun, doch das reichte. Mit den Fingern kniff sie ihn in die Oberlippe und brachte seinen inneren Schmerz zum Verklingen, bis das Weiße in seinen Augen verschwand und sein Blick wieder normal wurde.

Danke, dachte sie und wusste nicht, ob sie damit das Pferd, Gott oder beide meinte.

Der Zauberer und ein paar seiner Leute zogen Marcus von der Stelle, wo er lag, und schleppten ihn an den Wegesrand. Jemand kam dorthin, wo sie und das Tier Auge in Auge standen. Jetzt war alles in Ordnung. Der Hengst hatte sich beruhigt.

Sie wusste nicht, was der rothaarige, bärtige Mann zu ihr sagte, während er die Zügel von dem Ast löste. Er wollte irgendetwas, redete auf sie ein. Schließlich ließ sie das Pferd los und schüttelte den Kopf, während sie auf eins ihrer Ohren klopfte, um ihm zu bedeuten, dass sie nichts hörte.

Verstehend hielt der Mann inne. Er drehte ihr den Rücken zu und wandte sich an die anderen. Der Zauberer näherte sich Avalon und bedachte sie mit einem feinsinnigeren Ausdruck als einem Lächeln. Sie folgte ihm zum Wegesrand unter den Schutz einer Kiefer.

Marcus war bei Bewusstsein und saß. Er versuchte aufzustehen, als sie sich näherte, und sie warf ihm einen empörten Blick zu.

Ihre Rippen schmerzten teuflisch. Das hatte sie gerade erst bemerkt. Die Schulter, auf der sie gelandet war, fühlte sich so an, als sei sie aus dem Gelenk gesprungen. Sie konnte den Arm nicht benutzen. Von Kopf bis Fuß war sie mit Blättern und Dreck bedeckt. Der Tartan hing nass und unordentlich an ihr herunter. Und das war alles seine Schuld. Wenn er nicht befohlen hätte, bei diesem Sturm weiterzureiten, wäre sie jetzt vielleicht trocken, in der Wärme und ohne Schmerzen.

Davon abgesehen – wenn er sie gar nicht erst entführt hätte, würden sich ihre Träume vom Leben vielleicht mittlerweile erfüllt haben. In diesem Moment säße sie in einer dunklen Zelle, die Nonnen vorbehalten war. Sauber und glücklich würde sie ihrem Schöpfer danken und Pläne für die Zukunft schmieden. Eigentlich, wenn er überhaupt nicht von seinem Kreuzzug zurückgekehrt wäre, dann ...

Alles, wirklich alles, war seine Schuld! Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu retten.

Marcus stöhnte, als er mühsam zu ihr humpelte. Beide mussten sich unter den Zweigen leicht nach vorn beugen. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, und sie zuckte vor ihm zurück. Doch hatte sie wohl einen Laut von sich gegeben, als der Schmerz durch ihren Körper schoss. Marcus runzelte die Stirn, und Balthazar war an ihrer Schulter, die er mit sanften Fingern untersuchte.

Sie ließ es zu. Aber dann sagte er etwas zu Marcus und den Kameraden, die herbeigekommen und sich dicht neben sie gestellt hatten. Aus weiter Ferne hörte sie seine Worte. Es schien, als stünde er am Ende eines langen Tunnels und sie am anderen.

»... ausgekugelt. Sie muss wieder eingerenkt werden.«

Wie ein Raunen gingen Mitleid, Vorsatz und Entschlossenheit durch die Menge. Sie dachten, dass sie sich wehren würde, und sie hatten Recht damit. Der Zauberer berührte sie wieder, aber sie schüttelte ihn ab. Avalon kämpfte die Welle von Übelkeit nieder, die bei dieser Bewegung in ihr aufstieg. Sie tat einen Schritt nach hinten, aber die Recken standen auch dort, und sie hatte nur noch einen heilen Arm.

Marcus stellte sich direkt vor sie. Er formte seine Worte klar und deutlich, damit sie sie ihm von seinen Lippen ablesen konnte.

»Es muss getan werden. Tut mir Leid!«

»Fasst mich nicht an«, wehrte sie ihn ab und hörte ihre eigenen Worte in diesem Tunnel.

Sein Blick richtete sich auf jemanden hinter ihr, und sie merkte, dass sie von beiden Seiten gepackt wurde. Der Schmerz durchzuckte sie von der Schulter bis zu den Rippen und ließ sie schwach werden.

Marcus legte eine Hand um ihre verletzte Schulter und die andere auf ihren Arm. Nach einem schnellen, kalten Blick in ihr Gesicht begann er zu ziehen.

Schwarze Punkte explodierten vor ihren Augen und ihre Beine gaben nach. Aber er verminderte seine Anstrengungen nicht, sondern intensivierte den Druck sogar. Avalon biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, bis sie spürte, dass Blut aus ihrem Mund rann. Dann gab es ein widerliches Knacken, und sie versank ins Bodenlose. Als sie zu sich kam, lag sie auf Knien in den Kiefernadeln und dem Schlamm. Sie stützten sie und drückten etwas Brennendes gegen ihre Lippen. Whiskey.

Er brannte in dem Schnitt, den sie sich selbst in ihrer Unterlippe zugefügt hatte. Avalon spuckte die Mischung aus Alkohol und Blut auf den Boden.

»Ich hasse Euch«, fuhr sie den vor ihr stehenden Marcus an.

Er setzte sich in Bewegung, wobei er die meisten Männer mit in den eisigen Regen hinausnahm, um die Pferde zusammenzutreiben. Sie blieb mit Balthazar zurück. Ihr Gehör funktionierte wieder.

Als Marcus sie holen kam, hatte sie ihm nichts mehr zu sagen. Der Zauberer hatte aus seinen Gewändern eine lange, durchsichtige Schärpe hervorgeholt. Sie war hellorange und mit einer Sonne bestickt. Er hatte damit ihren verletzten Arm hochgebunden. Marcus bemerkte die Schlinge, aber er wies sie nur mit einer Bewegung an, ihm zu seinem Hengst zu folgen. Zwei Männer halfen ihr in den Sattel.

Der schlimmste Teil des Sturms war überstanden. Als sie sich drei Stunden später Sauveur näherten, hatte sich der Regen zu einem leichten Nieseln abgeschwächt, und den Himmel bedeckte ein helles Grau. Die Straße bestand nur noch aus zähem Schlamm, und die Pferde mussten sich bei jedem Schritt durch den Morast kämpfen. Avalon hielt sich mit ihrer gesunden Hand an der Mähne des Hengstes fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie wollte keinen Blick auf die Burg werfen.

Die Kundschafter hatten die Bewohner bereits benachrichtigt, und eine Menschenmenge begrüßte sie. Trotz des Regens und der Kälte drängten die Leute nach draußen, um endlich die Ankunft des Lairds und seiner Braut zu erleben.

All diese Menschen, dachte Marcus, erfüllte Stolz und heimliche Ehrfurcht. Da gab es so viele, hier und wie Steine über die Berge verteilt, die alle treu ergeben, tapfer, wild und hungrig waren. Er trug die Verantwortung für sie. Sie schauten mit strahlenden Gesichtern zu ihm auf, und Marcus las in ihnen nur Hoffnung und ein so tiefes Vertrauen, das in seinem Innern tiefe Angst erzeugte.

Er durfte sie nicht enttäuschen.

Die Schar der Krieger erreichte die Burgmauer. Die Pferde schritten endlich auf ebenem Boden und seine Männer schwärmten hinter ihm aus. Nun standen sie der erwartungsvollen Menschenmenge gegenüber.

Marcus rückte Avalon vorsichtig ein Stück nach vorn, damit er mehr Platz hatte. Dann stellte er sich in den Steigbügeln auf, während sie an ihrem Platz blieb.

»Clan Kincardine«, rief er ihnen zu. Seine Worte gefroren in der eisigen Luft. »Ich bringe euch euer Mädchen. Ich bringe euch die Braut!«

Endlich schaute Avalon durchfroren und durchnässt auf. Sie war immer noch mit bunten Blättern und Schlamm bedeckt. »Geht zum Teufel«, sagte sie laut und deutlich zu Marcus.

Die ganze Schar brach in Begeisterungsrufe aus.

Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft

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