Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 9
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ОглавлениеDie Wachen von Trayleigh nickten den beiden Mädchen zu, als diese mit mehreren anderen Bediensteten, die alle für die Nacht die Straße hinunter ins Dorf strebten, durch das Haupttor wanderten.
Elfrieda, die keinen Umhang trug, zitterte in der kühlen Nachtluft. Avalon hatte jedoch den Verdacht, dass es eher Angst denn Kälte war, die das Zittern hervorrief.
Das junge Ding hatte tapfer angeboten, Avalon zu Mistress Herndon zu bringen, ehe ihr diese drei weitere Goldmünzen aushändigte. Es schien, als hätte sie sich mit ihrem ersten Geschenk eine Art hündische Ergebenheit erworben. Das war eine solch ungewöhnliche Erfahrung für Avalon, dass sie nicht so recht wusste, was sie davon halten sollte.
Der Umhang des Mädchens bestand aus erdig brauner, grober Wolle.
Er scheuerte an der bloßen Haut ihrer Wangen und Hände; doch trotzdem hatte Avalon die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Kopf gesenkt und schlug die untertänige Gangart ein, die bei den niedrigen Ständen üblich war.
Unter dem Umhang trug sie ihre eigenen Sachen. Sie hatte ihr schlichtestes Kleid ausgewählt, aber trotzdem handelte es sich eindeutig um das Gewand einer Edeldame. Ein dunkelblauer Schleier verhüllte von den Brauen bis zu den Schultern das verräterische Blond ihres Haars. Er wurde von einem einfachen Leinenband, das um ihren Kopf geschlungen war, gehalten. Es war allein Elfriedas Verdienst, daran gedacht zu haben, diesen Gürtel als Reif zu benutzen, da alle anderen Reife von Avalon aus Gold oder Silber oder beidem bestanden.
Sie waren voller Zuversicht, dass Avalon aus der Entfernung genau wie irgendeine andere der Frauen auf dem Heimweg aussah.
Die Wachen beachteten sie nicht weiter, als sie an ihnen vorbeigingen; stattdessen beschwerten sie sich untereinander über den plötzlichen Zustrom hoher Gäste auf der Burg.
»Werden nicht in den Stallungen schlafen, hab’ ich gehört«, sagte der eine und spuckte aus. »Sind sich zu fein dafür, die gnädigen Herren! Wollen die große Halle für sich allein haben.«
»Ja, aber wir sollen mit den Ställen vorlieb nehmen«, stimmte ihm der andere Wachposten missmutig zu.
Elfrieda geriet auf dem unbefestigten Weg ins Stolpern und fing sich rechtzeitig, indem sie an Avalons Schulter Halt suchte. Der Umhang rutschte bedrohlich zur Seite und enthüllte den Schleier und einen Teil ihres Gesichts. Avalon griff nach oben und rückte ihn sofort wieder zurecht. Sie wagte nicht, die Wachposten und die anderen Leute anzusehen.
Das Mädchen verzog bekümmert die Miene.
»Es tut mir Leid, Mylady, so Leid, ich ...«
Avalon bedachte sie mit einem warnenden Blick, und Elfrieda verstummte sofort, schaute aber immer noch betrübt drein. Freundschaftlich nahm sie die Hand des Mädchens in ihre eigene.
Die Wachen hatten nichts bemerkt und ereiferten sich nun über den durchdringenden Geruch von Pferden und wie ähnlich dieses Verhalten wieder all den unwillkommenen Herren sah.
Das waren keine guten Nachrichten für Avalon. Offensichtlich wollte Bryce so viele hochwohlgeborene Zeugen wie nur möglich für den morgigen Abend.
Den heutigen Abend, korrigierte sie sich. Mittlerweile war es weit nach Mitternacht.
Das Dorf lag nahe bei Trayleigh Castle. Da versammelten sich etliche Hütten aus Lehm und Holz, und es gab sogar zwei Schänken sowie das Gasthaus. Die Schar der Dienstboten begann sich in den schmalen Gassen und dunklen Türeingängen zu verlieren.
Im Gasthaus gab es nur vier Zimmer, die vermietet wurden. Daran erinnerte Avalon sich noch aus ihrer Kindheit: Ona kehrte hier immer ein bei ihren Dorfgängen. Hier ruhte man sich bei süßem Ale und Fleischpasteten aus.
Die Zimmer waren sicher belegt, nahm Avalon an. Als sie den Schankraum betraten, quoll dieser über vor Menschen, vornehmlich Männern, die tranken, aßen und laut lachten. Elfrieda schien bei dem ungewohnten Anblick zu erschrecken; aber ihr Griff um Avalons Hand lockerte sich nicht, und sie begann, sich durch die Menge zu schlängeln. Nur die weißen Linien um ihren Mund verrieten die Nöte des Mädchens, während sie Avalon an den langen Tischen und Bänken vorbeizog.
Sie wurden mit allerhand Pfiffen und Rufen bedacht, und einmal holte ein Mann mit rotem Bart aus und versetzte Elfrieda einen Klaps auf den Hintern. Das rief den grölenden Beifall der anderen hervor. Doch nichts brachte das Mädchen von seinem Kurs ab, und kurz darauf erreichten sie die enge gewundene Treppe, die zu den Räumen im oberen Stockwerk führte.
Elfrieda ging voraus. Beide blieben stehen und senkten die Köpfe, als ihnen ein Lord entgegenkam. Sie drückten sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen, und stiegen dann erst weiter. Der Lärm von unten drang ungehindert durch den hölzernen Boden. In der Luft hing der Geruch von Bier und Schweiß.
Endlich erreichten sie oben am Ende des Flurs eine robust aussehende Tür.
Elfrieda klopfte zweimal und trat ein, wobei sie Avalon immer noch hinter sich herzog.
Das Zimmer war nur ein schwach beleuchteter, vollgestopfter Raum, den man mit Holz und Reetmatten abgetrennt hatte. Wahrscheinlich waren dadurch aus den vormals vier Zimmern fünf geworden, dachte Avalon.
Ein Mann stand an der Tür, und Elfrieda drehte sich zu ihm um. Mit einem erstickten Laut, den Avalon als Ausdruck tiefster Freude erkannte, warf sie sich in seine Arme. Der Mann hielt sie fest umschlungen, senkte seinen Kopf zu ihr hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Avalon musste wegschauen. Es war so tapfer und freundlich von Elfrieda gewesen, sie hierher zu bringen, und sie verdiente nicht den Neid, der Avalon beim Anblick der beiden Liebenden durchfuhr.
Ein elfenhaft zartes Wesen saß in einem Stuhl neben einem kärglichen Feuer. Die Frau war alt und gebrechlich. Umschlagtücher hüllten sie ein, und sie versank förmlich in einem Pelz, der über ihren Beinen lag. Der Blick, mit dem sie Avalon bedachte, war voll Erwartung und Neugier, während ihre Hände unruhig in ihrem Schoß zuckten. Mistress Herndon – daran bestand kein Zweifel.
Avalon wartete darauf, dass die Chimäre wieder zum Leben erwachte, um ihr zu sagen, was sie als Nächstes tun sollte. Doch sie blieb entnervend still. Offensichtlich hatte sie sie nur hergeführt, um ihren Schlummer fortzusetzen. Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus und trat näher an die Frau heran, während sie, ohne sich etwas dabei zu denken, die Kapuze zurückstreifte.
Mistress Herndons trübe braune Augen weiteten sich, und sie schenkte Avalon ein zittriges Lächeln.
»Aber das ist ja Lady Gwynth«, rief sie überrascht. »Ich hatte Euch fast ganz vergessen und jetzt seid Ihr hier, Lady Gwynth!«
Zu Füßen des Stuhls dicht neben der alten Dame kniete Avalon nieder und sprach sie freundlich an.
»Ich bin Lady Avalon, Mistress. Gwynth war der Name meiner Mutter.«
»Avalon?« Verwirrung machte sich auf ihrem Gesicht breit und das Lächeln verblasste. »Avalon? Aber die kleine Avalon ist doch tot.«
»Nein.« Sanft legte Avalon eine ihrer Hände auf die der Greisin. Sie spürte das leichte Zittern, das nie wieder aufhören würde.
»Aber ja doch«, beharrte die Frau. »Sie starb bei dem Überfall. Und Gwynth, meine liebe Herrin, lebt auch nicht mehr. Und wer seid dann Ihr, die Ihr genau wie sie ausseht?«
»Großmutter, das ist Lady Avalon.« Der Mann löste sich von Elfrieda und trat neben sie beide. Er war jung und nicht besonders schön; aber er hatte einen ernsthaften Blick und wirkte sehr beherrscht. »Großmutter, erinnerst du dich nicht, was ich dir von Lady Avalon gesagt hab’? Dass sie heute Nacht kommen würde, um dich zu besuchen?«
»Oh, hast du das?« Mistress Herndon lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und warf einen kurzen Blick auf Avalon.
Elfrieda stellte sich hinter ihren Geliebten. »Lady Avalon möchte etwas über deine Freundin herausfinden. Erinnerst du dich an Lady Luedella? Weißt du noch, wie es dazu kam, dass sie mit dir zusammenlebte? Lady Avalon würde gern etwas darüber hören.«
»Oh, Luedella!« Mistress Herndon schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Sie hat mich auch verlassen.«
»Ja, Großmutter«, sagte der junge Mann, der nicht mehr weiterwusste. Er schaute zu Avalon und zuckte die Achseln.
Avalon wandte sich wieder an die alte Dame. »Könnt Ihr mir sagen, was Ihr noch von Luedella wisst?« Ärger stieg in ihr über sich selbst auf, weil sie nicht wusste, wonach sie überhaupt suchte. Mühsam fasste sie eine unfertige Idee in Worte. »Erzählt mir doch zum Beispiel, warum sie die Burg verließ.«
Mistress Herndon sah erst weg und blickte dann in ihren Schoß. »Oh ja«, begann sie mit Wehmut. »Ich erinnere mich daran, wie meine liebe Luedella die Burg verließ. Und auch mein Herr, der liebe Geoffrey ...«
Das Feuer flackerte und zischte. Ein dünner Rauchfaden zog in den Raum. Die alte Frau setzte ihren Bericht fort.
»Sie hatte alles verloren, wie so viele andere auch. Aber sie töteten sie nicht. Ich weiß nicht, warum. Ich glaube, sie wusste es auch nicht. Sie lebte. Und er hasste sie, glaube ich. Er pflegte sie ganz offen zu verhöhnen. Er schlug sie auch. Ich habe es gesehen.«
»Wer?«, fragte Avalon.
»Der Herr. Der Baron. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht erinnerte sie ihn einfach daran, was er getan hatte.«
Avalon zuckte zusammen. »Ihr meint, Geoffrey schlug sie? Mein Vater?«
Mistress Herndon warf ihr einen verwirrten Blick zu und machte dann ein finsteres Gesicht. »Natürlich nicht. Der Baron hätte so etwas nie getan.«
»Dann war es Bryce.« Als Avalon dies sagte, merkte sie, dass sie als Reaktion auf die Bestätigung, die sie vom Gesicht der Frau ablas, nickte.
»Ja, Bryce.«
Elfrieda gab einen leisen Laut, fast ein Wimmern von sich und lief schnell zur Tür. Der Mann folgte ihr und zog sie wieder in seine Arme.
»Und ...«, Avalon hielt inne und gab sich einen Ruck. »Was hatte er angestellt? Woran erinnerte Luedella ihn?«
Mistress Herndon schluckte, hob dann den Kopf und starrte auf Avalon hinab.
»Nun ja, Mädchen, er bezahlte die Pikten.«
Der Boden unter ihr war hart und kalt. Avalon wurde sich gewahr, dass sie die Arme um sich geschlungen hatte. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, das sie von einem Augenblick zum anderen verlassen hatte. Dann war auch schon Elfrieda da und legte ihren Arm um Avalons Schultern.
Wieder senkte sich Stille über den Raum. Nur die gedämpften Schreie aus dem Schankraum drangen von unten durch die Dielen.
Avalon fand ihre Stimme wieder.
»Seid Ihr sicher?«
»Ja.« Mistress Herndon bewegte sich in ihrem Stuhl. »Und Luedella wusste es auch. Ich glaube, es lief darauf hinaus, dass er sie nach dem Überfall nicht so ohne weiteres töten konnte. Andere hätten möglicherweise seine Schandtat durchschaut. Sie war schließlich die Enkeltochter eines Barons, von hoher Geburt, jawohl, das war meine Herrin. Deshalb vertrieb Bryce sie. Ich war ihre Zofe«, erklärte die Frau voller Stolz. »Und deshalb kam sie zusammen mit mir hierher.«
Es gab keinen Beweis. Das hatte Avalon begriffen, ohne fragen zu müssen. Sie hatte es bereits Elfriedas Nervosität und der ernsten Miene des jungen Mannes entnommen, die ihr jetzt auch halfen.
Bryce hatte die Pikten bezahlt. Bryce, der sehr viel durch den Tod von Geoffrey und seiner Tochter gewann und der diese Tochter nicht nach Hause holte, als sich herausstellte, dass sie noch lebte. Trotz allem hatte Avalon einen großen Teil von Geoffreys Vermögen geerbt. Bryce hatte zwar jetzt den Titel und die Burg, doch Avalon erhielt alle drei Güter, die zur Aussteuer ihrer Mutter gehört hatten, sowie etliche Erträge von Trayleigh.
Bryce musste ihr, der vierzehnjährigen Erbin, alles zurückerstatten, als sie aus dem Totenreich auftauchte. Und er hatte nie ein Zeichen des Unmuts darüber von sich gegeben.
Mistress Herndons Geist war wieder in Erinnerungen versunken, und sie schaute nicht auf, als Avalon sich über sie beugte und ihr einen Kuss auf eine ihrer runzligen Wangen hauchte.
»Danke, dass Ihr Euch um Luedella gekümmert habt«, sagte sie und sah die schimmernde Tränenspur, die über das Gesicht der Alten lief.
»Sie war eine gute Herrin und Freundin«, hörte Avalon sie flüstern.
Elfrieda öffnete die Tür und warf einen vorsichtigen Blick nach draußen, dann ließ sie Avalon vorausgehen.
Avalon wandte den beiden Liebenden den Rücken zu, als diese sich voneinander verabschiedeten. Sie gab vor, sich die geschwärzten Wände im Gang anzuschauen, während die beiden sich küssten und miteinander flüsterten. Endlich waren sie fertig und der Mann ging zurück in den Raum, während Elfrieda an ihre Seite trat. Sie griff nach oben und zog die Kapuze tief in Avalons Stirn.
Avalon konnte nicht anders – sie starrte auf die geschwollenen Lippen des Mädchens.
Elfrieda fing den Blick auf, schaute erst weg und dann wieder Avalon an.
»Wir werden diesen Herbst heiraten«, meinte sie, sich rechtfertigen zu müssen.
»Ich wünsche dir alles Gute«, erwiderte Avalon ernst.
Der Lärm war jetzt noch lauter als zuvor, als sie am Treppenabsatz anlangten. Erneut übernahm Elfrieda entschlossen die Führung.
Das Grölen wurde lauter und lauter, während sie langsam nach unten strebten. Avalon kam es fast ohrenbetäubend vor. Schwindel erfasste sie, und es hämmerte in ihrem Kopf. Es hörte einfach nicht auf, und sie musste eine Hand an die Wand legen, um herauszufinden, wo oben und wo unten war. Und der Lärm nahm immer noch zu, hallte in ihr wider. Der innere Aufruhr ließ sie ständig neu ansetzen und dann doch zögern, bis sie nicht mehr ein noch aus wusste.
Sie wollte nach Elfrieda rufen, aber konnte sich nicht genug konzentrieren. Wie sollte sie sich aufrecht halten? Wie sollte sie es überhaupt bis nach unten in den Raum selbst, die Quelle ihrer ganzen Verwirrung, schaffen? Sie musste dagegen ankämpfen. Es war die Chimäre, die nun wieder zum Leben erwacht war – durch die ihr innewohnenden Macht entfesselt. Sie ließ ihre Füße gefühllos werden und schränkte ihre Sicht ein, bis sie in etwas Festes rannte.
In jemanden.
Ihre Welt kam wieder ins Lot.
Da stand zwischen ihr und Elfrieda ein Mann. Obwohl er sich zwei Stufen unter ihr befand, überragte er sie. Sein Antlitz lag im Dunkeln des trüben Lichts des Gangs. Elfrieda versuchte, unter seinem Arm hindurch zu ihr zu gelangen. Ihr Gesicht war eine Maske der Angst. Der Mann nahm die Störung hinter ihm ungerührt zur Kenntnis und wandte sich wieder Avalon zu.
Etwas verspätet ließ sie ihr Kinn fast bis auf die Brust sinken, während sie die Schultern hochzog.
»Verzeihung, Herr«, murmelte sie und wählte ihre Worte so, wie Elfrieda es wohl sagen würde.
Der Mann trat nicht zur Seite, sondern behauptete seinen Platz auf der Treppe und versperrte ihr den Weg. Avalon wartete und starrte auf das gewaltige Schwert, das an seiner Hüfte hing. Dann machte sie einen kleinen Ausfallschritt nach rechts, als wolle sie ihm die Möglichkeit geben weiterzugehen. Immer noch rührte er sich nicht von der Stelle.
Wie gelähmt stand Elfrieda hinter ihm und starrte voller Angst zu den beiden nach oben.
Avalon bewegte sich wieder, dieses Mal jedoch nach links. Der Mann hielt sie mit seinem Arm zurück und legte dann einen Finger unter ihr Kinn, um ihren Kopf anzuheben. Das Gefühl seiner Haut an ihrer schien sie zu verbrennen und ließ sie zusammenfahren.
Sie betrachtete sein Gesicht und gewann nur den Eindruck von Stärke, von Macht, ehe sie schnell wieder wegschaute.
»Wer bist du, Kind?«
Seine Stimme klang tief und selbstbewusst. Die Reinheit seines Akzents wies ihn als einen von Bryce’ adeligen Gästen aus.
Sie biss sich auf die Lippen, und der Drang, den Kopf nach hinten zu reißen, um seiner leichten Berührung zu entkommen, war übermächtig. Sie fühlte sich so merkwürdig. Etwas Derartiges hatte sie noch nie empfunden. Er schien eine Art nervöses Rauschen, das ihren ganzen Körper erfasste, hervorzurufen. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr Bewusstsein aufs Äußerste geschärft ...
Verrückt! Sie hatte keine Ahnung, warum sie so merkwürdig auf diesen Mann reagierte, aber sie durften auf keinen Fall hier entdeckt werden. Wenn Bryce es erfuhr, würde er sie alle töten, er würde es tun müssen – und die Verzweiflung verlieh ihren Worten enorme Überzeugungskraft.
»Ich bin ein Niemand, Herr.«
»Niemand?« Mit bestürzender Ungezwungenheit streifte er ihre Kapuze zurück. Avalon hörte Elfrieda einen leisen Schrei ausstoßen.
Der Fremde achtete nicht darauf. Ruhig und nachdenklich musterte er sie. Avalon tastete nach ihrem Schleier, während sie im Stillen darum betete, dass er immer noch ihr Haar bedeckte; Gott sei Dank war er nicht verrutscht. Rasch senkte sie abermals den Kopf.
In ihrem Geist hatte sich alles, was ihr trotz des schlechten Lichts von ihm auffiel, eingebrannt: zurückgebundenes schwarzes Haar, Lippen, auf denen kein Lächeln lag, helle Augen, die sie an Frost denken ließen.
»Niemand«, wiederholte er leise, als ob er mit sich selber spräche, und sie vernahm etwas Neues in seiner kultivierten Stimme, etwas Wildes und Besorgniserregendes. »Das glaube ich nicht.«
Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, aber hartnäckig hielt er sie auf. »Wie heißt du?«
Verwirrenderweise kam ihr absolut nichts in den Sinn. Unfähig, auch nur eine Silbe zu äußern, starrte sie seine Brust an.
»Rosalind!«, quiekte Elfrieda. »Wir müssen los! Sonst verspäten wir uns!«
Der Fremde warf wieder einen kurzen Blick auf das Mädchen, das hinter ihm stand, und wandte sich dann erneut Avalon zu. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben, nach unten zu schauen, und begegnete ruhig seinem Blick. Er kniff seine Winteraugen zusammen. Um seinen Mund lag eine Anspannung, als ob er etwas sähe, was ihm nicht gefiel.
»Rosalind.« Er schien sich den Namen förmlich auf der Zunge zergehen zu lassen, während er ihn voll unbewegter Skepsis wiederholte.
Sie machte einen kleinen Knicks auf der Treppe. Wie sollte sie diesem Mann und diesem Moment, der eigenartigen Aura, die ihn umgab, dem flammenden Stich an ihrem Kinn, wo er sie berührt hatte, entkommen?
»Bitte, Herr«, fing Elfrieda jetzt zu betteln an. »Lasst ab von meiner Schwester. Wir müssen zu unserem Vater nach Hause, sonst wird er uns schlagen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. Nur ein Mal. Das Licht hinter ihm spiegelte sich in seinem ebenholzschwarzen Haar wider.
»Rosalind!« Allein in der Art, wie er den Namen aussprach, lag so viel Unglauben, als ob er ihre durchsichtige Geschichte längst durchschaute. Das machte sie so nervös, dass sie endlich die Willenskraft aufbrachte, unter seinem Arm hindurchzuschlüpfen und über zwei Stufen zu hüpfen, um sich wieder zu fangen. Elfrieda setzte sich genauso schnell in Bewegung, und beide rannten die restlichen Stufen abwärts.
Er kam nicht hinterher. Irgendetwas sagte Avalon, dass er das nicht tun würde. Und als die jungen Frauen sich durch den Schankraum nach draußen in die Nacht begaben, dachte Avalon an jenen heiklen Augenblick, als sie gehandelt hatte und er nicht – obwohl es für ihn so einfach gewesen wäre, ihre Flucht zu vereiteln und sie vielleicht für immer bei sich zu behalten mit seinem vollen schwarzen Haar, den eisigen Augen und seinem muskulösen Körper, der ihren fast zu verschlingen schien.
Aber er hatte sie gehen lassen. Avalon ermahnte sich, froh darüber zu sein.
Die Nacht bescherte ihr keinen Frieden. Als der Morgen kam, schreckte Avalon davor zurück. Sie vergrub ihren Kopf unter den Decken ihrer Bettstatt, während sie sich wünschte, immer weiterschlafen zu können. Der Schlaf schien ihr wie ein Schutzschild zwischen ihr und den Problemen, die ihr Leben überschatteten.
Doch die Sonne war hartnäckig und schließlich setzte sie sich auf, um sich der Helligkeit, die sie umgab, zu stellen.
Genau auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes standen ihre Truhen in einer langen Reihe. Jede war mit schönen Gewändern gefüllt – Maribels ganzer Freude – und Avalon konnte nicht anders, als ein leichtes Bedauern darüber zu empfinden, dass sie dabei war, die Arbeiten all dieser Näherinnen zurückzulassen.
Vielleicht konnte sie ja einen der Dienstboten dafür bezahlen, dass er die Truhen zu Maribel nach Gatting zurückschickte, wenn Gras über ihre Flucht gewachsen war. Vielleicht würden ja Elfrieda oder ihr Liebhaber es tun.
Die Tür öffnete sich leise, und Avalon sah die kleine Magd erscheinen und sich in den Raum schleichen. Sie trug ein Tablett mit Schüsseln und einem Becher darauf.
Sie versuchte zu lächeln, als sie sah, dass Avalon bereits auf war.
»Heute ist ein schöner Tag«, sagte Elfrieda und brach dann in Tränen aus.
Avalon ging zu ihr. Sie stand immer noch mit dem Tablett mitten im Zimmer und ihre Wangen benetzten sich. Avalon nahm ihr das Tablett ab und führte sie zur Bettstatt. Dann ging sie zurück und schloss die Tür.
Auf dem Tablett befand sich ihr Frühstück, das aus Porridge mit Honig und Brot bestand. Sie setzte sich neben Elfrieda und stellte es vorsichtig auf ihren Schoß. Sie brach ein Stück Brot ab und reichte es dem Mädchen. Die leise weinende Elfrieda nahm es.
Avalon gab einen Schuss Honig auf den Porridge, tauchte das Brot hinein und biss ab. Köstlich. Sie merkte, dass sie völlig ausgehungert war, und begann, jetzt richtig zuzulangen.
Elfrieda war nervös – ja mehr als das. Sie dachte, dass Avalon keine Ahnung von Bryce’ Plan hatte, und wusste jetzt nicht, wo sie anfangen sollte. Avalon wartete, bis die Tränen des Mädchens versiegten, dann griff sie nach dem Becher mit Ale und ließ die Magd einen Schluck davon trinken.
»Mylady«, stieß sie mit einem Schluchzer hervor, »ich muss Euch etwas sagen.«
»Ich weiß es bereits«, sagte Avalon, während sie noch ein Stück Brot abbrach. »Trink noch mal.«
Elfrieda gehorchte und blickte sie über den Rand des Bechers hinweg an.
»Du bist gut, nett und tapfer«, erklärte ihr Avalon zwischen den einzelnen Bissen. »Ich habe da etwas für dich, damit du mich in Erinnerung behältst.«
Sobald sie den Porridge aufgegessen hatte, stellte sie das Tablett beiseite und ging zu einer der Truhen. Darin befand sich ihr bester Umhang aus dunkelgrüner Wolle, der mit Satin gefüttert war. Er hatte ein ziemliches Gewicht.
»Schau mal, ob du vor der Feier heute Abend verschwinden kannst. Wenn ja, trage dies unter deinem eigenen Umhang.«
Elfrieda starrte sie nur an, sodass Avalon den Stoff schließlich über den Schoß des Mädchens breitete, bis er ihre Beine ganz bedeckte.
»Ich kann nicht«, rief das Mädchen völlig entgeistert.
»Doch, du kannst. Du wirst. Ich bin beleidigt, wenn du ihn nicht annimmst.«
»Nein, Mylady ...« Sie bewegte sich, um aufzustehen, und der Umhang rutschte zu Boden. Avalon drückte sie mit einer Hand wieder auf den Platz, wo sie gesessen hatte, und setzte sich dann neben sie.
»Schau«, sagte sie und hob den schweren Saum an.
Elfrieda warf einen Blick darauf, entdeckte jedoch nichts.
Ungeduldig griff Avalon nach der Hand des Mädchens und legte sie auf den Stoff, sodass sie die harten, kreisförmigen Umrisse der Münzen spüren konnte, die darin eingenäht waren.
»Gütiger Himmel«, keuchte Elfrieda und starrte Avalon an.
»Das ist mein Hochzeitsgeschenk für dich. Kaufe davon eine Kuh«, sagte Avalon. »Kaufe viele Kühe. Kaufe dir deinen Weg frei von diesem Ort!«
Ihr Trachten und Streben lief nun nur noch auf den wesentlichen Punkt hinaus: Flucht.
Jahrelang hatte sie Pläne geschmiedet, hatte Vorbereitungen für ihre Zukunft getroffen, während sie nach außen hin allen Erlassen und Erklärungen, die sie betrafen und zwischen Schottland und England hin und her gingen, zustimmte. Sie hatte sich so verhalten, wie jeder es von ihr erwartete. Nie hatte sie irgendetwas zu ihrer Entführung, ihrer Verlobung oder ihrer Rückkehr nach England geäußert.
Hanoch hatte sie jedoch nicht völlig hinters Licht führen können. Vielleicht war er ihr überhaupt nicht auf den Leim gegangen, weshalb er sich auch geweigert hatte, sie gehen zu lassen, sie versteckt und zu etwas geformt hatte, das er für seine Familie erstrebte.
Avalon erinnerte sich, dass sie am Anfang viel weinte. Sie hatte um Ona, um Trayleigh und sogar um ihren Vater geweint. Sie weinte, wenn man ihr sagte, sie solle ruhig sein, sie weinte, wenn sie in den Besenschrank gesperrt wurde, in den böse Mädchen kamen.
Doch als sie sie das erste Mal schlugen, waren die Tränen versiegt.
Natürlich gehörte es zur Erziehung. Das war bei Hanoch so. Er versuchte, ihr etwas in seiner eigenen verqueren Art beizubringen – und brachte ihr bei, wie man zurückschlug.
Sie hasste ihn. Schreckliche Dinge sollten ihm zustoßen, die Kobolde zurückkehren und ihm das Gleiche antun, was auch Ona erlitten hatte, sein Haus bis auf die Grundfesten niederbrennen ...
Jetzt hasste sie Hanoch nicht mehr. Er war gemein und brutal, aber trotz allem hatte er dafür gesorgt, dass sie am Leben blieb. Auch wenn er seinem eigenen heidnischen Glauben zum Opfer fiel. Hanoch war genau wie ihr Vater, Bryce und Marcus Kincardine nur ein Faden im komplizierten Netz, das ihr Leben bildete. Avalon stand nahe davor, all diese Fäden in Brand zu setzen und zuzuschauen, wie sie sich in einer Rauchwolke auflösten.
Das schien ihr nur gerecht. Bryce hatte dafür gesorgt, dass all die Jahre des Planens nur noch wertlose Erinnerungen waren. Seine eigenen wollte sie nun auch zerstören.
Die Feier stand kurz bevor. Avalon hatte den größten Teil des Nachmittags in Luedellas Raum verbracht, um ihren Cousins aus dem Weg zu gehen und zusammenzustellen, was sie in ihren letzten Stunden hier benötigte. Die kleinen Schmuckstücke ließen sich ohne weiteres im Saum ihrer Bliauds verstecken. Sie besaß drei Gewänder mit wertvollen Steinen – einige gefasst, einige lose –, die im Futter der Ärmel und im Saum eingenäht waren. Sie gehörten zum Erbe ihrer Mutter, das Bryce ihr nicht hatte vorenthalten können, sobald sie in Gatting anlangte. Und sie besaß noch einen weiteren Umhang mit Münzen.
Sie würde die Feier heute Abend über sich ergehen lassen. Wieder einmal würde sie ihre wahren Gefühle verbergen und den Anweisungen von Bryce und Warner folgen. Es käme die Verlobung mit Warner, sie würden darauf trinken, all die vornehmen Gäste wären Zeugen, wie sie einwilligte. Und am Morgen würde sie fort sein.
Höchstwahrscheinlich schaffte sie es nicht sehr weit, aber das schien keine Bedeutung mehr zu haben. Sie würde ihre Rechtschaffenheit bewahren, bis sie sie töten mussten. Vielleicht gewährte ihr das Schicksal ja auch ein wenig Glück. Alles, was sie brauchte, war ein Kloster, nur ein einziges. Sie würde all ihren Schmuck und ihr Geld übergeben und dann in religiöse Ekstase verfallen, wenn das erforderlich war, und vortäuschen, dass göttliche Erleuchtung bestimmt hätte, ihr Leben Gott zu weihen. Eine Braut der Kirche konnte Warner nicht heiraten.
Und dann irgendeines fernen Tages würde sie das Kloster verlassen und nach Trayleigh zurückkehren, um den Tod ihres Vaters und den von Ona und Luedella zu rächen.
Sie schickte Elfrieda fort, als diese kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und zwang sie endgültig, den grünen Umhang zu nehmen. Dann befahl sie ihr, die Burg sofort zu verlassen. Es schien ihr wichtig, dass sie nicht Zeuge dessen wurde, was Avalon im Sinn hatte – die blanke Lüge vernahm, die sie von sich geben würde.
»Gott sei mit dir«, sprach sie zu dem Mädchen, und Elfrieda starrte sie stumm an. Dann nahm sie den Umhang und ging.
Avalon wählte das schönste Bliaud, das sie für die heutige Scharade besaß. Es war aus prächtigem dunkelblauen, grünen und violetten Brokat und Samt gefertigt. Das Oberteil wies einen tiefen Ausschnitt auf, und an den Schultern war es mit Amethysten besetzt, die in wellenförmigen Verzierungen bis zu ihren Röcken reichten.
Warner würde es bestimmt gefallen. Als sie über die Haupttreppe in die große Halle kam, drängte er sich durch die versammelte Menge, um sie zu begrüßen. Er verbeugte sich gerade so tief, dass seine Augen nahe ihrer Brüste waren. Sie konnte jedoch nicht sagen, was er mehr bewunderte – ihren Busen oder ihren Schmuck.
»Herrlich«, strahlte Bryce und griff nach ihrer Hand. »Sieht sie nicht herrlich aus, meine Liebe?«, fragte er Claudia.
»Oh, ja«, bestätigte die Lady und zeigte ihr übliches Lächeln, bei dem sich nur ihre Lippen kräuselten.
Alle Leute in der Halle starrten sie an, begutachteten die Erbin, taxierten das Gewand, die Edelsteine, ihren Auftritt. Gott sei Dank hatte London sie auf so etwas vorbereitet.
Irgendjemand reichte ihr einen goldenen Kelch mit gewürztem Wein, der stark nach Nelken roch. Bryce war von der Menge verschluckt worden. Immer wieder hörte man ihn laut lachen, während er mit fast rasender Geschwindigkeit von Person zu Person eilte mit seinem Gefolge im Schlepptau. Warner schien fast an ihrer Schulter angewachsen zu sein. Sie konnte keinen Schritt tun ohne ihn. Er stellte sie gierigen Scharen von Leuten vor; sie spürte deren brennende Neugier, die dreisten Blicke, die schwirrenden Spekulationen, die vernehmlicher wurden, als die Sonne tiefer über den Horizont sank.
Lady Claudia machte sich nicht die Mühe, die Gastgeberin zu spielen. Sie saß mit zwei Begleiterinnen und einer Flasche Wein in einer Ecke. Immer wieder spürte Avalon ihren Blick auf sich ruhen und erkannte den kaum verhüllten Zorn und die Angst, die die Frau erfüllten.
Avalon nahm einen Schluck vom scharfen Wein. Keinesfalls sollte Mitleid mit Claudia ihr Urteil trüben. Bestimmt war es nicht leicht, mit einem Mörder verheiratet zu sein. Aber sie hatte weiß der Himmel selber genug gelitten. Der Zorn, den Avalon in ihr spürte, rührte von Claudias Wut darüber her, dass Avalon auf die Pläne ihres Ehemannes einzugehen schien.
Du liebe Güte, was hatte sie von Avalon erwartet? Es war schwer genug, die Dinge zu verheimlichen, die sie bereits herausgefunden hatte. Wollte Claudia wirklich, dass sie sich erhob und gegen den Baron und seinen Bruder vor ihren Spießgesellen und Peers auflehnte? Das konnte nicht sein.
Man würde sie zweifellos in Luedellas Zimmer sperren, bis sie einwilligte, oder schlimmer noch, sie der Willkür Warners überlassen und ihm so die Möglichkeit geben, sie auf seine eigene Art und Weise zu dieser Heirat zu zwingen ...
Er besaß jetzt die Unverschämtheit, seine Hand auf ihrer Taille ruhen zu lassen – es war zwar nur eine leichte Berührung, doch gleichzeitig eine deutliche Erklärung seiner Eigentumsrechte.
Avalon ertug es mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ihr seid die schönste Frau hier«, raunte er ihr zu, während er sich zu ihrem Ohr neigte.
»Wie freundlich Ihr seid«, erwiderte sie und drehte sich schnell um, um einen sich nähernden Lord zu begrüßen, wobei sie Warners Hand wegstieß.
In Sekundenschnelle lag sie wieder an der alten Stelle und er übernahm das Gespräch.
Sie konnte nicht anders, als nach dem Mann aus dem Gasthaus zu suchen. Einerseits fürchtete sie sein Kommen aus Angst, er würde sie wieder erkennen, aber andererseits war sie auch voller Erwartung ... und dafür gab es keinen Grund. Wenn sie sich konzentrierte, spürte sie fast das seltsame Gefühl, das er hervorgerufen hatte, wieder. Jenes einzigartige, summende Brausen dicht unter der Haut, das durch seine Berührung wachgerufen worden war.
Vielleicht würde er sie anprangern und ihr vor allen Anwesenden vorwerfen, sich als Schänkendirne maskiert zu haben. Er stellte eine unberechenbare Gefahr für sie dar.
Aber Avalon hielt trotzdem nach ihm Ausschau, und immer noch nagte die Enttäuschung an ihr, weil er nicht in der wimmelnden Menge auftauchte.
Die wirbelnden Gerüchte, die sich selbst von Mund zu Mund jagten, die stets neu aufbrandende Unterhaltung, die wissenden Blicke, die auf ihr und Warner ruhten, schienen kein Ende zu nehmen. Der Klatsch erhob sich und hallte von den Steinwänden und der Decke wider. Sein Echo verursachte ihr einen hämmernden Schmerz in den Schläfen.
Ihr Kelch war leer, der gewürzte Wein endlich zur Neige gegangen. Er brannte ein Loch in ihren Magen. Das Essen stand noch nicht auf den Tischen.
»Mehr Wein?«, fragte der nicht von ihrer Seite weichende Warner.
Sie schenkte ihm ein laszives Lächeln. »Nur, wenn Ihr ihn mir selbst holt, Mylord!«
Erst riss er die Augen auf, dann senkte er die Lider. Sie begegnete seinem Blick, ohne das Angebot, das in ihren Augen lag, zurückzunehmen. Doch auf einmal tat sie so, als ob die Schüchternheit sie überwältigen würde, und sie blickte nach unten. Wenn sie nur auch die Kunst beherrscht hätte, auf Befehl zu erröten.
»Es wäre mir eine Ehre«, sagte er schließlich und küsste ihre Hand, bevor er ging, um nach einem Bediensteten zu suchen.
Er würde nicht lange brauchen. Solange er ihr den Rücken zuwandte, tat sie die notwendigen Schritte in einen seitlichen Gang, der in einen anderen Saal führte. Sie gab sich den Anschein von Zielstrebigkeit, als sie, ohne sich umzuschauen, vorwärts marschierte.
Niemand hielt sie auf, obwohl sie sicher war, dass viele ihr Weggehen bemerkt hatten. Sie würde bald zurückkehren, aber jetzt musste sie erst einmal an die frische Luft, raus aus diesem beengenden Raum. Nur einen Augenblick lang wollte sie den kühlen Wind auf ihrer Haut spüren, und sie wusste auch den perfekten Ort dafür.
Im Burghof gab es einen Garten, für dessen Pflege ihr Vater gesorgt hatte. Eine kleine Einfriedung mit Bäumen und Pflanzen. Ihre Mutter hatte ihn angelegt, wusste sie von Ona. Es war einer von Avalons Lieblingsplätzen gewesen, ein Garten voller Überraschungen, ein kleines Paradies.
»... eingetroffen. Er ist jetzt in der Kapelle, Mylord, und wartet darauf, was Ihr anzuordnen geruht.«
Avalon blieb stehen, als sie die gedämpften Worte vernahm, die durch die geschlossene Tür drangen, an der sie gerade vorbeiging. Sie schaute um sich. Die Halle lag verlassen da.
»Gut, gut.« Das war unverkennbar Bryce, der sich nicht einmal bemühte, seine Stimme zu dämpfen. »Sag ihm, dass wir innerhalb einer Stunde bei ihm sein werden. Sorg dafür, dass er bereit ist.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Avalon stellte sich vor, wie der Diener sich zum Abschied verneigte. Voller Panik schaute sie sich nach einer Nische um, wo sie sich verstecken konnte. Doch dann ertönte wieder Bryce’ Stimme, deren Klang zu entnehmen war, dass er eine geringfügige Kleinigkeit erwähnte, die er vergessen hatte.
»Oh, sag dem Priester, dass die Braut vielleicht etwas ... unwillig sein könnte. Sag es ihm, damit er sich darauf einstellt.«
»Das haben wir bereits getan, Mylord.«
»Schön. Dafür, was ich ihm bezahle, kann er ruhig das eine oder andere jungfräuliche Geziere übersehen.«
»Jawohl, Mylord.«
Avalon floh. Sie dachte nur noch daran, von dieser Tür wegzukommen. Ihre Röcke, die sie gerafft hatte, wogen schwer in ihren Händen. Die Amethyste schlugen funkelnde Blitze im Licht der Fackeln, an denen sie vorbeirannte.
Idiot!, beschimpfte sie sich selbst, während sie um Ecken keuchend einem Weg folgte, den sie nur noch teilweise kannte. Bryce war viel verzweifelter, als sie angenommen, und genauso rücksichtslos, wie sie befürchtet hatte.
Heute Nacht würde er sie verheiraten – heute Nacht! Vor all diesen Leuten würde er sie ohne viel Federlesens vor den Altar schleppen, sie unter Druck setzen und das, was von ihrem Leben noch übrig war, um seines persönlichen Profitwillens zerstören.
Der Gedanke, mit Warner verheiratet zu werden, der Gedanke an seine Größe und die Bedrohung, die von ihm ausging, an seine wulstigen Lippen, die sich feucht auf ihre Haut drückten, ließ sie bis ins tiefste Innere erschaudern.
Den Garten gab es zu ihrer Erleichterung noch. Er war etwas verwildert, alle Bäume größer und das Strauchwerk bis auf den Weg gewachsen. Avalon verfiel wieder in ihre normale Gangart, als sie ihn betrat. Sie tauchte in das Zwielicht ein und ließ sich von seinem diffusen Schein einhüllen. Beide Hände gegen die Seiten ihres Kopfes gepresst, fragte sie sich verzweifelt, was sie tun sollte.
Unter dem Vorwand, an Kopfschmerzen zu leiden, die allerdings sehr real waren, könnte sie in ihre Gemächer zurückkehren. Sie könnte ihre Sachen zusammenpacken und sich zu den Stallungen schleichen, ihr eigenes Pferd stehlen, wegreiten ...
Sie könnte auch vorgeben, plötzlich krank zu sein, in Ohnmacht zu fallen und erst wieder aufstehen, wenn der Priester des Wartens müde geworden war ...
Oder sie könnte sich auflehnen, wie Claudia es ihr nahe gelegt hatte, sich weigern, Warner zu heiraten, Bryce öffentlich anklagen, dass er den Tod ihres Vaters auf dem Gewissen hatte …
Doch das war alles Wahnsinn. Avalon lachte in Richtung eines Lorbeerbusches. Vielleicht hatte Nicholas Latimer ja die ganze Zeit Recht gehabt und sie war wirklich verrückt.
Von oben hörte sie ein Rascheln, Äste, die sich bewegten und dann wieder bewegungslos verharrten. Man konnte es sich eingebildet haben ...
Ihre Schritte auf dem mit weißen Kieselsteinen bedeckten Weg wurden langsamer, dann blieb sie stehen. Eine Lerche trillerte in einem der alten Bäume ein kurzes Lied.
Der Himmel leuchtete in den Farben Blau und Lila, die zu ihrem Kleid passten und bald der tintigen Schwärze der Nacht Platz machten.
Die Lerche sang wieder.
Ein seltsames Gefühl der Ruhe überkam Avalon. Sie ging tiefer in den Garten hinein. Irgendwo hatte hier immer eine Bank aus Marmor gestanden, über der üppig rankendes Geißblatt eine Laube aus Blättern und Blüten schuf. Sie wollte diesen Ort mit seinen smaragdgrünen Blättern und gelben Blüten gern noch einmal sehen, den taufrischen Duft so lange einatmen, bis all ihre Sorgen fortgespült waren und sie deutlich erkannte, was sie zu tun hatte.
Wieder raschelte es, als sie sich dem Ende des schmalen Wegs näherte. Dieses Mal kam es direkt von links hinter den weichen Blättern der Winterkirsche.
Oder vielleicht erklang es doch nicht hinter den Blättern, sondern direkt aus ihnen heraus; denn plötzlich kauerte der Fremde, den sie in der letzten Nacht in der Gastwirtschaft getroffen hatte, vor ihr.
Sie starrte auf ihn hinab. Irgendwie erschien es ihr vollkommen normal, einen Mann zu entdecken, der sich in der Abenddämmerung in einem Garten versteckte.
Im dämmrigen Licht sah er anders aus. Sein Haar fiel offen bis auf seine Schultern, die schöne Tunika, die er letzte Nacht getragen hatte, war durch eine schlichtere ersetzt worden, über der ein Tartan in den Farben Schwarz, Gold, Rot und Lila lag.
Dieser Tartan. Sie kannte ihn gut, denn sie hatte ihn selbst sieben Jahre ihres Lebens getragen.
Jetzt begegneten sich ihre Blicke. Beide waren vollkommen erstarrt, gefangen im seltsamen Moment einer gewaltigen Sekunde, nach der nichts wieder so sein würde wie bisher.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich in Wildheit und dann in Triumph.
»Rosalind!« Gott stehe ihr bei, doch sie konnte immer noch keinen schottischen Akzent heraushören.
Natürlich nicht, denn Marcus Kincardine hatte fast sein ganzes Leben fern der Heimat verbracht. Er sprach eben so wie sein Ritter.
Es gab keinen Ausweg für sie. Doch, sie konnte natürlich einen Schritt zurücktreten und abwehrend eine Hand hochhalten.
Marcus erhob sich und überragte sie mit seiner Gestalt. Den Schritt, den sie zurückgetan hatte, holte er umgehend auf. Seine Zähne blitzten in der Dunkelheit.
»Oder vielleicht sollte ich lieber Lady Avalon sagen?«
Und dann griffen sie nach ihr.