Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 15

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Durch den Sturm verwandelte sich sein Söller in einen geheimnisvollen Ort voll weicher Dunkelheit: kühle Luft, silberne Schatten, der frische Duft von Regen.

Marcus entzündete keine einzige der Lampen und Fackeln. Es gefiel ihm so. Er mochte das natürliche Licht des Sturms, der seine Umgebung erleuchtete und ihn daran erinnerte, dass es in dieser weiten Welt wahrhaftig mehr als Sand und Sonne und brennenden Durst gab. Es war das genaue Gegenteil vom Heiligen Land, wie ein Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Auch wenn es von heute an bis in alle Ewigkeit regnen würde, hatte Marcus nichts dagegen.

Und dieses Gefühl – diese Dankbarkeit für Regen – hatte Marcus seinem Ritter Trygve zu verdanken.

Sir Trygve war in einer Reihe von Klöstern erzogen worden, und seine inbrünstige Frömmigkeit hatte sich noch gesteigert, als er vom Jugendlichen zu einem Mann mittleren Alters reifte. Zu der Zeit, als Marcus aus Schottland kam, um sein Knappe zu werden, verlangte der Ritter nicht weniger als vier Gebete täglich von allen, die in seinem Haushalt lebten. Marcus hatte viele Stunden kniend vor dem kalten Steinaltar der Familienkapelle in der winzigen englischen Grafschaft, die Trygves Zuhause darstellte, zugebracht.

Sein Leben lang war es der größte Wunsch des Ritters, eine Pilgerfahrt in die heiligste aller Städte, Jerusalem, zu unternehmen. Aber die Nachrichten, die besagten, dass die Ungläubigen im Heiligen Land immer stärker wurden und überall christliche Heiligtümer besetzten und plünderten, elektrisierten den Ritter. Die Kirche rief auf zum Gotteskrieg: Gute Christen wurden gebraucht, um das Heilige Land zu retten. Trygve hatte seine Berufung gefunden.

Marcus war erst fünfzehn, als sie aufbrachen. Sie erhielten den Sündenerlass vom Papst und für ihre guten Taten wurde ihnen ein Platz im Himmel garantiert, vertraute Trygve ihm an. Und dies, hatte der Ritter hinzugefügt, während er mit freudigen Augen auf seinen Knappen blickte, dies war es, was den Menschen vom Tier unterschied. Dies war ein Krieg für eine ruhmreiche Sache, und welch eine Gnade, dass sie ein kleiner Teil davon sein durften!

Marcus hatte ihm geglaubt. Warum sollte er daran zweifeln? Trotz all seiner frommen Sprüche war Trygve eine wundervolle Veränderung zu Hanoch. Das erste Mal in seinem Leben erhielt Marcus Lob von einem Mann von Welt statt der fortgesetzten Zurechtweisungen während seiner Kindheit.

Er hatte versucht, seinem Wohltäter in jeder Hinsicht nachzueifern. Sein Ziel war die Kirche, er hatte den Ruf »Deus vult!« angenommen – im Glauben, dass das Gottes Wille sei und er Sein Diener, der die Befehle entgegennahm.

Trotz all seiner tapferen Worte zeigte es sich, dass Trygve seine besten Zeiten als Kämpfer bereits überschritten hatte. Marcus war es, der in allem glänzte. Und er alterte unter der grausamen Sonne der Wüste schneller, als er Lebensjahre aufzuweisen hatte. Allerdings kämpfte er besser als die meisten Männer, die doppelt so schwer waren wie er, und bald nannte man ihn den Schlächter der Ungläubigen.

Trygve schien seine wachsende Ehrfurcht und Neid auf den Schüler zu überwinden. Er gab vor, sich wirklich über Marcus’ Fortschritte zu freuen, die ja in der Tat direkt auf ihn zurückzuführen waren. So sehr hatte er sich in diesem Ruhm gesonnt, dass der Ritter es auch nach dem offiziellen Ende des Kreuzzuges, als die Deutschen und die Franzosen allmählich die Heimkehr antraten und nur eine Hand voll Männer zurückließen, die mit Leib und Seele dem Kampf verfallen waren, ablehnte, nach Schottland zurückzukehren.

Sir Trygve und sein Knappe verloren nicht nur ihr Heer, sondern auch ihre Diener, die einer nach dem anderen in sternenklaren Nächten davonschlichen auf Nimmerwiedersehen. Sie nahmen die Pferde und Kamele mit.

»Ein wahrer Christ wird nie seine Ideale aufgeben«, tönte Trygve. »Wir machen weiter, Knappe, und dienen einzig Gott.«

Seine Hingabe war echt gewesen. Daran hatte kein Zweifel bestanden, erinnerte sich Marcus. Sein Stolz auf Marcus schien genauso echt zu sein. Das einzige Zeichen für Trygves wachsende Unzufriedenheit bestand in der ständig zunehmenden Anzahl von Gebeten, die mit immer lauterem Flehen und anfallartigem Gebrüll zu Gott durchdringen sollten. Im letzten Jahr war er insgesamt fünf Mal delirierend zu Boden gestürzt. Marcus hatte jedes einzelne Mal miterlebt, wenn er sich spuckend und krümmend in religiösem Wahn am Boden wand.

Der letzte Anfall hatte sich vor den Toren Damaskus’ ereignet. Dem verlorenen Damaskus, das von den Moslems gehalten wurde. Nachdem Trygve den Anfall überwunden hatte, verkündete er, dass Gott durch einen seiner glorreichen Engel zu ihm gesprochen hätte, der vom Himmel zu Trygve herabgestiegen sei. Gott hatte zu verstehen gegeben, dass Trygve eine heilige Mission hätte, die kein anderer erfüllen könnte.

Der fromme Mann setzte sich das Ziel, ganz Damaskus zu befreien – ein hinfälliger Ritter mit seinem entsetzten Knappen.

Ein grollender Donnerschlag erschütterte das Holz seines Tisches und brachte Marcus in den Söller und den willkommenen Regen zurück.

In das Heft des spanischen Schwertes, das er trug, hatte ein tiefgläubiger Kreuzfahrer vor ewigen Zeiten ein winziges Stück Bernstein gedrückt, von dem es hieß, es stamme vom Leichentuch des heiligen Cuthbert. Es hatte sich fest in das Metall gegraben. Lange hatte Marcus damals auf den glühenden, goldfarbenen Punkt gestarrt und überlegt, wie man ihn am besten entfernen könnte.

Doch am Schluss hatte er alles so gelassen, wie es war. Dies allerdings eher aus Sorge darum, dass die Vollkommenheit des schönen Schwertes zerstört werden könnte, denn aus Ehrerbietung für einen toten Heiligen.

Im schwachen Licht schwand der Glanz des kleinen Splitters fast gänzlich und wurde vom polierten Silber und den kugelig geschliffenen Rubinen am Heft überstrahlt.

Marcus saß an seinem Tisch auf dem Platz, den der ältere der Kirchenmänner innegehabt hatte, und untersuchte wieder einmal den Bernstein. Er wunderte sich, dass er, egal wie heftig der Kampf wütete, nie herausgefallen war.

Avalon hatte so dicht vor dem hölzernen Tisch gestanden, dichter sogar als Marcus, als sie den Gesandten des Papstes und deren, ihren eigensüchtigen Zwecken dienenden Forderungen gegenübergetreten war. Sie schien ohne Furcht zu sein. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, zu was diese Diener Gottes in der Lage waren.

Balthazar trat in den Söller des Saals und wanderte gemächlich zu einem Stuhl aus dunklem Eichenholz und rissigem Leder.

»Siehe da«, sprach er und machte eine weit ausholende Bewegung. »Sie geht.«

Da Bal bereits der Dritte war, der zum Laird kam, um ihm zu sagen, dass die Braut beschlossen hatte, ihr Zimmer zu verlassen, nickte Marcus nur und starrte weiter auf den schwachen Glanzpunkt.

»Sie kommt nicht sehr weit«, meinte er nach einer Weile.

»Oh?« Bal lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Marcus stieß ein kurzes Lachen aus. »Da gibt es wenig Möglichkeiten, wo man hingehen könnte, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Die Hälfte von Sauveur ist eine Ruine. Und die Nässe draußen lässt auch nicht nach.«

»Das ist richtig«, stimmte Bal ihm zu.

Der Regen klatschte gegen die Bleiglasfenster des Raumes, lief die Scheiben hinunter und verwischte die bunten Septemberfarben der Bäume und des Grases. Zumindest würden die bewohnbaren Teile von Sauveur trocken und intakt sein für den bevorstehenden Winter. Dafür hatten sie sorgen können.

»Wusstest du, dass mein Vater im alten westlichen Torhaus Pferde hielt, nachdem die Stallungen zusammengebrochen waren?« Marcus schaute in den Regen hinaus. »Ich erinnere mich daran. Er sagte, Pferde seien wichtiger als Steine.«

»Ein kluger Mann«, meinte Bal.

»Na, das ist aber mal eine ungewöhnliche Vorstellung, dass Hanoch vielleicht klug gewesen sein könnte.«

»Pferde sind wertvoll. Steine gibt es umsonst.«

Eine Frau steckte ihren Kopf in den Studiersaal. Sie blickte zu Marcus und sagte: »Verzeihung, Laird, aber die Braut hat soeben ihre Kammer verlassen.«

»Ich weiß«, erwiderte er.

Erwartungsvoll schaute ihn die Frau an, ging jedoch, als nichts weiter nachzukommen schien.

Marcus strich sich mit einer Hand durchs Haar und blickte schließlich auf das Durcheinander von Briefen, Schriftrollen und einzelnen Papieren, die über den Tisch verstreut waren. Es gab so viel zu tun. Das alles bedrückte ihn so sehr, dass er am liebsten die Augen geschlossen und es dem Vergessen anheim gestellt hätte. Oder sich selbst ... Was auch immer.

»Deine Lady benötigt einiges an Kleidung, die geschickt werden soll«, nahm Bal das Gespräch wieder auf. »Ich glaube, man kann schon bald damit rechnen.«

»Kleidung?«

»Sie wird von der Burg deines Feindes hergeschickt.«

»Wofür, zum Teufel, braucht sie Kleidung?«

Bal schaute weg. Jetzt trat ein Wachtposten in den Raum und machte eine kurze Verbeugung. »Die Braut ist ausgebrochen«, meldete er besorgt.

»Ich weiß«, seufzte Marcus.

»Sie ist in der Wirtschaftskammer«, fuhr der Wächter fort.

»Lasst sie«, ordnete Marcus an.

Der Wächter zog sich zurück.

Die Papiere türmten sich in wackeligen Haufen auf dem ganzen Tisch. Es gab Hauptbücher und hingeschmierte, fast unleserliche Notizen in der Handschrift seines Vaters. Eine betraf die Bezahlung mit einem Schaf und seinem Lamm für den Verlust einer Hütte. Eine andere erinnerte an die Übergabe von drei Schafen an einen reisenden Priester als Bezahlung für einen Besuch. Bei einer weiteren ging es um einen Streit um acht Ballen Wollstoff. Die Nächste enthielt den förmlichen Protest eines Bauern gegen einen anderen, der behauptete, er hätte fünf Reihen Hafer auf dem Land des anderen gesät, das in jenem Jahr für den Anbau von Gerste vorgesehen gewesen war. So ging es endlos weiter.

»Was gedenkst du jetzt also zu tun, Kincardine?« Bal beobachtete ihn von seinem Stuhl aus. Seine Worte waren ohne Arg und freundlich. »Willst du darauf warten, dass dir dein König die Erlaubnis erteilt, die Frau zu heiraten?«

»Seine Erlaubnis habe ich bereits«, erwiderte Marcus trotz des beiläufigen Tonfalls seines Freundes zornig.

»Dann wartest du auf die Erlaubnis des englischen Königs oder des Papstes?«

»Es ist mir völlig egal, was sie sagen. Und ich warte auch nicht auf ihre Zustimmung.«

»Aber irgendetwas beschäftigt dich. Ich frage mich, was!«

Marcus zuckte die Schultern und blickte wieder auf die Papierstapel. Bal musterte ihn einen Augenblick und ergriff erneut das Wort.

»Machst du dir gar keine Sorgen, dass diese Engländer wiederkommen und sie mitnehmen?«

»Nein«, antwortete Marcus. »Das wird nicht geschehen.«

»Bist du dir dessen sicher?«

»... spielt keine Rolle. Sie können es ruhig versuchen, aber sie werden sie nicht mitnehmen. Wir werden heiraten, ehe der Papst sich dazu entschließt, sich von d’Farouche bestechen zu lassen.«

»Sie ist ein Juwel. Ein kostbarer Besitz für jeden Mann«, meinte Bal – wollte er ihn damit gar testen?

»Nicht nur ein Besitz«, korrigierte Marcus. »An erster Stelle ist sie eine Frau.«

Ja, wie gut er das wusste: Fleisch und Lippen und süße Wärme, brennende Leidenschaft, Küsse, die seine Seele zu erleuchten schienen ...

»Ein Juwel«, wiederholte Bal, »das von mächtigen Männern geschliffen wurde. Männer, die sie dir wegnehmen wollen, sowie Männer, die die Heiligkeit und Macht gewonnen haben, um ihnen dabei zu helfen.«

Mit finsterem Blick schaute Marcus auf die Papiere. Jedes einzelne Wort war eine einzige scharfe Bedrohung, was auch in der Absicht des Sprechers gelegen hatte.

»Und trotzdem lässt du ihr immer noch Zeit«, schloss Balthazar. Seine Stimme klang nach wie vor fragend.

»Ich muss ...«, Marcus verstummte. Wie sollte er in Worte fassen, was er empfand? Er wollte Avalons Vertrauen gewinnen, ihr beweisen, dass er ihrer wert war. Dabei musste er alles vermeiden, was sie an seinen Vater erinnerte: Kraft, Gewalt, die alles zermalmende Beherrschung.

Er erkannte, dass er sie aus Liebe gewinnen wollte.

Bal hatte ihn schweigend beobachtet und las seine Gedanken mit der etwas unheimlichen Art, die er an sich hatte.

»Um eine Frau zu umwerben«, sprach Balthazar, »bedarf es der tapfersten Männer.«

Marcus hob die Hände an die Augen, rieb sie und stieß dann einen weiteren Seufzer aus.

Die Köchin klopfte an. Wie war noch gleich ihr Name? Tara? Tela? Tegan.

»Laird«, sagte die Köchin. »Die Braut hat die Wirtschaftskammer verlassen. Sie möchte sich den Südturm anschauen, hat sie gesagt.«

»Danke.«

Die Papiere würden warten müssen. Sie lagen da schon so lange, einige von ihnen waren bereits Jahre alt – was, zum Teufel, hatte Hanoch die ganze Zeit getrieben? – Jetzt konnten sie ruhig noch einen Tag länger warten. Oder eine Woche. Marcus schob seinen Stuhl zurück.

»Wohin gehst du?«, fragte Bal anzüglich.

»Südturm«, gab Marcus Auskunft. »Ich glaube, von dort aus gibt es einen schönen Rundblick.«

Der Südturm bedurfte keiner größeren Reparaturen, wie Marcus sich erinnerte. Die Stufen waren alle in Ordnung, die Pfeiler immer noch intakt. Vielleicht hatte Hanoch für seinen Erhalt gesorgt, weil er in Richtung des alten Feindes England lag. Marcus hatte seines Vaters System beibehalten, die Wachtposten im Turm, die ständig den Horizont kontrollierten, regelmäßig ablösen zu lassen.

Aber der Wächter war nicht auf dem Posten, als Marcus oben anlangte.

Er trat auf den Wehrgang und stellte fest, dass es – wie auf Befehl – nicht mehr regnete und dass jetzt ein ganzer Schwarm von Sternen durch die restlichen Wolken funkelte. Trotz der untergehenden Sonne, die blaue, rosa- und lavendelfarbene Streifen an den westlichen Saum der Erde warf, glitzerten sie bereits am Firmament. Diese himmlischen Diamanten umgaben Lady Avalon d’Farouche von allen Seiten, während sie sich mit einer Gruppe von Männern und Jungen auf dem nassen Wehrgang unterhielt. Langsam begann die Schwärze des Nachthimmels herabzusinken.

Er musste stehen bleiben, um sie zu bewundern, konnte einfach nicht anders. Wenn Trygve wirklich jemals einen Engel in seinen Visionen gesehen hatte, konnte dieser bestimmt nicht herrlicher als Avalon in diesem Moment gewesen sein, nahm Marcus an – in diesem Moment, als ihr elfenbeinfarbenes Haar das Sternenlicht einfing, ihre mandelförmigen Augen schwarz umrahmt waren und bei der Frage eines der Jungen ein leichtes Lächeln über ihr Antlitz huschte.

Nie zuvor hatte er sie so entspannt, so sorglos gesehen. Während sie sprach, beschrieb sie mit ihrer Hand, die sich nicht in der Schlinge befand, einen Bogen durch die kühle Nachtluft, der in seiner Eleganz zugleich Weiblichkeit und Stärke ausdrückte. Sie wiederholte die Bewegung, diesmal jedoch langsamer, wie um etwas zu demonstrieren. Ein anderer Junge sagte etwas zu ihr; sie lachte und die ganze Schar stimmte mit ein. Fasziniert kam Marcus näher.

»Nein«, sagte sie gerade, »richtig geflohen ist nie jemand vor mir, glaube ich, weder im Krieg noch sonst wo.«

Sie brach ab, bevor sie ihn sah, hob soeben den dem Kind zugeneigten Kopf. Die bewundernden Augen des Jungen wandten sich in seine Richtung.

Bis in alle Ewigkeit könnte er sie so anschauen. Er wollte in ihre violetten oder heidefarbenen, oder welche Farbe auch immer ihre Augen hatten, eintauchen und für immer glücklich dort in ihrer Welt lebend verharren, während der Glanz Avalons ihn umgab.

Aber als sie ihn schließlich entdeckte, verschwand ihr Lächeln und ihre Haltung wurde wieder wachsam. Der Glücksmoment erlosch.

Fürchte mich nicht, flehte Marcus stumm, und er hätte schwören können, ihren Vater zu sehen.

Sie hatte ihn gehört. Er wusste, dass es so war.

Mittlerweile hatten alle seine Anwesenheit bemerkt. Die Wachtposten trennten sich von der Gruppe, die Jungen schauten mit offenem Mund zu ihm auf und dann wieder zu ihr.

»Guten Abend«, begrüßte er sie, weil ihm nichts anderes einfiel.

Die Jungen erwiderten seinen Gruß im Chor. Avalon reagierte nur mit einem auf ihre Füße gerichteten Blick.

Für eine Weile verharrten alle so, bis Marcus wagte, näher zu treten. Die Reihe der Jungen öffnete sich und ließ ihn in ihren Kreis ein.

»Laird, könnt Ihr wie die Braut kämpfen?«, fragte ein kühner Bursche.

»Tja, kämpfen kann ich schon, aber nicht so wie eure Herrin. Sie verfügt über besondere Fähigkeiten.«

»Jeder kann es lernen«, versicherte Avalon schnell.

Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit der Jungen wieder auf sie. Hoffnung und Erregung wirbelten über ihre Mienen.

»Werdet Ihr es uns beibringen, Mylady?«, erkundigte sich der gleiche Junge.

Avalon zögerte, warf einen Blick auf Marcus und schaute dann wieder nach unten. Das schwache Sternenlicht schmückte ihre Wangen, ihre Lippen und jede einzelne Wimper. Ihre weiblichen Formen waren in kühles blaues Licht getaucht.

»Ich werde, wenn ich kann«, sagte sie schließlich.

Marcus verschränkte die Arme über der Brust. »Was spricht dagegen, Lady Avalon?«

Wieder forderte er sie heraus. Er konnte es einfach nicht lassen.

Sie hob den Kopf und blickte ihm freimütig in die Augen. »Ich werde es tun, wenn die Zeit dafür gekommen ist«, ergänzte sie, und die Jungen gaben ihre begeisterte Zustimmung.

In ihrer Erregung begannen sie, den Lehrplan ohne sie aufzustellen, und diskutierten miteinander darüber, wann man am besten begänne, wer teilnehmen sollte und welches der beste Übungsplatz wäre.

»Haltet mal, ihr Jungen«, unterbrach Marcus sie. »Unsere Herrin ist verletzt. Wir müssen warten, bis sie wieder gesund ist.«

Nach einigen Ausrufen der Enttäuschung wurden die Jungen still. Avalon hörte ihnen zu und schüttelte dann den Kopf.

»Eigentlich können wir schon morgen beginnen, wenn euer Laird es erlaubt«, meinte sie. »Ich sage euch, was ihr tun sollt, und ihr übt es, während ich euch dabei zuschaue. Das wäre ein guter Anfang.«

Zwölf Paar junger Augen richteten sich wieder auf ihn, und Marcus gab scheinbar widerwillig nach. »Wie Ihr wünscht«, sagte er zu Avalon, und er musste den Kopf senken, um seinen inneren Triumph zu verbergen. Ein weiterer kleiner Schritt war getan, um Avalon an Sauveur zu binden. Im Stillen dankte er der Hartnäckigkeit der Jugend.

Doch Hartnäckigkeit hatte auch ihre Nachteile. Die Jungen blieben unbekümmert da, obwohl Marcus ihnen Blicke zuschleuderte, die bedeuteten, sie seien entlassen. Sie hatten sich wieder zu Avalon umgedreht und bombardierten sie mit Fragen. Alle redeten durcheinander, und sie warteten kaum auf ihre Antworten. Avalon bemerkte seine wachsende Ungeduld. Er sah, wie ihre Mundwinkel sich jedes Mal hoben, wenn sie in seine Richtung schaute. Und jedes Mal wurde ihr Lächeln ein wenig breiter.

Zum Schluss musste er die Gruppe auseinander scheuchen und den Jungen sagen, sie sollten endlich das Feld räumen, aber er versicherte ihnen, dass die Herrin auch am nächsten Tag noch da sein würde, um ihnen eine Audienz zu gewähren.

Sofort löste sich die Gruppe auf, und die Kinder rannten in die Dunkelheit. Nichts dämpfte ihre Erregung darüber, welche großartigen Siege die Zukunft für sie bereithalten würde – wenn sie die Kampffähigkeiten der Kriegsmaid, der ein so magischer Fluch anhaftete, übernähmen.

Avalon stand an der feuchten Steinmauer und blickte nach Süden über die Baumwipfel und glatten Gebirgshänge. Marcus bemerkte, dass ihre Armschlinge anders aussah in Farbe und Muster. Er erinnerte sich nur vage an jenen Moment in seinem Studiersaal mit den Abgesandten. Aber es schien ihm, als hätte Avalon da etwas ziemlich Erstaunliches getan: spontan ihren verletzten Arm aus der Schlinge gezogen, um zu beweisen, dass er in Ordnung war. Als es passierte, hatte er es nur aus der Ferne beobachtet. Es war zu einer weiteren Tatsache in der brisanten Mischung aus Worten und Absichten in jenem Raum geworden. Aber jetzt fragte Marcus sich, warum sie es getan hatte.

Die Gesandten wären entsetzt gewesen bei der Entdeckung, dass man sie misshandelt hatte. Sie hätten jede Verletzung zum Anlass genommen, ihre Forderungen zu untermauern. Selbstverständlich war Avalon sich dessen genauso bewusst wie er. Trotzdem hatte sie zu seinen Gunsten gehandelt. Sie hatte ihre Bedenken mit königlicher Würde zerstreut und damit Marcus der Notwendigkeit enthoben, gegen die Abordnung vorzugehen.

Er trat neben sie auf den Wehrgang. »Ein neues Tuch.«

Ihr Kopf reichte kaum bis über seine Schulter. Jetzt senkte sie ihn, um auf die Schlinge zu blicken.

»Ja. Euer Zauberer gab sie mir.«

»Mein Zauberer?«

»Euer heiliger Mann«, korrigierte sie sich. »Balthazar.«

Marcus grinste. »Ein Zauberer. Wie er sich geschmeichelt fühlen würde, wenn er das hörte.«

»Findet Ihr etwa nicht, dass er einer ist?«

»O doch, ich stimme Euch zu!« Marcus stützte sich mit dem Ellbogen auf eine Zinne und musterte den Himmel. »Zauberer ist eine passende Bezeichnung für ihn. Ihr habt ihn sofort durchschaut.«

»Es liegt an seinem Auftreten«, erklärte sie ernsthaft.

Ihm rutschte die Frage, die ihm auf der Zunge lag, heraus. »Und wie würdet Ihr mein Auftreten bezeichnen, Mylady?«

Tatsächlich schien sie darüber nachzudenken. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine steile Falte. »Ihr ... Ihr seid der Laird. Euch wohnt eine natürliche Autorität inne. Aber da ist noch mehr. Ihr geht mit offenen Augen durch die Welt, und ich glaube, dass Ihr das gelernt habt.«

»Offene Augen«, wiederholte er gefesselt.

»Aufmerksamkeit. Und auch Vorsicht. Gewandtheit. Unter all Eurer Beherrschung liegt, wie bei einem Falken, Gewandtheit verborgen.«

Als Knappe hatte er in Ägypten einen Wüstenfalken aus der Nähe gesehen. Er war an den Arm seines Verkäufers gebunden, trug jedoch keine Kappe. Die lodernden Augen wiesen die Farbe von Sand auf, und die Schwingen waren so lang wie Männerarme. Der Falke musste verletzt sein. Vielleicht war es beim Einfangen geschehen. Er hatte ein Bein dicht an den Körper gezogen. Marcus wollte ihn retten, doch Trygve ließ es nicht zu. Der hielt so etwas für überflüssig. Das hätte ihm als Hinweis auf die wahre Natur des Ritters dienen sollen, wo Marcus jetzt darüber nachdachte.

Marcus hatte den festgebundenen Falken nie vergessen, dessen Kampfgeist trotz der Schmerzen ungebrochen und unerschütterlich war.

Avalon nickte. »Ein Falke«, murmelte sie und dann schien ihr plötzlich etwas einzufallen. »Ein Falke könnte eine Schlange töten.«

Diesen Gedankengängen vermochte Marcus nicht zu folgen. »Bin ich die Schlange oder der Falke?«, fragte er, ohne es wirklich als Scherz zu meinen.

»Der Falke«, antwortete sie sofort. »Ihr seid der Falke. Daran müsst Ihr immer denken.«

Jeder, der ihnen zuhörte, meinte sicher, dass sie Unsinn redeten, dachte Marcus. Aber bei ihren Worten spürte er etwas wie Erleichterung – als hätte sie eine geheime Furcht von ihm benannt, von der er selbst nie gewusst hatte, und die nun vom Wind fortgetragen wurde. Dem folgte Dankbarkeit, eine große Dankbarkeit. Er war der Falke.

»Eure Leute haben mit mir geredet«, erzählte Avalon ihm. »Ich glaube, das solltet Ihr erfahren.«

»Was denn?« Immer noch gab er sich seiner Erleichterung hin.

»Sie machen sich Sorgen, Mylord.«

»Ich wünschte, Ihr würdet mich Marcus nennen«, sagte er und ließ damit den Gedanken entweichen, der ihm auf der Zunge gelegen hatte. Avalon wirkte überrascht.

»Das ist nicht schwierig«, neckte er sie, »bei einem so kurzen Namen.«

»Ihr hört mir nicht zu, Mylord«, ermahnte sie ihn. »Ich spreche von Euren Leuten.«

»Schon recht«, erwiderte er und ging auf ihre Stimmung ein. »Sie kommen mit ihren Sorgen zu Euch, sagtet Ihr?«

»Ja.«

»Tja, Avalon, was erwartet Ihr? Ihr wisst, was sie von Euch denken – für wen sie Euch halten. Seid Ihr wirklich überrascht, dass sie bei Euch Rat suchen?«

»Aber es gibt nichts, was ich für sie tun könnte! Ich habe versucht, ihnen das mitzuteilen!«

»Für einige genügt es, dass Ihr einfach nur hier seid.«

»Das ist nicht genug. Ihr und ich wissen das, Marcus«, sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung. »Ich bitte Euch noch einmal, mein Vermögen zu nehmen. Es würde so sehr helfen.«

»Wisst Ihr es denn nicht?«, fragte er mit weicher Stimme. »Habt Ihr es immer noch nicht begriffen? Die Legende betrifft nicht Euer Vermögen, sondern Euch. Sie wollen Euch, Avalon.«

Die Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. Darauf schien sie keine Antwort zu haben. Deshalb schaute sie mit hängenden Schultern weg.

Er rückte näher an sie heran und wagte es, eine Hand um ihre Taille zu legen. Reglos wie ein Reh, das sich einem Feind gegenübersieht, ließ sie die Geste zu.

Sie sollte sich nicht vor ihm fürchten. Er wollte weder ihre Feindseligkeit noch ihren Zorn oder ihre Ablehnung. Marcus wollte, dass sie ihn genauso begehrte wie er sie, und noch mehr – vieles mehr, Dinge, die er nicht einmal selbst in Worte fassen konnte. Diese Gefühle, die in den Tiefen seines Herzens schwebten und nur von Avalon kündeten, machten ihm fast Angst.

»Werdet Ihr mich heiraten?«, fragte er voller Zurückhaltung.

»Ich kann nicht«, wich sie aus. »Es tut mir Leid.«

Mit dieser Antwort hatte er gerechnet, und doch fügte sie ihm Schmerzen zu. Der Schmerz war heftiger, als angesichts der Umstände gerechtfertigt schien. Wie auch immer, ihre Antwort änderte nichts an seinen Absichten. Sie würden auf jeden Fall heiraten.

In weiter Ferne heulte ein einsamer Wolf in den Bergen, als der bronzefarbene Mond groß und rund aufging.

»Es ist spät«, meinte Marcus, aber er bewegte seinen Arm nicht.

Avalon gab keine Antwort. Es schien wie Zauberei, als ihr Haar den Mond widerspiegelte und nun wärmer und goldener aussah. Auch ihre Haut nahm das Licht auf; deren Farbe erinnerte ihn an die Menschen, die er im Heiligen Land gesehen hatte. Ihre Augen waren dunkel und unergründlich. Sie lehnte den Kopf zurück, um zu ihm aufzuschauen, und in diesem Moment glich sie einmal mehr einem exotischen Engel. Doch ihre nächsten Worte rissen ihn in die Realität zurück.

»Mylord, wie habt Ihr davon erfahren, dass Bryce die Absicht hatte, mich mit seinem Bruder zu vermählen?«

»Ein Brief. Man schickte uns einen Brief.«

»Darf ich ihn sehen?«

Er zuckte die Achseln und ließ sie los. Der Zauber hatte sich verflüchtigt. »Warum nicht!«

Marcus brachte sie an den einzigen Ort auf Sauveur, den Avalon zu kennen meinte außer der Kammer, in der sie wohnte. Sie hatte den späten Nachmittag damit verbracht, Sauveur zu erforschen, indem sie ziellos die Burg durchwanderte, bis sie der Menschenmenge müde wurde, die ihr folgte. Deshalb verkündete sie, sie würde nach draußen gehen, um sich den Regen anzusehen. Doch der Zug von Jungen blieb ihr trotz dieser Aussichten unerschütterlich auf den Fersen und schien sogar enttäuscht zu sein, dass der Regen aufgehört hatte, als sie den Südturm erreichten.

Inzwischen langten sie wieder in Marcus’ Söller des Studiersaals an – auf ihrem Streifzug hatte sie keine ähnlichen vier Wände gesehen. Sie fühlte sich wohl darin. Der Raum besaß genau die richtigen Maße, einen angemessenen Kamin und zwei Glasfenster mit einer hervorragenden Aussicht. Sie hatte sie nicht bemerkt, als sie den Gesandten gegenübergestanden hatte. Aber da hatte es auch wichtigere Dinge gegeben, die bedacht sein wollten.

Der lange Tisch, an dem sie gesessen hatten, war jetzt mit Papieren und losen Schriftrollen bedeckt. Und auch etliche gebundene, aufgeschlagene Bücher mit vielerlei Anmerkungen auf den Seiten lagen herum.

Avalon beobachtete, wie Marcus zu diesem Durcheinander ging und darin herumwühlte. Sie blickte auf sein ernstes Profil. Auch in seinem Tartan fand sie ihn so atemberaubend gut aussehend, dass sich ihre Sachlichkeit für einen Moment verflüchtigte ...

Wenn ihre Leben nur anders verlaufen wären ... er nicht als Sohn von Hanoch das Licht der Welt erblickt hätte. Wenn er nur nicht an diesen Unsinn von einem Fluch des Teufels glauben würde – und sie die Schrecken ihrer Kindheit nicht dazu getrieben hätten, jenen Schwur des Zölibats zu leisten ...

Doch dieser Mann war ein Teil von all dem, ob er nun wollte oder nicht. Auch wenn Marcus die Wahl gehabt hätte, dachte Avalon, würde er sich diesen verqueren Fluch zunutze gemacht haben. Und sie wäre ohnehin in diesen alles verschlingenden Wirbel aus Aberglauben und Lügen geraten – in die Nähe eines bodenlosen Abgrunds.

Sie entfernte sich von ihm, um einen fein gestickten Gobelin neben einem der Fenster zu betrachten. Er stellte ein Edelfräulein dar, das im Fluss badete, während ihr langes goldenes Haar sie wie ein Umhang umhüllte. Zofen standen am Ufer und betrachteten ihre Herrin aus schwarz gestickten Augen, mit schwanengleich gereckten Hälsen. Das Wasser war aus blauen, grünen und weißen Fäden gestickt. Und es gab sogar einen Schwarm kleiner Fische, der die Dame umschwamm.

»Ich verstehe das nicht«, hörte sie Marcus frustriert stöhnen. Sie drehte sich um und sah, dass er sitzend voller Abscheu auf das Schreibtischchaos starrte. »Er war hier«, erklärte er. »Er muss immer noch hier sein. Die Papiere sind alle zusammen gewesen.«

»Was ist das für ein Durcheinander?«, fragte sie und trat zu ihm.

»Das weiß Gott allein. Ich habe den ganzen Haufen geerbt.«

Avalon griff nach einem zerknitterten Zettel, der ihr am nächsten lag.

»›Vier Fässer gutes Ale‹«, las sie laut vor, wobei sie aus dem Gälischen ins Englische übersetzte, »›in bestem französischen Eichenholz und Eisen. Zwei Pflüge mit Leder. Wintersaat für ... zwanzig Felder. Dreißig Lämmer als Bezahlung!‹« Sie blickte auf. »Eine Rechnung?«

»So sieht es aus. Ich nehme an, Hanoch hatte keine Neigung zu solch unerfreulichen Dingen wie regelmäßigen Aufzeichnungen.«

Fünf Jahre auf Gatting! Fünf Jahre unter Maribels sorgfältiger Führung von Mode über Latein bis hin zur umfassenden Verwaltung eines Gutes!

»Ihr braucht einen Verwalter«, stellte Avalon fest.

Marcus stieß ein Lachen aus, das keinerlei Belustigung enthielt. »Sauveur braucht viele Dinge, Mylady, die ich nicht herbeizaubern kann. Ein Verwalter ist eines davon.«

Avalon fingerte an dem Blatt in ihrer Hand herum und schaute voller Bedenken auf die verblasste Tinte. Trotzdem unterbreitete sie ihr Angebot.

»Ich könnte Euch helfen, wenn Ihr möchtet.«

Marcus schaute auf. Er war auf der Hut. »Wie bitte?«

»Ich habe so etwas schon mal gemacht. Bei dem Verwalter von Gatting bin ich in die Lehre gegangen. Von ihm weiß ich, wie diese Aufgaben gehandhabt werden.« Sie legte den Zettel auf den Stapel zurück. »Er sagte, ich hätte einen ungewöhnlichen Sinn für die Mathematik – für eine Frau«, fügte sie feixend hinzu.

»Ihr würdet als Verwalterin arbeiten?«, fragte er ungläubig.

»Nein«, erwiderte sie schnell, »sondern ich werde jemanden für Euch einarbeiten. Wählt einen Mann. Wählt eine Frau. Dann helfe ich, wo ich kann.«

Er schien in Gedanken zu versinken, während er auf einen Punkt hinter ihr schaute, der sich außerhalb des Lichtscheins vom Kamin befand.

Avalon griff nach weiteren Papieren, schaute sie an und legte sie beiseite. Ohne es zu beabsichtigen, erkannte sie, dass sie sie nach einem bestimmten Schema sortierte: Rechnungen, die zu bezahlen waren, Quittungen für bezahlte Rechnungen. Und dann noch verschiedene, lächerlich belanglose Notizen, die Beschwerden von Nachbar zu Nachbar beinhalteten, während andere ganz offensichtlich nicht mehr als Beurteilungen bestimmter Leute waren.

»›Keith MacFarland. Ein zwielichtiger Feigling. Ein Bösewicht‹«, las sie und legte den Zettel auf den Stapel für Verschiedenes.

»Das hört sich genauso an, wie Hanoch es gesagt hätte«, meinte Marcus trocken.

»Ja, aber er fand es wichtig genug, um es niederzuschreiben. Merkwürdig.« Avalon fuhr mit dem Sortieren fort. »Er schien mir nie der Mensch zu sein, der viel vom Schreiben hielt – zu welchem Zweck auch immer. In der Tat war es sogar Ian, der darauf bestand, dass ich lesen lernte.«

»Ian?«

»Der Freund Eures Vaters, Ian MacLochlan«, erläuterte sie kurz angebunden. »Der mir beibrachte, wie man kämpft. Habt Ihr ihn nicht gekannt?«

»Nein«, sagte er.

»Ein Glück für Euch!«

Ehe er darauf etwas erwidern konnte, hielt sie ihm einen entfalteten Bogen hin. »Ist das das betreffende Schreiben, Mylord?«

Marcus warf nur einen Blick auf die vertrauten Zeilen. »Ja.«

Aufmerksam betrachtete sie den Brief. Eine Strähne ihres elfenbeinfarbenen Haars hatte sich aus ihrem lose geflochtenen Zopf gelöst und floss an ihrem Hals entlang, um sich über ihrer Brust zu ringeln. Marcus beobachtete sie dabei, wie sie die einzelnen Wörter auseinander nahm. Er wusste, dass sie sich ihrer Schönheit überhaupt nicht bewusst war.

»Ein Junge vom Murry-Clan brachte ihn«, erklärte er. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. »Der wiederum wollte ihn von einem anderen Clan bekommen haben, der ihn aus England erhielt. Das ist alles, was wir wissen.«

Avalon d’Farouche soll im nächsten Monat Warner d’Farouche auf Trayleigh in der zweiten Nacht des zunehmenden Mondes heiraten, las sie.

Die Handschrift sagte ihr nichts. Sie zeigte die üblichen Schnörkel eines bezahlten Schreibers und gab keinen Hinweis auf den Verfasser. Der Brief war auf dickes, teures Pergament geschrieben.

Die Chimäre gähnte und reckte sich. Sie führte Avalon in einen dunklen Raum, der nur von einem einzigen rauchenden Talglicht auf einer Bank erhellt wurde. Eine in einen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt stand an einem Pult und schrieb die Worte nieder, die die Frau ihm diktierte. Die Frau war in Eile, verängstigt und erregt.

Claudia, dachte Avalon. Er musste von Claudia sein. Kein anderer hatte sowohl das Bedürfnis als auch die Mittel, um die Kincardines vor Bryce’ Komplott zu warnen, um es so zu vereiteln.

Marcus’ tiefe Stimme drang in ihre Gedanken. »Was seht Ihr?«

Er fragte sie nicht, was sie dachte, sondern vielmehr, was sie sah. Das war ein beabsichtigter Hinweis darauf, dass er von ihren Visionen wusste, ja, vielleicht sogar auch ihre Gedanken lesen konnte. Avalon ließ sich nichts anmerken. »Nichts. Nur einen Brief.«

»Wirklich? Eigentlich hatte ich gedacht, Ihr wüsstet, wer ihn geschickt hat.«

Avalon gab ihm den Brief zurück. »Richtig. Und ich weiß auch, warum. Es ist offenkundig, wenn man sich mit den Fakten der Angelegenheit auseinander setzt.«

Marcus legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander.

»Lady Claudia, die Frau meines Cousins Bryce, hat durch eine Verhinderung der Heirat viel zu gewinnen und nichts zu verlieren.«

»Tatsächlich?«

»Weil sie keinen Krieg will.« Avalon ließ ihre Hand wieder über die Papiere gleiten. »Sie war es, die mich am Abend zuvor in die Pläne ihres Mannes einweihte. Sie gab mir zu verstehen, dass es ihr Wunsch sei, ich möge dem Ganzen irgendwie Einhalt gebieten.«

»Ihr solltet dem Ganzen Einhalt gebieten? Wie denn?«

»Oh, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich an die Öffentlichkeit treten und Bryce und Warner anprangern.« Sie schüttelte den Kopf.

»Hättet Ihr das getan, Avalon?«

Seine Frage klang ernsthaft, während er so an seinem Tisch saß und sie anblickte. Sie musste den Blick vom blauen Glanz in seinen Augen abwenden.

»Ich hatte einen besseren Plan«, erklärte sie und wollte es am liebsten dabei belassen. Doch sie fühlte sich gezwungen fortzufahren, um seinem fragenden Blick zu genügen. »Es schien mir das Beste, in die Verlobung einzuwilligen. Ich wollte die Burg verlassen, sobald die Feier vorüber war. Doch hatte ich nicht erkannt, dass Bryce für jenen Abend eine Hochzeit und nicht nur eine Verlobung vorgesehen hatte. Im Garten meines Vaters hatte ich vor zu überlegen, was ich tun sollte.«

»Und da habe ich Euch dann gefunden.«

»Ja«, erwiderte sie aus irgendeinem Grunde patzig.

»Also habe ich Euch im Grunde vor den Ränken Eures Cousins bewahrt, nicht wahr?«

»Wenn Ihr damit andeuten wollt, dass Ihr durch meine gewaltsame Entführung ...«

»Tatsächlich habe ich Euch aus einer Situation befreit, der Ihr selbst nicht so leicht entflohen wäret.«

»Mich befreit!«, stieß sie hervor.

»Und mir scheint, dass, unter Berücksichtigung dieser neuen Fakten, Ihr mir eine Gunst schuldet, Mylady.«

Avalon öffnete den Mund, doch sie fand nicht die Worte, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen.

»Letztendlich stellt sich heraus, dass ich Euch einen großen Dienst erwiesen habe«, wiederholte Marcus milde.

Voller Hochmut wandte sie sich von ihm ab und stolzierte zur Tür.

»Gute Nacht«, rief er ihr mit einem Lachen in der Stimme nach. »Wir können morgen über die Gunst sprechen, die Ihr mir gewähren werdet.«

Beim Hinausgehen schmetterte sie die Tür hinter sich zu.

Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft

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