Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 16

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»Du musst daran denken, die Handgelenke gerade zu halten.« Avalon beugte sich über das braunhaarige Mädchen, ließ ihre Finger über deren Arm nach unten gleiten und tippte auf ihr Handgelenk. »Hier, siehst du? Wenn du die Gelenke beim Zuschlagen beugst, verlierst du an Kraft und verletzt dich sogar selbst dabei.«

Das Mädchen hieß Inez, und gehorsam brachte sie ihre Hand, Avalons Beispiel folgend, in die richtige Stellung. Avalon hielt sie für ungefähr vierzehn Jahre; sie hatte somit fast genau das gleiche Alter, in dem Avalon ihre Kampfausbildung beendete.

Inez hatte sanfte braune Augen und ein freundliches, einnehmendes Lächeln. Sie war eines von sieben Mädchen in Avalons recht zusammengewürfelter Gruppe, die sich freiwillig gemeldet hatte, die Fähigkeiten der Kriegsmaid zu erlernen. Es waren insgesamt achtundzwanzig Schüler, alles Kinder. Doch am Rande der Gruppe verweilten einige Erwachsene – Männer und Frauen gleichermaßen.

Als Inez und ihre Freundinnen an jenem ersten Morgen schüchtern vorgetreten waren, um am Unterricht teilzunehmen, hatten die Jungen gestöhnt und sie verscheucht. Doch dann rief Avalon sie zur Räson, indem sie erklärte, dass sie keinen einzigen von ihnen unterrichten würde, wenn nicht alle willkommen wären.

Die Jungen hatten zu ihr geschaut und dann zurück zu den zwar mürrischen, aber auch noch hoffnungsvollen Mädchen.

Avalon ging hinüber zu ihnen und fing an, ihnen die richtige Haltung vor einem Schlag zu zeigen. Einer nach dem anderen kamen die Jungen dazu.

Zwischendurch erhaschte sie einen Blick auf Marcus, der durch ein Fenster schaute, welches zum Hof hin lag, mit einer Gruppe von Männern vorbeiging oder sogar stehen blieb und sie, mit dem Zauberer an seiner Seite, einfach nur beobachtete. Sein Gesicht zeigte keine Regung, seine Miene war meist völlig ausdruckslos, doch darunter, verriet ihr die Chimäre, war er erfreut, sehr sogar. Konsequenterweise hätte sie das als unangenehm empfinden sollen, doch es gelang ihr nicht.

Über zwei Wochen waren vergangen, seit er ihr eröffnete, dass sie ihm eine Gunst schulde. Sechzehn Tage, und er hatte es kein einziges Mal mehr erwähnt. Noch hatte er mit ihr über eine Heirat gesprochen. Tatsächlich schien er damit zufrieden, ihr ein gewisses Maß an Freiheit zu erlauben, damit sie Sauveur auf eigene Faust erkundete. Anscheinend zählte er auf ihr Wort, sie würde bleiben. Für den Moment.

Die Tür ihres Raumes war jetzt nie verschlossen, und es verschaffte ihr besonders des Nachts eine gewisse Ruhe zu wissen, dass sie gehen konnte, wann immer sie wollte. Es gab keinen Wärter, der sie bewachte. Die Leute starrten sie nach wie vor an, ja, sie redeten auch über sie und rätselten herum. Sie war noch etwas Neues. Aber in diesen zwei Wochen hatte sie Zeit gehabt, die Burg und ihre Bewohner kennen zu lernen, während gleichzeitig sie ihnen vertrauter wurde. Dies hatte etwas den mystischen Glanz ihrer Ankunft von ihr genommen. Sie war eine Frau und tat ganz normale Dinge, die Frauen eben taten. Nun, zumindest versuchte sie es.

Sie war hinunter in die Wirtschaftskammer gegangen, um Tegan und ihre Helferinnen zu besuchen. Bei der Zubereitung einer Mahlzeit hatte sie mitgeholfen, entgegen der Proteste der Küchenmägde Teig geknetet. Schließlich hatten die Frauen sie gewähren lassen und ihr bei der Arbeit zugeschaut, wobei sie eine gewisse schockierte Begeisterung an den Tag legten.

Danach hatte sie den Arbeiterinnen an den Webstühlen zugeschaut. Sie sah, wie deren Hände im gleichmäßigen Rhythmus Fäden in Decken, Tuniken und Tartans verwandelten. Kleine Kinder knieten auf dem Boden zu Füßen ihrer Mütter. Manchmal halfen sie, doch meistens spielten sie nur. Avalon hatte gar nicht erst versucht, selbst zu weben. Aber sie lobte mit herzlichen Worten das, was sie sah, und die Frauen begannen, sich ihr anzuvertrauen. Sie erzählten ihr dies und jenes aus ihren Leben, während sie ihnen bei der Arbeit zusah.

Auch mit den Wachtposten hatte sie gesprochen und mit den Männern, die sie aus Trayleigh entführt hatten. Sie war in die Stallungen gegangen – genau gesagt, in deren Ruinen – und hatte sich selbst von der Pflege überzeugt, die man den Pferden angedeihen ließ. Die Stallburschen hatten ihre Heugabeln beiseite gestellt, um sie herumzuführen und ihr jedes einzelne Tier, wozu auch die Katzen gehörten, vorzustellen.

Und jetzt dies! Sechzehn Tage Unterricht, und die Männer begannen mehr zu tun, als nur zuzuschauen. Einige wiederholten leise die Anweisungen, die sie gegeben hatte, und ahmten mit ihren Händen ihre Bewegungen nach.

Sicher würden sie sich bald der Gruppe anschließen. Bis dahin ließ sie sie lieber zuschauen, damit sie sich in einem ihnen angenehmen Tempo mit ihr vertraut machten. Auch sie selbst musste noch an ihrem Befinden arbeiten. Schon vor Tagen hatte sie die Schlinge abgelegt, aber ihre Schulter schmerzte immer noch, sodass sie sie schonte. Ihre Rippen waren fast verheilt.

Inez begann, müde zu werden. Das erstaunte Avalon nicht. Sie übten nun schon mehr als eine Stunde am Nachmittag. Eine Stunde war nur ein Bruchteil dessen gewesen, was Ian beim Training von ihr verlangt hatte. Aber Avalon würde seinen erbarmungslosen Lehrplan nicht wiederholen.

Außerdem hatten ihre Schüler auch noch andere Pflichten zu erfüllen. Sie würde sie also nicht härter herannehmen als nötig. Ohnehin erschienen sie ihr viel zu schmächtig, so dünn und matt, wie sie waren.

Nicht genug Getreide, nicht genug Fisch, ertönte der Singsang der Chimäre, als ob Avalon es nicht längst wüsste.

»Genug für heute«, sagte sie strenger, als sie es eigentlich meinte. Sie verlieh ihrer Stimme einen weicheren Klang. »Ihr habt das alle sehr gut gemacht. Morgen werde ich euch etwas Neues zeigen.«

Die Kinder zerstreuten sich nur langsam. Einige rannten zu ihren Eltern, die meisten jedoch schlenderten, in Gespräche über das Gelernte vertieft, davon.

Marcus war zu ihnen gestoßen, um das Ende ihrer Unterrichtsstunde mitzuerleben. Er lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Burgmauer. Jetzt beobachtete er nur sie. Sein Blick brannte sich sengend in ihr Bewusstsein. Es schien, als könne er ihr mitten ins Herz schauen, als könne er die Chimäre sehen und als sei er deswegen neugierig – wollte sie erforschen, wollte jeden ihrer Gedanken, all ihre Träume kennen. Ihre Seele.

In den Nebelschwaden ihres Geistes fixierte die Chimäre sie und schenkte ihr ein breites Grinsen. Nicht genug, nicht genug ...

Avalon hob ihr Antlitz zum Himmel, damit die Strahlen der fernen Sonne einen Moment lang ihre Wangen und Lider wärmten. Eine Brise brachte den Geruch von brennendem Kiefernholz. Vielleicht stammte er von den Kaminen in der großen Halle. Er war süß und rauchig und vermischte sich perfekt mit der Frische des Tages.

Gut gelaunt, lachend, warm eingehüllt in ihre Tartans verschwanden die Kinder, um wieder ihren Eltern zur Hand zu gehen.

Nicht genug.

Und warum nicht?, fragte Avalon die Chimäre. Warum war es nicht genug? Was wurde denn von ihr erwartet? Auch sie konnte kein Korn mit einem Fingerschnipsen hervorzaubern! Die Lachse würden nicht auf ihren Befehl hin aus den Flüssen hüpfen! Was wollte man also von ihr?

Marcus beobachtete sie immer noch. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgetreten und umgab ihn mit den Strahlen der Dämmerung. Sie ließ Regenbögen auf seinem schwarzen Haar schimmern und zeigte die Stoppeln eines Eintagebartes, wodurch sein kantiger Kiefer betont wurde, der im Gegensatz zur Weichheit seiner Lippen stand. Seinen Augen verlieh sie die Farbe des Himmels, der sich im Schnee widerspiegelt: nicht Blau, nicht Weiß, irgendein Pastellton dazwischen.

Ihre Blicke trafen sich über das goldene Gras und den Staub hinweg. Sie drehten sich beide gleichzeitig beim nächsten Herzschlag um und schauten zur Straße. Kaum eine Sekunde später erschien der Kundschafter, der auf sie zugaloppierte.

Noch mehr Neuigkeiten, dachte Avalon, und ein Gefühl von Angst stieg in ihr auf. Was, wenn es die Gesandten waren, die schon so bald mit Nachrichten über ihre Verlobung zurückkehrten? Was, wenn Bryce gewonnen hatte? Und man ihr befahl, Warner zu heiraten?

Avalon raffte ihre Röcke und schloss sich der zusammenströmenden Menge an, die den Kundschafter begrüßte. Sie traten zurück und machten ihr Platz, um dann instinktiv den Kreis um sie zu schließen, damit sie in ihrer Mitte in Sicherheit war.

Sanft drängte Avalon sich nach vorne, um sich neben Marcus zu stellen, der ihr einen Blick zuwarf, ehe er wieder den Mann, der die Straße hochgeritten kam, ins Auge fasste.

Das Pferd schwitzte so heftig, dass es mit Schaum bedeckt war. »Ein Zug von Reitern«, rief der Kundschafter schon, ehe er sein Pferd zum Stehen gebracht hatte.

Die Menge begann zu raunen, und ein An- und Abschwellen der Stimmen war zu vernehmen.

»Wie viele?«, fragte Marcus.

Der Kundschafter schwang sich in einer einzigen fließenden Bewegung vom Pferd und klopfte es auf den Hals. Das Tier senkte den Kopf und schüttelte ihn, um die Nässe seines Felles loszuwerden.

»Nicht viele«, meldete der Kundschafter. »Ungefähr ein halbes Dutzend. Sie tragen Malcolms Banner. Und noch ein anderes. Ich kenne es nicht.«

Avalon bemühte sich um ein klares Bild, wie schon so oft zuvor. Aber die Chimäre drehte ihr ablehnend den Rücken zu.

»Welche Farben?«, hörte sie sich fragen.

Der Kundschafter schaute erst zu ihr und dann zu Marcus, der nickte.

»Grün und Weiß«, gab der Kundschafter Auskunft. »Mit einem roten Tier.«

»Ein Löwe mit einer Mohnblume?«

»Ja«, bestätigte der Kundschafter, »genau.«

»Bryce«, erklärte Avalon Marcus, und die Menge brach in Kommentare aus. Sie drängten sich nach vorn, begannen an ihren Ärmeln zu zupfen, um sie wieder in ihre Mitte zu ziehen. Versteckt die Braut! Lasst nicht zu, dass sie sie mitnehmen ...

»Wartet«, sagte Marcus und befreite sie aus der Menge. Seine Stimme hallte von den Steinen der Burg wider und gewann die Aufmerksamkeit aller. »Sechs Männer sind keine Armee. Sechs Männer kommen nicht, um die Braut zu rauben. Da geht es um etwas anderes.«

»Was könnte das sein?«, fragte eine der Frauen.

»Ein Erlass!«, rief irgendeiner.

»Sie waren im Tal von Kale, als ich zurückritt. Bald werden sie hier sein«, meinte der Kundschafter.

»Bringen wir die Braut in die Burg«, schlug ein Mann vor und viele stimmten ihm zu.

»Ich werde nicht gehen!«, übertönte Avalon sie.

Alle verstummten und schauten sie an.

»Ich habe gesagt, dass ich auf Sauveur bleibe, mein Ehrenwort«, erklärte sie jetzt ruhiger. »Und hier möchte ich der Gruppe gegenübertreten.«

Marcus stand neben ihr. Hoch gewachsen und jeder Zoll unbestreitbar der Laird. »Ja, sie bleibt«, unterstützte er sie. »Sie hat ein Recht zu erfahren, was gesprochen wird.«

Der Reiterzug tauchte nun am Fuße der sich windenden Straße auf. Es gab nur ein Fuhrwerk, das von vier Pferden gezogen und von vier Reitern flankiert wurde. Zwei hielten Banner in der Hand.

Das Wappen der d’Farouches prangte auf der Seite des Fuhrwerks. Mit immer schwerer werdendem Herzen beobachtete Avalon ihren Vormarsch auf den Hügel.

Auf diesem einen Fuhrwerk konnten sich unmöglich all ihre Truhen befinden. Nicht einmal ein Drittel passte darauf. Nicht ein Viertel.

Die Pferde keuchten zum Tor von Sauveur hinauf. Malcolms Männer ritten an der Spitze.

»Wer von Euch ist der Kincardine?«, rief der Anführer, ein grauhaariger Krieger im Tartan eines Clans, den Avalon nicht kannte.

»Der bin ich!« Marcus trat vor.

»Laird Kincardine!« Der Recke blickte von seinem Pferd herab. »Ich überbringe Euch die Grüße unseres Königs. Malcolm trug mir auf, Euch mitzuteilen, dass die Sache noch nicht verloren ist und dass die Frau Euch gehören wird!«

Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch die Menge. Der Mann stieg ab und Malcolms drei andere Gefolgsleute folgten seinem Beispiel. Die zwei auf dem Fuhrwerk, die beide Bryce’ Farben trugen, blieben missmutig auf ihrem Platz.

Der Schotte, der gesprochen hatte, trat näher. »Ich bin Gawain MacAlister, Hauptmann der königlichen Wache Seiner Majestät. Malcolm schickt mich, um Euch zu versichern, dass er sich für Euren Anspruch einsetzen wird.«

»Ich bin dankbar«, entgegnete Marcus. »Und neugierig. Was bringt Ihr uns aus Trayleigh?«

Gawain sah ihn überrascht an. »Aber das sind doch die Kleider der Lady, Laird. So, wie sie es gewünscht hat. Wenn ich das richtig verstanden habe.«

Avalon ging zum Fuhrwerk hinüber. Sie kannte die beiden Fuhrknechte nicht. Aber das war ohnehin besser, in Anbetracht dessen, was sie vorhatte.

»Bitte, ladet sie hier ab«, befahl sie und deutete auf einen Flecken Gras im Burghof.

Die Männer schauten einander an und dann wieder zu ihr.

»Worauf wartet ihr noch?«, knurrte einer von Malcolms Mannen. »Entladet das Fuhrwerk für Mylady!«

Grummelnd standen die Männer auf und begannen, das Wappentuch zurückzuschlagen.

Sieben Truhen, mehr nicht. Avalon konnte nicht sagen, ob die Allerwichtigste dabei war. Sie konnte sich nicht einmal mehr genau erinnern, wie sie aussahen. Eigentlich hatte sie nur noch ihren damaligen Standort in Luedellas Zimmer im Gedächtnis.

»Tragt sie rein«, befahl Marcus mit abgehackter Stimme.

»Nein.« Sie schaute rasch auf. Zwei seiner Verwandten und Malcolms Wächter standen neben ihm. »Ich werde sie hier öffnen, Mylord.«

»Hier?«

»Jawohl.«

Ihrer beider Willen prallten aufeinander, und die Zuschauer hielten den Atem an. Er, der Laird, war wieder kühl und sah sie nur mit versteinertem Gesicht an. Ganz offensichtlich missfiel ihm die Situation. Die Chimäre rührte sich und schlug mit dem Schwanz.

Nicht genug.

Avalon wandte ihm und den anderen den Rücken zu. Zur Hölle mit dem, was sie von ihr dachten! Sie war ihr eigener Herr, trotz ihrer prekären Lage, und sie würde tun, was sie wollte. Bryce’ Männer wuchteten die erste Truhe vom Fuhrwerk und trugen sie zu der Stelle, auf die sie deutete.

Einen langen Moment sah es so aus, als ob die Menge den Weg nicht freigeben würde. Keiner der Schotten rührte sich von der Stelle. Sie starrten nur auf die beiden Fuhrknechte, die die schwere Kiste trugen. Eine menschliche Mauer, die ihnen den Weg versperrte.

Avalon fuhr herum, um der Menge ins Gesicht zu schauen. Sie begegnete jedem Blick mit kühler Autorität, und die Leute konnten dem nichts entgegensetzen. Langsam öffnete sich ein Spalt in der Mauer. Avalon zeigte in die Mitte des Burghofes.

»Dort«, sagte sie, und Bryce’ Männer warfen die Truhe förmlich ins Gras.

»Der Schlüssel!« Sie streckte ihre Hand aus, ehe sie sich entfernen konnten.

Einer von ihnen kramte im riesigen Gürtel an seiner Taille und zog einen kleinen Ring mit dem verzierten Messingschlüssel hervor, den sie noch in Erinnerung hatte. Kommentarlos reichte er ihr den; dann gingen die beiden zurück zum Fuhrwerk, um die nächste Truhe zu holen. Diesmal stellte sich ihnen keiner aus dem Clan entgegen. Sie hatten sich alle umgedreht, um Avalon zu beobachten.

Einen schönen Narren würde sie aus sich machen, falls die richtige Truhe nicht dabei sein sollte, dachte sie bei sich, als sie sich am Schloss der ersten zu schaffen machte und es zuletzt entfernte.

Sie hob den Deckel; die Menge trat insgesamt einen Schritt vor und verrenkte sich fast die Hälse, um einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Marcus, der Zauberer und Malcolms Soldaten stellten sich in die erste Reihe, aber keiner von ihnen kam sehr nah heran.

Ja, das waren ihre Kleidungsstücke. Ihre Bliauds aus Gatting. In allen nur vorstellbaren Farben, fein bestickt und an sich bereits ein Vermögen wert – aber nicht das, wonach sie eigentlich suchte.

Diese Truhe war es nicht. Sie hatte darauf geachtet, ihre Münzen und Juwelen nur in ihre unauffälligsten und praktischsten Kleidungsstücke einzunähen; denn sie wusste ja nicht, wie das Wetter sein würde, wenn sie floh, noch, in welcher Situation sie sich hinterher befinden würde.

Und tatsächlich waren die weiter unten liegenden Kleidungsstücke, die Bryce ihr geschickt hatte, schlichter gehalten. Die ausgefalleneren Stücke hatte er wohl für eigene Zwecke zurückbehalten oder für ihre Rückkehr aufbewahrt. Doch trotzdem war es die falsche Truhe. Avalon hatte jene besonderen Bliauds und den Umhang obenauf gelegt, damit sie im entsprechenden Augenblick griffbereit waren.

Doch um sicher zu sein, packte sie mehrere Stücke aus und warf sie zur Seite, sodass sie über die Wände der Truhe hingen. Dann wühlte sie sich durch den Rest bis auf den Boden durch.

Bryce’ Männer brachten die nächste, als sie fertig war. Neugierig sahen sie sie an, hielten jedoch nicht inne und gingen zum Fuhrwerk zurück.

Sie fand den Schlüssel zur zweiten Truhe und öffnete sie. Wieder eine Enttäuschung. Dies waren die falschen Bliauds, die falschen Unterkleider.

Auch die nächsten vier Truhen öffnete sie geschwind, von denen keine die richtige war. Mittlerweile wuchs in ihr der Unwille und sie warf die Kleidungsstücke wahllos durcheinander. Zumindest bei den Frauen konnte sie spüren, dass sie damit einige Besorgnis hervorrief. Sie fragte sich, warum die Chimäre ihr nicht sagte, ob die richtige Truhe überhaupt dabei war. Hatte sie sie übersehen? Konnte es möglich sein, dass sie sich hinsichtlich der Gewänder, in die sie ihre Schätze eingenäht hatte, irrte? Nein, nein, denn sie hatte persönlich Stunden damit zugebracht und wusste genau, welche sie ausgewählt, bestückt, wieder zusammengenäht hatte. Das schlichte Grüne aus Wolle, das Dunkelblaue aus Leinen, noch ein Wollenes, ein Taubengraues ...

Die Männer setzten die letzte Truhe ab und traten dann zurück, wobei sie sie wie alle anderen eingehend beobachteten. Avalon konnte die sich mehrenden Zweifel um sich her spüren: Was tat sie da? Warum verhielt sie sich so merkwürdig? War sie nicht ganz bei sich, hatte sie Fieber?

Avalon ließ von der Truhe ab, die sie gerade durchwühlt hatte, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Welch dummes Risiko war sie eingegangen, wie naiv von ihr, dass Bryce sich ihren sorgfältig verheimlichten Plänen beugen und die Truhe schicken würde, um die sie gebeten hatte ...

Die letzte war es. Als sie sie öffnete, sah sie als Erstes das taubengraue Bliaud – haltbar und schlicht, aus fein gewebtem Stoff, der kunstvoll seinen wahren Inhalt verschleierte.

Mit einem Freudenschrei riss sie das Kleidungsstück aus der Truhe und hielt es hoch. Verblüfft schauten die Leute zu, als sie herumwirbelte und zu Marcus trat, der mit verschränkten Armen dastand.

»Euer Dolch, bitte«, forderte sie.

Seine Gedanken waren ihr verschlossen. Sein Gesicht trug jenen harten, unpersönlichen Ausdruck, der bedeutete, dass er mit heftigen Emotionen zu kämpfen hatte. Aber bei ihrer Bitte nickte er, zog seinen Dolch und reichte ihn ihr, mit dem Heft voran.

Balthazar, der daneben stand, nickte ihr anerkennend zu.

Avalon ging zu den Truhen zurück und drehte sich dann um, um den verwirrten Männern und Frauen in die Augen zu sehen.

»Clan Kincardine«, rief sie und hob ihre Stimme, damit alle sie hörten. »Ich bringe euch eure wahre Rettung!«

Sie hob den Saum des Gewandes, nahm den Dolch und begann, die Naht aufzutrennen. Die Klinge war scharf und hatte genau die richtige Größe; so schaffte sie es schnell. Sie hielt das Gewand hoch und schüttelte seinen Inhalt ins Gras.

Eine Flut von Edelsteinen, Broschen und Ohrringen, Ringen und Anhängern ergoss sich mit weichem Klang auf den Boden. Perlen und Saphire, Smaragde, Rubine und Gold, Topase, Aquamarine und Amethyste – sie alle stammten von Gwynth, gehörten deshalb allein Avalon, die damit tun konnte, was sie wollte.

Nach einigem Ächzen und Stöhnen sagte niemand mehr ein Wort.

»Hier!« Avalon bückte sich und hob eine Brosche mit zwei großen, perfekt geformten Perlen hoch, von denen eine weiß und die andere schwarz war. Sie hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Dann entdeckte sie einen Ring mit einem rund geschliffenen Smaragd. Ein helles Feuer schien in ihm eingeschlossen – ein Drachenauge in Gold gefasst. »Und hier!«

Sie schaute sich um und blickte in ihre erstaunten Gesichter; Marcus’ versteinertes Antlitz, während Balthazar und Gawain MacAlister sie offen anlächelten. Avalon ging zum Zauberer und reichte ihm Brosche und Ring, wohl wissend, dass Marcus ihr Geschenk nicht annehmen würde.

Wieder bei den Truhen, zerrte sie das dunkelblaue Kleid hervor, trennte es auf und noch mehr Perlen kullerten heraus. Zahllose Stränge aus weißen, schwarzen, cremefarbenen, rosafarbenen und sogar aus seltenen blauen Perlen wurden sichtbar. Alle starrten sie überwältigt an. Keiner rührte sich.

»Hier«, rief sie wieder, doch jetzt schon etwas ruhiger. Sie wies auf den Boden zu ihren Füßen. Ein wahrer Schatz türmte sich dort auf, und die Edelsteine fingen das Sonnenlicht ein, das Gold glänzte hell und die Perlen wirkten wie einzelne Glückstränen im Gras.

»Das ist für Euch«, sprach sie und schaute Marcus nunmehr direkt an. »Für Getreide und Lachs! Für die Stallungen und die zusammengebrochenen Mauern und noch mehr Webrahmen!«

Ein Summen rauschte durch die Menge, gewann an Kraft und wurde zu einem lauten Schrei der Freude. Männer und Frauen warfen die Arme in die Luft, umarmten einander und ließen sie und ihre Gaben hochleben – eine weitere Prophezeiung des Fluches hatte sich erfüllt!

»Nein ...«, wehrte Avalon ab, aber man hörte sie nicht. Dies war nicht die Prophezeiung! Dies war eine Tatsache, ein Vermögen aus echten Dingen – kein Mythos!

Die Luft um sie her vibrierte vor Emotionen. Ein Freudentaumel hatte alle erfasst. Die Braut war gekommen und hatte ihren Reichtum mitgebracht. Sie beendete damit ihre Tage der Not und allen auf Sauveur würde es wieder gut gehen!

Einige stolperten auf sie zu, knieten vor ihr nieder und küssten den Saum ihrer Röcke. Die Frauen schluchzten, und Avalon zog sie eilig wieder hoch, damit sie nicht mehr zu ihren Füßen kauerten.

»Nein, nein«, versuchte sie ihnen zu erklären. »Das hat nichts mit dem Fluch zu tun. Gar nichts!«

Doch sie schenkten ihrem Protest keine Beachtung, sondern reichten einander mit zitternden Händen die Juwelen, trugen sie zu Marcus und boten sie ihm dar. Er wandte seinen unverwandten Blick von Avalon ab, um den Kopf ablehnend zu schütteln. Aber dann musste er nachgeben, weil sie ihn drängten, alles zu nehmen, die Ringe, die Perlenketten, die Broschen. Immer mehr Gold und Juwelen lagen schwer auf seinen Händen, und immer schien es ihm nicht genug zu sein.

Zustimmend nickte die Chimäre.

Das war es nicht, was Avalon gewollt hatte. Sie hatte der Legende keinen Vorschub leisten, sondern sie zum Schweigen bringen wollen; diese Menschen sollten begreifen, dass sie nicht irgendwelche Legenden brauchten, sondern harte Fakten. Doch sie hatten ihre Vorstellungen genommen und diese um ihre Fabel gehüllt – womit sie Avalon so schnell und rücksichtslos erledigten, wie Ian es für gewöhnlich getan hatte, der sie immer wieder zu Boden zu schlagen pflegte, bis sie sich wand.

Die junge Herrin presste die Hände an die Wangen und schaute zu Marcus zurück. Endlich lächelte er, denn jetzt kannte er ihre Gedanken und sah, wie die Legende in diesem Moment ihre Wurzeln noch tiefer grub.

Sie trat durch die Menge, nahm das dritte Kleid, den Umhang mit den Münzen und legte beides über ihren Arm. Marcus behielt sein Lächeln bei, als sie sich näherte. Er gab ein erstaunliches Bild ab. Seine maskuline Ausstrahlung wurde verstärkt von dem Gold und glitzerte in den Juwelen, die er hielt. Er sah jetzt wirklich wie ein himmlisches Wesen aus, das nur für einen Augenblick auf die Erde herabstieg – gerade lang genug, um die Schätze des Paradieses unter den Sterblichen zu verteilen.

Avalon blieb vor ihm stehen und hielt seinem Blick stand, ohne ihre Niederlage einzugestehen. »Hier ist noch mehr«, sagte sie und warf ihm das Kleid und den Umhang vor die Füße. Dann legte sie den Dolch obendrauf.

Nicht genug!, lachte die Chimäre.

Marcus’ Lächeln wurde noch breiter, als hätte er die Worte der Chimäre gehört – genau wie sie.

»Ein schöner Anfang«, meinte er, »von unserer Braut!«

In der Wirtschaftskammer war niemand. Avalon nahm an, dass sie immer noch verblüfft im Hof standen, Loblieder auf ihre absurde Legende sangen, während Marcus, der Laird, einfach nur unter der Last der goldenen Reichtümer und ihren bewundernden Blicken dastand.

Lass ihn doch ihr Retter sein, dachte Avalon bitter. Er hing demselben Aberglauben an, war davon wie alle anderen durchdrungen und kaum vernünftiger als das einfache Volk.

Sie fand eine Ecke Käse und einen Kanten Brot. Das reichte für den Augenblick. Avalon steckte die Lebensmittel ein und begab sich zu der Ruine, die einst wohl das Torhaus gewesen war. Doch jetzt überwucherten sie Disteln und Gras, und Schwärme von kleinen Vögeln nisteten in den Überresten des Daches. Sie begrüßten sie mit trillernden Rufen.

Ein rechteckig geschnittener Stein, der schon vor langer Zeit heruntergefallen war, gab einen bequemen Platz ab, als sie sich setzte und anfing zu essen.

Ihre Schulter schmerzte täglich weniger. Trotz der heutigen Übungen war sie kaum noch steif, und ihre Rippen brauchte sie auch nicht mehr mit einem Verband zu versehen. Bald schon würde sie wieder ganz gesund sein, und wenn die Gesandten zurückkehrten, hätte sie keinen Vorwand mehr, noch länger zu bleiben.

Was sollte sie bloß tun? Avalon seufzte. Ihr Leben, das einst so seltsam, doch klar vorgezeichnet schien, wirkte nun verschwommen wie ein Nebel. Es gab kein Richtig oder Falsch mehr, und das störte sie sehr. Außerdem war jetzt noch die wachsende Anziehungskraft hinzugekommen, die der Laird der Kincardines auf sie ausübte. Und was zuvor nur verschwommen gewesen war, wurde nun undurchdringlich.

Anziehungskraft bedeutete gar nichts, schimpfte Avalon mit sich selbst. Anziehungskraft war nur eine listenreiche Ablenkung, und wenn sie es zuließ, würde sie für den Rest ihres Lebens in dieser Falle verbringen. Und das war es doch nicht, was sie wollte, oder?

Natürlich nicht! Wenn sie hier bliebe, würden ihrer Freiheit bis in alle Ewigkeit Fesseln auferlegt sein, und der Aberglauben würde sie vollständig vereinnahmen. Aus der Hölle würde Hanochs Lachen zu vernehmen sein, bis zu dem Tag, an dem sie sich, vom Wust der Legende erstickt, zu ihm gesellte. Das wäre das Ende, das er für sie vorgesehen hatte – ein Wesen ohne Identität außer der, die ihr eine lächerliche Fabel zugestand. Ihre gesamte Existenz würde sich in ein krankes Zerrbild verwandeln.

Und wenn sie blieb, hätte sie vielleicht auch nie mehr die Gelegenheit, Bryce für das, was er auf dem Gewissen hatte – ein sehr reales Verbrechen, keine Ausgeburt der Fantasie –, bezahlen zu lassen. Wenn Marcus herausfand, dass Bryce die Pikten gekauft hatte, würde er ihr nicht erlauben, Rache zu nehmen. Er würde es zu seiner eigenen Sache machen. Doch dies war ihre Mission, nicht seine!

Sie musste fort. Dann würde sie allerdings Marcus Kincardine nie wieder sehen. Aus irgendeinem verborgenen Grund erfüllte sie der bloße Gedanke mit Verzweiflung.

Einer der Vögel kam mit kurzen, nervösen Hüpfern näher. Er neigte den Kopf zur Seite, hatte ein kurzes gelbes Schwänzchen und schaute sie aus schwarzen Äuglein an.

Avalon brach ein Stück von ihrem Brot ab und warf es dem Vogel zu. Ängstlich hüpfte er weg, hielt dann inne und machte plötzlich wieder einen Satz nach vorn.

»Ich tue dir nichts«, erklärte sie dem Piepmatz, während sie sich ganz still verhielt. »Na, mach schon, der Krümel gehört dir.«

Der Vogel hüpfte vor und pickte den Krümel auf, um dann davonzuflattern.

»Aha, die Leute reichen Euch also nicht, Mylady. Ihr denkt sogar daran, die Tiere auf Sauveur zu füttern!«

Als ob ihn das Bild von ihm in ihrem Kopf herbeigerufen hätte, stand Marcus plötzlich da. Er füllte den Eingang zu dem runden Raum und warf einen riesigen Schatten über die Disteln, Steine und das Gras bis in ihren Schoß. Die Vögel verstummten, um dann in einem Schwarm gen Himmel zu flüchten.

»Solltet Ihr Euch nicht in Eurem Glück sonnen?«, erwiderte Avalon und nahm dann einen Bissen vom Käse.

»Geht einfach davon aus, dass ich das schon getan habe!«

Durch die Disteln stapfte er auf sie zu, wobei er vorsichtig den Stacheln des Krauts auswich. »Ich habe eine interessante Methode entdeckt, Euch ausfindig zu machen, Avalon. Erst überlege ich mir, welches wohl der verlassenste Ort ist, und da seid Ihr dann.«

»Wie bequem für Euch«, meinte sie matt.

»Ja, tatsächlich. Es ist ein großer Trost für mich zu wissen, wo Ihr Euch versteckt.«

Er suchte sich einen Brocken wie ihren aus, der auch einfach von oben heruntergefallen war und jetzt vom Gras eingerahmt wurde. Dadurch saß er ihr gegenüber, und ein rechteckiges Fenster lag genau zu seiner Linken. Es rahmte die bunten Hügel und einen sich durch das Tal schlängelnden Fluss ein, der in einen kleinen runden Hochlandsee mündete.

Sie versuchte weiterzuessen, indem sie ihn nicht weiter beachtete; aber er machte das völlig unmöglich, obwohl er sich ruhig verhielt. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit seinen scharfen Winteraugen, saß da und grübelte. Wieder hatte sie das Gefühl, als taste er ihr Herz, ihre innersten Gedanken ab.

»Gibt es etwas, was Ihr von mir wollt, Mylord?«, fragte Avalon endlich nachgiebig und packte ihr Essen beiseite.

Die Veränderung in ihm kam schnell und deutlich. Seine Augen verdunkelten sich, und um seine Lippen zuckte es.

»Oh, sicher«, erwiderte er.

Es bestand kein Zweifel, was er meinte. Sie musste nach unten ins Gras schauen, um ihre Reaktion, die heiße Röte in ihren Wangen, den Drang, sich in seine Arme zu werfen, zu verbergen.

»Ich frage mich, was Ihr jetzt mit all den Kleidern machen wollt, Avalon?« In seiner Stimme schwang immer noch der sinnliche Unterton mit. »Wollt Ihr sie statt des Tartans tragen?«

Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Als sie den Gesandten gesagt hatte, dass sie auch einmal etwas anderes als diese Wolldecke tragen wolle, waren das nur Worte für sie gewesen. Ein wenig Koketterie, um sie dazu zu bringen, dass man ihr die Truhen schickte. Aber jetzt erkannte Avalon, dass die Ankunft ihrer Kleider auch als Ablehnung der Kincardines angesehen werden könnte. Und das wollte sie auf keinen Fall.

Lächerlich, schimpfte eine innere Stimme. Lass dir von niemandem sagen, wie du dich anziehen sollst! Du bist doch keine Magd!

Doch dann hörte sie sich selbst sagen: »Nehmt die Sachen.

Verkauft sie. Man wird ein hübsches Sümmchen dafür bekommen.«

Bei ihren Worten hob er eine Braue und lehnte sich auf dem Stein zurück, während er ein Knie mit beiden Händen umfasste. »So sehr mir die Vorstellung auch gefällt, dass sie verschwinden, so würde ich doch niemals Eure Kleider verkaufen.«

Avalon presste die Lippen zusammen, entschlossen, die Zweideutigkeit seiner Worte zu ignorieren. »Warum nicht? Ich habe noch andere.«

»Alles in allem sieht es nicht so aus, als müsste ich das tun. Ihr habt genug Rubine und Perlen gestiftet.«

Sie zuckte die Schultern, während sie hinaus auf den Fluss und den silberschwarzen See spähte.

»War das der Grund, weshalb Ihr Euch die Truhen habt herkommen lassen?«

»Natürlich«, fuhr sie ihn an. »Ich konnte Bryce ja wohl kaum darum bitten, mir meine Juwelen zu schicken, weil ich sie verschenken wollte.«

Schweigend dachte er darüber nach, während er sie weiter unverwandt anschaute. Nach einer Weile empfand sie das als entnervend, also stand sie auf und strich sich die Krümel vom Schoß. Dann ging sie um die Steine herum an ihm vorbei zum Fenster mit dem Ausblick. Von hinten ertönte Marcus’ Stimme.

»Jetzt muss ich also darüber nachdenken, was meine Braut als Nächstes tun wird. Ihr denkt, Ihr habt den Clan gerettet, nicht wahr? Ihr dachtet, mit diesen Juwelen könntet Ihr Eure Verpflichtungen gegenüber Sauveur tilgen – und gehen.«

Mehr oder weniger hatte sie das gedacht, und jetzt fragte sie sich, warum es sich jetzt nicht so wunderbar anfühlte, wie es eigentlich sollte. Und wer war er überhaupt, dass er ihre Anstrengungen herabsetzte? Warum entlarvte er mit diesem leicht spöttischen Ton ihre Hintergedanken, wenn sie doch in erster Linie nur ihm und seinen Leuten helfen wollte?

»Die bevorstehende kalte Jahreszeit wird jetzt nicht so hart sein, das könnt Ihr nicht leugnen«, erklärte sie. »Im Frühling werdet Ihr neues Saatgut und neues Vieh haben. Mir ist nicht klar, wofür Ihr mich eigentlich noch brauchen solltet.«

»Euch ist nicht klar, wofür ich Euch benötige? Das kann ich mir kaum vorstellen.«

Angesichts ihres Fehlers biss sie sich auf die Lippe, doch er fuhr fort.

»Ich glaube, Ihr seht alles sehr klar, Avalon. Ihr seht, wie sehr Euch die Leute brauchen, einschließlich meiner Wenigkeit.«

Sie drehte sich um. »Was ich sehe, ist, dass Ihr jetzt die Mittel habt, um die Not zu lindern. Mit etwas umsichtiger Verwaltung wird es Eurem Clan in den kommenden Jahren immer besser gehen. Das ist mein Geschenk an Euch, und Ihr solltet es nicht verachten.«

Ein wenig zu nah, ein wenig zu schnell stand er mit seiner geschmeidigen Gewandtheit überraschend hinter ihr. »Ich habe nicht gesagt, dass ich es verachte.«

»Hervorragend. Dann gibt es ja nichts weiter zu bereden.«

Der durchdringende winterliche Glanz seiner Augen verflüchtigte sich nicht. »Wollt Ihr Euch jetzt auf die Suche nach einem Kloster machen?«

Sie wollte nicht. Avalon wusste es sofort, sobald er es ausgesprochen hatte, dass die Aussicht, in ein Kloster einzutreten, jetzt nur noch eine langweilige und trostlose Zukunft verhieß. Endlose Tage, gefüllt mit endlosen, immer gleichen Verrichtungen, Einsamkeit, Erinnerungen, stoischen Frauen und das für den Rest ihres Lebens. Früher hatte es erträglich geschienen; irgendwann einmal sah es wie eine willkommene Zuflucht nach den Wirren in London aus.

Aber heute war das anders. Heute stand dieser Mann vor ihr – so groß und selbstsicher, so gut aussehend, dass sie sogar jetzt wegschauen musste, ehe sie wieder errötete –, da fand sie den Gedanken an ein Kloster fast noch schlimmer als alles andere. Und doch hatte sie keine Wahl.

»Es gibt nichts, was mich daran hindern wird zu gehen«, erklärte sie und versuchte, die Worte für sich selbst und ihn überzeugend klingen zu lassen. »In einem Kloster werde ich vielleicht meinen Frieden finden.«

»Oh«, meinte er leise. »Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt.«

Er brauchte sich nur ein wenig nach vorn zu beugen, um sie zu küssen, so nah war er ihr schon, und für sie gab es kein Entrinnen. Seine Berührung war leicht, doch fordernd. Er erforschte den Schwung ihrer Lippen und ihre Weichheit. Avalon holte tief Luft, doch er nahm ihr den Atem wieder. Seine Hände lagen jetzt fest auf ihr und zogen sie an sich.

Leidenschaft flammte auf und erfasste sie, sodass sie ihre Arme um seine Schultern schlang. Sie sank an seinen festen Körper, verschmolz förmlich mit ihm wie er mit ihr, während er sie an sich presste. Seine Hand umfasste ihren Nacken, seine Finger streichelten ihre Wangen und glitten über ihren wundervoll gebogenen Hals zu ihren Schultern.

Sie war verloren, hoffnungslos verloren; aber es kümmerte sie nicht, so lange Marcus sie nur hielt und so wie jetzt, so hart und rücksichtslos, irgendwie tiefer und wilder als zuvor, küsste.

»Avalon«, hauchte er gegen ihre Kehle und drückte einen Kuss auf ihre Haut. »Ich will mich nicht mit dir streiten.«

Er hatte den Sieg schon errungen, erkannte sie; denn sie war nicht in der Lage, ihn aufzuhalten. Sie konnte ihn nicht daran hindern, sie zu küssen, schaffte es nicht, sich vor dem Gefühl seines Körpers, der straffen Muskeln und Sehnen, die sich an sie pressten, zu verschließen. Und dann lag sein Honigmund wieder auf ihrem und betäubte sie, bis sie seinen Kuss erwiderte.

»Bitte«, keuchte sie mit letzter Anstrengung, und die Rauheit seiner Wange bereitete ihr ein schmerzhaftes Vergnügen. »Geht!«

»Ich kann nicht.« Er ließ einen Arm nach unten gleiten. »Ich kann nicht.«

Mit seinem Körper drängte Marcus sie nach unten und ließ sie sanft auf den Boden gleiten, wobei er seine Umarmung keinen Moment lockerte, bis sie flach im Gras lag und der Himmel ein blendend blauer Ring war inmitten von verwittertem Gestein.

Sein Gewicht traf sie irgendwie unerwartet und ein wenig Furcht einflößend. Zwar erdrückte er sie nicht, hielt sie aber von allen Seiten umfangen. Sein straffer Körper drängte sich an sie, sein Bein lag zwischen ihren, sein Schenkel presste sich gegen eine Stelle, die sie mit heißem Verlangen erfüllte.

Sie drehte den Kopf zur Seite, doch er folgte ihr erbarmungslos, während er sie mit seinem Mund süßen Folterqualen unterwarf. Er hauchte ihren Namen an ihrer Wange bis hinunter zu ihrem Ohr und wieder zurück. Da war ein Rhythmus, der sie gegen ihren Willen gefangen nahm. Er erblühte an jeder Stelle, wo er sie berührte. Er machte sie atemlos, und Marcus begann, diesen Rhythmus aufzunehmen, indem er ihren Bewegungen folgte, während sich etwas Hartes, glühend Heißes gegen ihr Bein presste. Er bewegte sich auf ihr nach unten. Seine Hände lagen jetzt auf ihren Brüsten und strichen über sie hinweg, sodass sie sich ihm noch mehr entgegenwölbte.

Mittlerweile war seine Hand weiter nach unten vorgedrungen. Er fand ihre Röcke und zerrte sie zur Seite, bis er ihre nackte Haut streicheln konnte. Benommen, aber nach mehr verlangend, suchte sie wieder seinen Körper. Sie sehnte sich nach seiner Berührung. Seine Finger fanden die Stelle, gegen die sich zuvor sein Schenkel gepresst hatte. Er fand das Zentrum ihrer Weiblichkeit, und Avalon stieß einen überraschten Schrei aus, den er mit seinen Lippen erstickte, als er sie dort zu streicheln begann.

Der Honig war jetzt in ihr. Er überwältigte sie mit seiner geschmolzenen Flamme und erfüllte ihren ganzen Körper – das wusste er. Sie spürte es in seinem wilden Lächeln und seinen jetzt noch drängenderen Küssen.

»Bleibt bei mir«, bat er, während er sie sich unterwarf, und sie konnte nur die Augen schließen und den Kopf schütteln. Der Honig machte sie stumm.

»Ihr wollt es!« Er ließ einen Finger in sie hineingleiten, und sie stieß ein ersticktes Schluchzen aus, während sie sich noch enger an ihn presste.

»Ja, das ist so«, murmelte er, »Treulieb.«

Alles zog sich in ihr zusammen und drängte nach oben, zersprang in einem Ausbruch sich zusammenziehenden Verlangens. Der Sturm ließ sie schwach und erschöpft zurück ins Gras sinken.

Der kreisförmige Ausschnitt des Himmels über ihr brannte ihr jetzt in den Augen. Sie musste sie schließen, um dem Licht auszuweichen, um sich vor seiner Durchdringung zu verstecken.

Marcus’ Hand griff nach oben und zog ihre Röcke wieder zurecht. »Ihr werdet bleiben!« Er küsste ihre Lippen. Diesmal war es nur eine ganz sanfte Berührung. »Weil Ihr hierher gehört, hierher zu mir!«

Ich liebe dich. Der Gedanke schoss durch ihren Kopf. Und Avalon wusste nicht, ob er von ihr oder ihm oder dem Wind kam oder ob es einfach nur ein Widerhall der Chimäre war.

Marcus zog sie hoch, strich Gräser und Blätter ab, die an ihr hingen, und drehte sie dabei herum, wie er es wohl bei einem Kind getan hätte, bis sie wieder ordentlich aussah. Nur der sanfte Schimmer ihrer Haut verriet, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Er strich ihr Haar zurück. Sie spürte seine Finger, die mit langsamen und sorgfältigen Bewegungen einen Zopf zustande brachten.

Als er fertig war, schaute sie zu ihm auf und er zu ihr hinab – es lag fast so etwas wie Schmerz in seinen Augen.

»Es ist Zeit fürs Abendessen«, sagte er ruhig. Dann nahm er ihren Arm und führte sie zurück auf die Burg.

Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft

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