Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 7

Prolog London, England, August 1159

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»Wahnsinn.« Der Höfling im großen Saal des königlichen Palastes betonte das Wort genussvoll und zog dabei jede Silbe in die Länge. »Er liegt mütterlicherseits in der Familie, habe ich gehört. Aus der schottischen Linie.«

Lady Avalon d’Farouche hörte die getuschelten Worte der Unterhaltung, die erstarb, als sie sich näherte. Sie warf den drei jungen Männern ein gedehntes Lächeln zu, die sich daraufhin vor ihr verbeugten, aber ihrem Blick auswichen. Mit voller Absicht blieb sie dicht bei ihnen stehen und gab vor, irgendeinen Faden von ihrem Kleid zu streifen. Allen dreien stieg die Röte ins Gesicht, als sie verweilte. Ziemlich betreten schauten sie dann schließlich zu.

Wieder schenkte sie ihnen ein Lächeln, dessen Kälte nicht zu übersehen war, während ihr eisiger Blick auf ihnen ruhte. Das erlaubte sie sich fast nie – es würde nur die Gerüchte mehren –, doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.

Den dritten Mann kannte sie nicht, aber zwei von diesem Trio spionierten ihr nach, seit ihrem Debüt bei Hofe vor eineinhalb Jahren. Sie jagten ihr ganz offen hinterher, obwohl ihre Verlobung allgemein bekannt war. Anfangs hatten sie ihr den Hof gemacht; doch als sie sie freundlich, aber bestimmt zurückwies, begannen sie, ihrer Unzufriedenheit Luft zu machen, und nährten gemeinsam die Saat des Klatsches, bis er voll erblühte ...

Avalon d’Farouche of Trayleigh sei kalt, ja unmenschlich. Sie würde sich für etwas Besseres halten. An ihr hafte der Makel schottischen Blutes und barbarischer Rituale. Ihr Herz bestünde nur aus Splittern schwarzen Eises.

Wie wenig sie sie doch kannten!

Aber es war nicht viel Anstoß nötig, um die Gerüchte zum Brodeln zu bringen. Sie waren verletzend und lächerlich, aber die Menschen hatten sie begierig aufgegriffen, wie immer, wenn es um einen Skandal ging. Unter all dem lag ihr wahres Problem verborgen: Avalon passte einfach nicht an den Hof von König Henry, und sie wusste das sehr wohl, übrigens jeder andere auch.

Jetzt schaute sie dem Mann, der gesprochen hatte, direkt in die Augen. Unter ihrem musternden Blick vertiefte sich seine Röte sogar noch.

»Nicholas Latimer – wie ist Euer Befinden, lieber Lord?«

»Sehr gut, Mylady«, erwiderte er. Ein schmaler Schweißfilm bildete sich über seiner Oberlippe. Avalon heftete ihren Blick darauf und versank in Nachdenken.

Angst. Albtraum, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie stammte von einem Wesen, das nur sie zu hören vermochte.

»Wie erleichtert ich bin, das zu hören!« Ihre Worte klangen freundlich und sanft und gaben keinen Hinweis auf etwaige Hintergedanken. »Ich hörte solch unselige Geschichten über Euren Schlaf, Mylord.«

»Meinen Schlaf?«

»Oh ja. Einige der Damen sind ziemlich beunruhigt.« Sie warf den Herren daneben einen kurzen Blick zu. Beide verschlangen sie mit ihren Augen. Dann wandte sie sich wieder Latimer zu. »Man sagt, Ihr ... träumt, Mylord.«

Latimer wurde bleich. »Wie bitte?«, fragte er. Seine Stimme war nur noch ein raues Flüstern.

Albträume, soufflierte die verschlagene Stimme.

»Ist dem nicht so, Mylord?«

»Woher ...«

Überwältigt von dem abrupten Blutverlust in seinem Kopf schien er unfähig, den Satz zu vollenden. Etwas Unaussprechliches flackerte in seinen Augen.

Forschend betrachtete Avalon den Mann, der fast zitterte – Dunkelheit, Lippen, Geschmack, Begierde, Angst –, und beschloss plötzlich, Mitleid mit ihm zu haben. »Es bedeutet nichts, war nur eine Idee«, sagte sie. »Ich wünsche Euch alles Gute, Euch allen.«

Sie sahen ihr nach, als sie sich in Bewegung setzte. Eine einsame Gestalt inmitten eines dicht bevölkerten Raumes, wie von einer unsichtbaren Mauer umgeben.

»Wie konnte sie das wissen?«, hörte sie Nicholas hinter sich fragen.

»Eine Hexe«, meinte sein Freund.

Der dritte Mann sprach mit gesenkter Stimme in ehrfurchtsvollem Ton: »Die schönste Frau, die ich je gesehen habe!«

Zerstreut nickte Avalon jenen zu, die sie begrüßten, und wiederholte seine Worte lautlos.

Eine Hexe.

Natürlich stimmte das nicht, obwohl sie wusste, dass die meisten an diesem vornehmen, intriganten Hof insgeheim vom Gegenteil überzeugt waren. Aber man musste keine Hexe sein, um die Schatten zu sehen, die ständig unter Nicholas Latimers wachen Augen lagen. Man musste keine Hexe sein, um den gehetzten Ausdruck, die wilden Visionen zu bemerken, die auch im Wachzustand in seinen Pupillen tanzten. Er hatte Albträume. Das lag auf der Hand. Jeder konnte es erkennen. Nicht nur eine Hexe.

Sie war keine Hexe. In der Tat glaubte sie nicht einmal an diese Wesen. Hexen waren ein zweckmäßiges Übel, erdacht von furchtsamen Männern, um das Unbekannte zu benennen. Hexen gab es in Wirklichkeit gar nicht. Es waren nur arme, einsame Frauen, die keine Beschützer hatten, und Avalon gehörte gewiss nicht zu ihnen.

Leider wurden Hexen öffentlich verbrannt. Es passierte dauernd.

Die weder arme noch einsame Avalon hatte jedoch einen verlässlichen Beschützer, und zwar in sich selbst.

Das war ungewöhnlich für eine Edeldame, und ihre Andersartigkeit trat hier am Hofe von König Henry deutlich zutage. Am Anfang ihres Aufenthaltes in London hatte sie angenommen, dass die Ausgrenzung, die sie erfuhr, auf ihre recht ungewöhnliche Vergangenheit zurückzuführen sei, die dem Klatsch immer wieder Gesprächsstoff lieferte. Nun, an seiner Vergangenheit konnte man nichts ändern. Dass diese Eigentümlichkeit – diese Andersartigkeit – sie schon ihr ganzes Leben lang begleitete, versuchte Avalon zu verdrängen. Es war ein schwerer Schock für sie gewesen, als sie mit sieben Jahren erkennen musste, dass nicht jeder sie gern hatte. Nicht jeder konnte die Dinge sehen, die sie sah, konnte die Dinge hören, die sie hörte. Nicht jeder schaffte es, sich in die Stimmungen von Tieren einzufühlen, sich in aufkommende stärkere Emotionen ringsum hineinziehen zu lassen.

Avalon schon.

Das war nicht immer so. Es gab lange Tage, Wochen, ja sogar einige herrliche Monate, in denen offensichtlich dieses Bewusstsein in ihr, diese schreckliche Chimäre, schlief und sie die Rolle eines normalen Mädchens spielen durfte. Avalon pflegte diese Zeitspannen wie einen Schatz zu hüten und sich nach ihnen zu sehnen. Aber irgendwann erwachte es immer wieder, öffnete sich das unbarmherzige Auge in ihr, sodass sie all das erblickte, was sie nicht sehen wollte.

Als sie das begriff, richtete sie ihr ganzes Trachten und Streben darauf, dies im Körper wie im Geist zu ändern. Mit der Zeit hatte sie sich selbst davon überzeugt, dass jene Zustände Ausgeburten ihrer Fantasie waren – vom allgegenwärtigen und bedrohlichen Aberglauben genährt, der ihre Kindheit prägte.

In ihren dunkelsten Augenblicken, in ihren Albträumen nahm die Stimme eine nebelartige Gestalt in ihrem Geist an. Ein monstergleiches Fabelwesen, ein sagenumwobenes Ding, von dem ihr Kindermädchen ihr einst erzählt hatte und das in ihrer Erinnerung hängen geblieben war. Es setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen: dem Kopf eines Löwen, dem Körper einer Ziege und dem Schwanz einer Schlange.

Eine Chimäre. Nur durch sie hauchte das Wesen seinen dunstigen Feueratem. Es besaß Augen und eine Stimme, die nur in ihr lebten. Sie empfand dieses Geheimnis als schrecklich, und wenn die Dunkelheit sich wieder in Tageslicht verwandelte, vertrieb Avalon das Bild mit aller Macht.

Chimären waren genau wie Hexen nicht real. Tatsächlich passierten ihr seltsame Dinge, ja, sogar manchmal unerklärliche. Aber sie waren alles andere als übernatürlich. Dieser Vorstellung zu erliegen würde den ganzen Irrsinn bestätigen: den irrationalen Aberglauben, den Hanoch Kincardine und seine Familie in Schottland aufrechterhalten hatten, ihr beharrliches Festhalten an einem obskuren Märchen, von dem sie angeblich ein wesentlicher Bestandteil sein sollte.

Avalon war nicht die Verkörperung der bizarren Familienlegende der Kincardines. Sie hielt das für absurd.

Doch trotz all ihrer vernünftigen Überlegungen konnte nichts sie von den merkwürdigen Visionen verschonen, die sie überkamen; niemals gelang es ihr völlig, die Chimäre abzutöten. Und deshalb hatte Avalon fast ihr ganzes Leben lang stets so getan, als gäbe es da nichts.

Hanoch hatte über ihre Anstrengungen gelacht.

»Du gehörst zum Fluch«, hatte er häufig zu ihr gesagt. »Sei dir dessen bewusst, Mädchen. Versteck ihn nicht. Er ist die einzige Stärke, die du hast.«

Doch sie wehrte sich. Erbittert kämpfte sie gegen Hanoch an, um zu beweisen, dass sie viele Stärken besaß, nicht das schwache oder zerbrechliche Mädchen war, das seine höhnischen Bemerkungen peinigten. Fast jeden Tag hatte sie sich bei kleinen und großen Dingen gegen ihn aufgelehnt. Sie hatte sich geweigert, sich der närrischen Legende des Clans zu beugen, sich gesträubt, den Unsinn, den sie ihr erzählten, zu glauben – dass sie diejenige sei, die den Fluch brechen könnte, der auf ihnen lastete.

Tief in ihrem Innern würde die Chimäre, die ihr Herz in Bann hielt, bloß spöttisch das Lachen von Hanoch erwidern.

Auf der prunkvollen Feier an König Henrys Hof stimmten die Musiker ein wehmütiges Lied an. Sie zupften zart an ihren Lauten, während der Tenor eine verlorene Liebe besang. Avalon nahm einen Kelch mit Met von einem der Diener und nippte gedankenverloren daran. Zu ihrer Linken befand sich eine Gruppe von jungen Damen ihres Alters. Sie standen dicht beieinander, bildeten einen engen Kreis und warfen ihr hochnäsige Blicke zu.

Hass, seufzte die Chimäre, jene leise Stimme. Neid!

Die Wände dieses königlichen Saals erstrahlten in den herrlichsten Farben und waren von kunstvollen Fresken mit Szenen aus Dichtung und Wahrheit bedeckt: Drachen und Greife erhoben sich über Rittern, Königen und Heiligen. Avalon begab sich in eine ruhige Ecke und gab vor, die Darstellung eines Heiligen in Krone und Ornat zu betrachten. Er war auf einem Scheiterhaufen festgebunden – und brannte.

»Schaut sie euch an ...«

Die Miene des Heiligen verriet nichts, zeigte keine Reaktion auf die Flammen oder den Rauch, der emporquoll.

»Schaut sie euch an. Flirtet mit jedem Mann, der vorübergeht. Der Aufenthalt bei Hofe sollte ihr verwehrt werden.«

»Der Aufenthalt im Königreich sollte ihr verwehrt werden.«

Die gelben Flammen sahen spitz und scharf aus. Unbarmherzig züngelten sie wie Schmerz bringende Lichtklingen aus dem Holzhaufen. Zweifellos eine strahlende Erlösung für den Heiligen, der zumindest nie die Qual erleben musste, der berüchtigtste Gast einer Gesellschaft bei Hofe zu sein.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass der Kreis der jungen Damen kühner wurde. Der Ton, in dem sie mittlerweile ihren Namen hervorstießen, war nicht mehr sanftmütig zu nennen, und sie schienen sich gleichsam wie ein Wesen zu bewegen, um sie noch besser aufs Korn nehmen zu können.

»Ich habe gehört, dass sie wahnsinnig sein soll!«

»Das wundert niemanden; schließlich wurde sie von diesen Schotten, die schlimmer sind als Tiere, aufgezogen ...«

Eine endlose Weile erwiderte Avalon ihre Blicke, ehe sie sich auf der Suche nach Frieden von der Stelle bewegte. Doch die direkt auf sie gerichtete Abneigung folgte ihr und für einen beunruhigenden Moment, während sie weiterging, öffnete die Chimäre kurz die Augen und ließ sie erkennen, was die Gruppe sah: eine junge Dame, die nirgendwo hingehörte, groß und hell in einem rosafarbenen, mit Perlen bestickten Bliaud, schimmerndem Haar, das im Kerzenlicht wie Silber strahlte und von einem Krönchen, doch keinem Schleier, zusammengehalten wurde; seltsame Augen, die merkwürdig leer schienen ...

Ein schneller Blick in einen dunklen Spiegel in der Nähe der Musikanten bestätigte dieses Bild. Der Spiegel mochte wohl ihr Haar zu einem geisterhaften Grau verblassen lassen und die merkwürdige Farbe ihrer Augen in der trüben Dunkelheit verbergen. Aber es war eindeutig ihr Gesicht, das der Spiegel wiedergab, die ungewöhnliche Farbzusammenstellung und die Gestalt, die, dessen war sich Avalon gewiss, ihr Schicksal von Anfang an überschattet hatten.

»Ist es zu fassen, dass sie es ablehnt, bei einer Veranstaltung bei Hofe einen Schleier zu tragen? So wie sie ihr Haar zur Schau stellt, ist es wohl ihr ganzer Stolz. Vielleicht machen es ja diese Barbaren in Schottland so!«

»Dies helle, blonde Haar ist ja so unmodern ...«

Silberblond wie Mondlicht, hatte Avalons Kindermädchen immer gesagt.

»Und wie verrückt, dass der Rest von ihr nicht einmal zu ihrem seltsamen Haar passt, dass ihre Brauen und Wimpern pechschwarz sind ...«

Ein reizender Kontrast, beharrte Ona stets, das Kindermädchen.

»Ich verstehe nicht, wie sie überhaupt denken kann, sie sei etwas Besonderes. Im Moment wünscht sich doch jede dunkles Haar. Und schaut euch dieses Gesicht an! Weiß wie ein Gespenst!«

Ona nannte es Alabaster, das Zeichen ihrer hohen Geburt.

»Und ihre Augen!«

»Wirklich!«

»Welche Farbe haben sie eigentlich, meine Lieben? Einfach unbeschreiblich!«

Weder Veilchenblau, noch Dunkellila, doch etwas, das an eine Mischung aus Dunst und Licht vor der Morgendämmerung erinnerte. Violett, hatte die treu ergebene Ona behauptet.

Nichts Normales und Gewöhnliches wie ein schlichtes Blau oder Grün oder Braun, überlegte Avalon ironisch.

Sie schritt weiter, während sie gelegentlich am königlichen Met nippte und sich fragte, wann sie wohl die Erlaubnis erhielte, die Feier zu verlassen. Ihre Füße begannen allmählich in den papierdünnen Schuhen, die zu ihrem Bliaud passten, kalt zu werden.

Ihre Anstandsdame, Lady Maribel, unterhielt sich gerade lachend mit drei Damen und einem Herrn, sodass es Avalon widerstrebte, ihr den schönen Moment zu verderben. Im Gegensatz zu Avalon war London für sie ein voller Erfolg, und der lieben Maribel wollte sie unbedingt die Gelegenheit geben, das Beste aus dem hoffentlich kurzen Aufenthalt hier zu machen.

Es war sicherlich nicht Maribels Schuld, dass Avalon das Leben bei Hofe nicht gefiel. Maribel hatte alles getan, was sie konnte. Sie hatte sie seit ihrem vierzehnten Geburtstag auf ihrem eigenen kleinen Landsitz bei Gatting unterrichtet und sie gutes Benehmen, Geschichte, Französisch und Latein gelehrt. Sie hatte die schönsten Kleider für sie anfertigen lassen und eine der fähigsten Zofen eingestellt, die sie für jede Stunde des Tages korrekt herrichtete. Lady Maribel hatte sich fast ein halbes Jahr abgeplagt, damit Avalon den schottischen Akzent loswurde.

Welch eine Enttäuschung, dass Avalon sich in London als so unbeliebt herausstellte! Und es erfüllte Avalon mit echtem Bedauern. Lady Maribel – eine so weit entfernte Tante, dass Avalon nicht zählen konnte, um wie viele Ecken sie mit ihr verwandt war – legte eine zurückhaltende Freundlichkeit an den Tag. Sie hätte es verdient, dass ihr Schützling zum Dank für all ihre Mühen die Stadt mit ihrem Witz, ihrer Schönheit und ihrer Beliebtheit zum Glühen brachte. Aber niemand, nicht einmal Avalon, hatte mit der tatsächlichen Reaktion auf sie gerechnet.

Die meisten Männer schienen sich vor ihr zu fürchten, während der Rest versuchte, sie zu verführen; die Frauen verachteten sie – insgesamt ein Rätsel für Avalon. Die ersten paar Monate war sie jeden Abend verärgert und verletzt gewesen.

»Sie werden schon noch kommen«, hatte Lady Maribel sie getröstet. »Warte nur ab.«

Doch das taten sie nicht. Vielleicht spürten die Londoner trotz ihrer Anstrengungen ihre Andersartigkeit. Wie sehr sie sich auch bemühte, Freunde bei Hofe zu gewinnen, war sie doch immer wieder zurückgewiesen worden, bis sie allmählich ihre Versuche einstellte. Es schien ihr, als wate sie nur noch durch einen Sumpf von Klatsch und Boshaftigkeit. Hier würde sie immer eine Fremde bleiben.

Die Musiker stimmten neue, nun lebhaftere Weisen an und brachten viele Gäste im übervollen Saal dazu, lauter zu sprechen und länger zu lachen. Die Diener hatten Schwierigkeiten, dafür zu sorgen, dass alle Kelche immer gefüllt waren. Avalon lehnte einen weiteren Becher Met ab und versuchte, einen Platz zu finden, wo sie nicht von der wirbelnden Menge eleganter Edelleute niedergetrampelt wurde. In einer Ecke entdeckte sie einen Kandelaber aus schwarzem Eisen mit honigfarbenen Kerzen. Sie glitt hinter ihn und tat so, als würde sie ihn nicht als Schild benutzen.

Die Mädchen auf der anderen Seite des Raumes waren jedoch noch nicht fertig mit ihr. Wie ein See hellen Übermuts wirkte ihr Nicken und Wiegen miteinander.

»Ich habe gehört, dass nicht einmal ihr Cousin sie haben wollte! Anscheinend hat er sich geweigert, ihr die Rückkehr nach Trayleigh zu gestatten, so peinlich war ihm ihr Verhalten ...«

»Oh, ja! Weiß der Himmel, die Verwandten schämten sich genug dafür, dass es ihr gelang, den Überfall auf Trayleigh Castle zu überleben und sieben Jahre in Schottland zu verbringen – während alle annahmen, sie sei tot ...«

»Schockierend!«

»Also, angeblich will nicht einmal dieser schottische Kerl, mit dem sie verlobt ist, sie haben! Dieser Marcus Kincardine wird nicht von seinem Kreuzzug zurückkehren, um dann so eine zu heiraten!«

»Manche sagen, dass sie durch den Überfall wahnsinnig wurde! Dass sie sich nicht einmal daran erinnert, was an jenem Tag geschah, als diese Wilden kamen und alle töteten! Dass sie nur die Gewöhnlichkeit des Kincardine-Clans kennt, der sie aufgezogen hat ...«

»Nein, nein, sie soll wahnsinnig geworden sein, weil sie zusah, wie ihr Vater und ihr Kindermädchen von diesen Pikten ermordet wurden!«

»Ja, ist das nicht allerhand? Und ich habe gehört, dass Lady Maribel sie lieber mit einem von hier als mit diesem Kincardine verheiraten will! Sie glaubt tatsächlich, dass einer unserer ehrenwerten Herren diese Metze nimmt, wo doch jeder sehen kann, dass sie keinen Funken Anstand im Leib hat!«

»Ja ...«

»Ja, keinen Funken Anstand ...«

Avalon senkte den Kopf und tat so, als ob sie nichts hörte. Wer sonst noch hatte diese boshaften Worte vernommen? Hoffentlich nur sie allein. Bitte, lass es nur die Chimäre sein, die dies aufgeschnappt hat! Vielleicht waren die Stimmen doch nicht so laut gewesen, dass sie ihre Schmach nun mit allen teilen musste.

Jemand rempelte sie an. Die Frau lachte schrill und entschuldigte sich, während sie mit ihrem Begleiter weiterzog. Ein süßlicher Duft, der von der Frau oder dem Mann oder beiden ausging, hing wie eine Wolke in der Luft. Er verschärfte den beginnenden Kopfschmerz, der sich um ihre Schläfen legte.

Der Kreis der jungen Damen starrte sie nach wie vor an. Ihre Blicke zeugten von offener Feindseligkeit. Einige der anwesenden Herren hatten sich ihnen angeschlossen und nun ihre Köpfe gesenkt, um ihrem Raunen zu lauschen. Es entsprang keineswegs ihrer Einbildung, dass sie den Mittelpunkt des Gesprächs bildete. Dies wurde deutlich, als ein paar von ihnen in Gelächter ausbrachen, während sie zu ihr hinüberschielten.

»Nicht einmal dieser Barbar Kincardine will sie haben ...«

Ja, genau, dieser Barbar Kincardine! Avalon nahm doch wieder einen Becher Met in die Hand und setzte ein entschlossenes Lächeln auf.

Ihr Leben war durch diese verfluchte Verlobung festgeschrieben, und man hatte es so gedreht und gewendet, bis es den Bedürfnissen einiger machthungriger Männer, Könige, Barone und Gutsherrn, entsprach. Diese Verlobung bestand seit ihrer Geburt; sie hatte sie verfolgt, geschützt und ihr Los besiegelt, wie es nur die Bahnen des Schicksals vermochten. Deshalb musste sie selbstverständlich alles Menschenmögliche tun, um sie zu lösen.

Avalon hatte niemanden in ihre Zukunftspläne eingeweiht und wollte das auch dabei belassen. Sie befürchtete, dass ein einziges Wort darüber den Traum wie ein magisches Geheimnis zum Platzen brächte. Also behielt sie ihre Gedanken für sich.

Im Saal wurde es nun sehr schnell heiß. Es waren zweifellos zu viele Menschen, von denen einige tanzten und sogar sangen, da Wein und Met ihre Zungen gelöst hatten. Ein weiteres Paar kam ihr zu nahe und stieß sie unbeabsichtigt an, sodass sie fast ihr Getränk verschüttete. Sie entschuldigten sich nicht.

Das reichte. Avalon gab ihren Kelch einem Bediensteten, spürte die Haupttür auf und schlüpfte an den Wachen vorbei in den Vorraum, wo die Kühle der Nacht herrschte. Hier draußen hielten sich nur wenige Gäste auf, und die meisten Sitzgelegenheiten waren nicht belegt.

Sie fand eine gepolsterte Bank, die so nah neben einem Laubenfenster stand, dass eine leichte Brise um ihr Gesicht, ihr Haar und ihre Schultern strich. Sie kühlte ihren Zorn, bis nur noch ihre leichte Resignation zurückblieb. Als sie sich umschaute, erblickte sie nur Schatten und dunkle Ecken. Da legte sie den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

»Woher wisst Ihr es?«

Bedrohlich ragte Nicholas Latimer vor ihr auf, um sich dann schnell neben sie auf die Bank zu setzen. Er griff nach ihren Armen und umklammerte sie, während sein schwerer Atem über ihr verwirrtes Antlitz strich.

»Sagt mir, woher Ihr Kenntnis habt von meinen Träumen«, bedrängte er sie.

Avalon wollte jemanden rufen, doch dieser Teil des Raumes war verlassen und nirgends Hilfe in Sicht. Sie rückte auf der Bank so weit von ihm, wie sie konnte, und schüttelte seine Hände ab.

»Das ist offensichtlich«, erwiderte sie bissig. »Lasst mich in Ruhe.«

Er wollte wieder nach ihr greifen, aber sie stand auf und wirbelte davon. Ein Paar in einer Ecke sah die Bewegung. Sie starrten herüber. Latimer sprang auf, um ihr zu folgen, und versperrte ihr frech den Weg. Es gab für sie kein Entkommen, ohne die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aus Rücksicht auf Maribel blieb sie, wo sie war.

»Ihr seid eine Hexe, nicht wahr?« Latimers Stimme troff vor Hohn und Angst. »Eindeutig! Ihr seid hierher gekommen und habt mich verhext, nicht wahr? Ihr saht so hold aus mit Eurem Haar und Euren Augen. Doch führt Ihr redliche Männer mit Eurem Antlitz in Versuchung, quält sie ... Ihr lasst mich diese Dinge spüren, heiße Nächte ...«

»Seid kein Narr«, wies sie ihn scharf zurecht.

Das Pärchen, dem sich zwei weitere angeschlossen hatten, blickte immer noch in ihre Richtung.

»Ihr würdet eher dem Teufel beiliegen als mir, nicht wahr? Und Ihr habt das wirklich vor! Sobald Marcus Kincardine von seinem Kreuzzug zurückkommt und Euch für sich beansprucht, werdet Ihr ihm beiliegen. Aber er ist schon zu lange fort, nicht wahr, du Hexe? Warum willst du auf einen barbarischen Schotten warten, wenn du meine Gefährtin sein könntest?« Latimer trat näher, zu nah. Gefahr lag in seinem Blick. Er schien einen schmalen Grad überschritten zu haben. »Liegt mir bei«, wiederholte er mit leiser, heiserer Stimme – nahm nichts anderes mehr wahr als die liebliche Avalon.

Schau, lockte die Chimäre, jene andere Gefahr. Siehe ...

Gegen ihren Willen drang sie für einen Moment in Latimers Geist ein. Die Heftigkeit seiner Emotionen vereinnahmte sie in der schon vertrauten und gefürchteten Weise: diese auf sie einstürmenden Gefühle, der verwirrende Kontakt. Die verfluchte Chimäre in ihr übernahm die Führung und öffnete das Tor ...

Schau ...

Und sie spürte sein tiefes Verlangen, seine Angst und noch mehr Gier. Scham. Sie versuchte, die Bilderflut, die seinen Geist erfüllte, zu verdrängen. Doch sie sah die Frau, die nur ein Laken bedeckte, und den Mann, der auf ihr lag und Dinge mit ihr tat. Und Avalon sah, dass sie die Frau war und er der Mann ... dann vermischten sich diese Bilder mit etwas Dunklerem, Rauch und Fleisch und Speisen – etwas Bitterem. Er schämte sich so, dass es ihn verschlang ...

Lippen, Dunkelheit, Geschmack-Berührung-Verlangen-HexeFurchtLippenBettGeschmack ...

Latimer kam von diesem gefährlichen Ort zurück und sie mit ihm – völlig benommen. Ohne auf ihre Zuschauer zu achten, streckte er die Arme aus. Doch ehe er wieder nach ihr greifen konnte, übernahmen ihr Instinkt und jahrelanges Training die Führung.

Avalon riss ihre Rechte hoch und ergriff seine, wobei sie ihren Daumen auf seinen Handrücken legte und sein Handgelenk nach hinten verdrehte, als sie einen Schritt nach vorn tat. Sie zog seine Hand nach unten zwischen ihre Körper in die Falten ihrer Röcke, sodass sie für alle anderen verborgen war. Die Linke legte sie an seinen Ellbogen, er vermochte sich nicht zu rühren. Das alles geschah im Bruchteil eines Herzschlags.

Jetzt warf sie ihm ein strahlendes Lächeln zu, das den Anschein erweckte, er hätte ihr gerade irgendwelchen romantischen Unsinn zugeflüstert, der sie näher zusammenrücken ließ.

Angesichts des unerwarteten Schmerzes riss Latimer die Augen weit auf. Avalon hielt ihn fest; er konnte sich deshalb nicht bewegen, weil sie gerade genug Druck ausübte, um ihn wissen zu lassen, dass sie ihm gegebenenfalls wirklichen Schmerz zufügen würde.

Sie hörte, wie am anderen Ende des Raumes das Geraune einsetzte und ihr Name immer lauter geflüstert wurde.

»Hört mir gut zu«, sagte sie und sprach dabei so leise wie möglich. »Es ist keine Hexerei, die mich erkennen lässt, dass Ihr schlaflose Nächte verbringt. Wenn mir je zu Ohren kommen sollte, dass Ihr noch einmal meinen Namen damit in Verbindung bringt, könnt Ihr versichert sein, dass Euch das sehr Leid tun wird, Mylord! Es ist keine Hexerei, die Eure Hand gerade festhält, sondern Fleisch und Blut. Sind meine Worte deutlich genug, Mylord?«

Er blickte um sich und dann wieder zu ihr, wobei er die Zähne bleckte. »In der Tat!«

»Hervorragend! Als Gegenleistung für Eure Einsicht will ich Euch einen Gefallen erweisen, Lord Latimer. Wisset, mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Gefallen daran findet, einen höchst ungewöhnlichen Pilz zu verspeisen, und dass Ihr Euch das mit einigen Freunden zur Gewohnheit habt werden lassen. Ich mag zwar nicht Eure Freundin sein, Nicholas, aber sie sind es auch nicht. Ich wünsche Euch nichts Böses. Glaubt mir, diese Pilze, nach denen es Euch gelüstet, verursachen Eure Träume. Lasst ab von ihnen und Ihr werdet besser schlafen.«

Sie ließ seine Hand los. Er riss sie zurück und rieb sich das Gelenk.

»Ich wünsche Euch wahrlich nichts Böses«, wiederholte sie.

Eilig entfernte Nicholas sich. Er verschwand geradewegs in der Schar von Leuten, die sich versammelt hatte, um sie zu beobachten und hitzige Spekulationen anzustellen. Der Kreis öffnete sich und nahm ihn auf. Sie waren höchst begierig auf die Anfänge eines neuen Skandals.

Avalon wusste mit absoluter Sicherheit, dass gleich die Hölle losbrechen würde.

Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft

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