Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 13

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Zwei weitere volle Tage blieb sie in dem Zimmer. Sie musste nicht durch den kleinen Raum tigern und wurde auch nicht von Langeweile in den Wahnsinn getrieben – denn sie hatte viele Besucher.

Da waren die warmherzigen Jungfern, als die Avalon sie mittlerweile betrachtete, die guten Sechs, die sie bemutterten, umsäuselten und verhätschelten. Aber nach ihnen kamen Legionen von Interessenten unter diesem oder jenem Vorwand in ihr Zimmer. Andere schauten einfach nur so vorbei, um sie zu betrachten, sich ein Bild von ihr zu machen, als handele es sich bei ihr um ein Märchen aus alten Zeiten.

Sie hatte keinen von ihnen gekannt, als sie im Cottage des entlegenen Dorfes gelebt hatte. Ihr Kontakt zu anderen war streng kontrolliert worden. Aber anscheinend hatten alle von ihr gewusst und jeder Einzelne sorgte dafür, ihr auf eigene Art und Weise zu beteuern, wie froh sie seien über ihre jetzige Ankunft.

Tegan, die Köchin der Burg, wollte wissen, was die Braut gern bei den Mahlzeiten zu sich nähme.

Hew, Sean, Nathan und David – alle gehörten zu Marcus’ Wache – lungerten vor der Tür herum, bis sie genug Mut gefasst hatten, um sie zu fragen, wie sie den Riesen Tarroth in der schrecklichen Sturmnacht neulich hatte abschütteln können. Die nächste Stunde verbrachten sie damit, die grundlegenden Griffe und Ausweichmanöver vor ihr zu üben, bis sie bei jedem saßen.

Tarroth selbst kam, um ihr die gleiche Frage zu stellen. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf sie hinab und bettelte so lange, bis sie endlich nachgab und ihm zeigte, wie man bestimmte Hiebe parierte.

Ilka, die Haushälterin von Sauveur und ihre drei Töchter – die in einer Reihe standen und Avalon mit identischen stiefmütterchenfarbenen Augen anstarrten – schaute nach, ob sie genug Pelze auf ihrem Bett hatte, der Kamin gut gekehrt und das schwarze Kleid, das sie unter ihrem Tartan trug, nicht unbequem war.

Mehr oder weniger behandelten sie alle so respektvoll wie eine Königin und nicht wie die verletzte Gefangene ihres Lairds. Das eine überwältigende Gefühl, das Avalon in ihnen wahrnahm, die Hauptgemeinsamkeit, die sie verband, war Aufregung, die an Freude grenzte. Sie umwallte sie förmlich, während sie ehrerbietig mit ihr sprachen. Sie leuchtete im Raum nach, wenn sie ihn verließen. Sogar Tarroth hatte sich voller Achtung vor ihr verbeugt und empfand keine Rachsucht gegenüber der Frau, die ihn mit solch scheinbarer Leichtigkeit überwältigt hatte. Tatsächlich war er sogar stolz, dass ausgerechnet ihm es zufiel, als Beweis für ihre Kampffähigkeiten herzuhalten.

Avalon erkannte, dass alle an die Geschichte mit dem Laird, seiner Frau und dem Teufel glaubten. Sie hingen mit jeder Faser ihres Seins, genauso wie Hanoch es getan hatte, an diesem dummen Aberglauben, dieser unmöglichen Legende.

Die Frauen wurden im Laufe des Tages mutiger. Sie setzten sich neben sie und fragten sie nach ihrer Meinung zu hundert verschiedenen Dingen. Warum ein Ehemann das täte, wie man ein Kind bei jenem am besten bestrafte. Meint Mylady, dass die Schweine dieses Jahr noch einmal werfen sollten? Es gäbe eine Sau, die ein so komisches Glitzern in den Augen habe ...

Der Ehemann von einer hatte sich den Rücken vor der Ernte gezerrt. Er war nicht in der Lage gewesen, seinen Anteil der Arbeit zu leisten. Würde die Herrin der Familie ein zusätzliches Maß Weizen aus Mildtätigkeit gewähren?

Die Hälfte des Getreides auf den nördlichen Feldern sei durch einen merkwürdigen schwarzen Belag am Halm verdorben. Hielt die Herrin dies auch für das Werk des Teufels? Würde die Herrin in der Lage sein, das Getreide für sie wieder in Ordnung zu bringen? Oder würde sie ihnen neues kaufen?

Der Lachs sei dieses Jahr knapper denn je gewesen. Würde die Herrin ihre Schafe aus England hertreiben lassen, damit sie den Winter überstünden?

Sie war einigermaßen entsetzt. Was sollte sie ihnen sagen? Avalon erklärte ihnen rundheraus, dass sie nicht geeignet sei, ihnen Antworten zu geben. Doch es schien, als hätten sie mit ihrer unter Bedauern vorgetragenen Zurückweisung gerechnet. Also würden sie sich in Geduld fassen und bei Gelegenheit ihre Geschichten aufs Neue erzählen; dann würden sie hoffentlich Bescheid erhalten.

Die junge Herrin schwankte zwischen Lachen und Weinen. Sie wusste, was für ein Mensch sie war, und sie konnte das Bild, das offensichtlich diese guten Leute von ihr hatten, nicht damit in Einklang bringen.

Sie war keine Königin, kein lebendes Symbol, das ihrem Fluch ein Ende bereiten würde. Allein der Gedanke, was sie von ihr erwarteten, ließ sie bereits erstarren. Das Einzige, was sie ihnen bieten konnte, war eine materielle Lösung – ihr Reichtum – und diesen wies Marcus zurück.

Bei Balthazars Erscheinen befanden sich ungefähr zwanzig Frauen in dem kleinen Gemach. Alle hatten sich um die Lagerstatt versammelt, die sich direkt unter dem Fenster befand. Sie hatten eine eigene Hierarchie entwickelt, vom höchsten bis zum niedrigsten Rang entsprechend der jeweiligen Bedeutung. Nacheinander baten sie um Gehör bei ihrer Herrin, die auf ihren Pelzen saß und die Hände im Schoß gefaltet hielt, in einer Geste, die nicht zufällig einer flehentlichen Gebetshaltung entsprach.

Als der Maure auf der Schwelle stand, wandte sich ihm jedes Gesicht zu. Sie tauschten miteinander schnelle Blicke; dann rafften die Frauen ihre Röcke, schluckten ihre dringenden Bitten hinunter und verließen knicksend den Raum.

»Seht nur, wie sehr sie Euch lieben«, verkündete er, während er vortrat und sich vollendet vor ihr verbeugte.

»Nicht ich bin es, die sie lieben«, erwiderte Avalon, sich vom Bett erhebend. »Es ist eine fixe Idee, die sie haben und die hat eigentlich nichts mit mir zu tun.«

Hinter Bal erschien ein weiterer Mann, der größer und breitschultriger war. Sie wusste natürlich, wer es war. Mit einem köstlichen Schauder nahm sie seine Anwesenheit wahr. Der heimlichen Freude folgte ein eiliges Leugnen.

»Geht es ihr gut genug, um aufzustehen?«, fragte Marcus Balthazar.

Bal hob fragend eine Augenbraue in Richtung Avalon. »Geht es ihr gut genug?«

Was sollte sie dazu sagen. Es verlangte sie so sehr danach, den Raum zu verlassen, dass das Bedürfnis wie ein schmerzhafter Kloß in ihrer Kehle saß. Aber wenn sie sich zu begierig gab, würden sie dann einen Rückzieher machen? Ziemlich unschlüssig blickte sie den Mauren an.

Marcus ging zu ihr und betrachtete sie mit Augen, die sie plötzlich an einen eingesperrten Wolf, den sie vor langer Zeit gesehen hatte, erinnerten: voller Intensität, glühend und ungezähmt.

»Kommt«, sagte er und bot ihr seinen Arm.

Sie nahm ihn, weil der Kloß in ihrem Hals darauf bestand. Die Wände ihrer Kammer waren im Verlauf der letzten zwei Tage immer enger zusammengerückt. Das schmale Fenster schaffte es nicht, das alte Gefühl des Erstickens zu vertreiben. Fast alles hätte sie getan, um dem Raum zu entkommen.

Sie schritten den Gang entlang hinunter in die eindrucksvolle Halle von Sauveur. Schwarzgraue Steinpfeiler hielten die mächtigen Bögen, die sie überspannten. In allen vier in die Wände eingelassenen Kaminen loderten Feuer. Die Tische und Bänke bestanden aus schwerem, dunklem Holz. An den Wänden hingen bunte Gobelins und heraldische Symbole.

Einzelne Herbstblätter lagen beim Haupteingang auf dem Boden. Eine frische Brise wehte herein und strich ihr die feinen Strähnen aus der Stirn.

Avalon spürte, dass Marcus, sich dem Augenblick hingebend, innerlich mit ihr verbunden war, ohne dass er jedoch seinen Schritt verlangsamte.

Die Leute, die sie sahen, hielten bei dem, was sie gerade taten, inne und starrten das Paar an. Bei den meisten legte sich ein breites Lächeln übers Gesicht, ein paar der Frauen tupften sich Tränen von den Wangen.

Unerfüllbare Erwartungen. Avalon konnte es nicht glauben, welche gewagten Hoffnungen der bloße Anblick von ihr auslöste.

Unsere Braut, dachten sie sicher, und damit kam für sie die niederschmetternde Erkenntnis. Sie verkörperte Helligkeit und Licht. Sie als die eine Hälfte bedeutete das magische Ende ihres Lebens, und die andere Hälfte war der neue Laird, nun endlich bei ihnen! Gegen ihren Willen begann sie zu begreifen, was Marcus spüren musste und warum er das Risiko auf sich genommen hatte, sie zu entführen.

Der Himmel erstrahlte in jener besonderen Färbung, die nur in den kostbaren Wochen zwischen Sommer und Winter zu sehen ist. Ein reines tiefes Blau wölbte sich über das Tal, und nur gelegentlich glitten ein paar schneeweiße Wölkchen am Horizont entlang. Die Luft war kühl und prickelnd, roch nach Blättern, Rauch und fernen Wassern.

Sie wirkte belebend und einladend wie ein alter Freund, der zu lange fort gewesen war. Das alles kam ihr so vertraut vor. Es fühlte sich an, als wäre sie ... zu Hause.

Natürlich wirkte es vertraut, schalt Avalon sich. Es war genau wie jeder andere Herbst, den sie in den Highlands verbracht hatte. Man musste nicht auf Sauveur wohnen, um den Wechsel der Jahreszeiten in Schottland zu genießen. Schluss mit der Sentimentalität!

Sie bemühte sich, ihre Hand nur leicht auf Marcus’ Arm zu legen. Doch es war so viel einfacher, sich nur zu entspannen und ihn das unerhebliche Gewicht tragen zu lassen, sich im Gleichklang miteinander zu bewegen. Bei diesem kleinen Zugeständnis verlor sie nichts, dachte Avalon.

An seinen Grenzen war Sauveur von ungerodeten Landstrichen umgeben. Die Weiden und Felder, die man urbar gemacht hatte, indem man Bäume fällte und Findlinge fortschaffte, stießen an dichte Wälder, Gras bewachsene Berghänge und schroffes Quarzgestein.

Marcus führte sie einen viel begangenen Weg hinunter. Immer mehr Leute schlossen sich ihnen an. Der Zauberer hielt respektvollen Abstand zu ihnen. Ihm folgte eine ständig wachsende Horde, die vornehmlich aus Kindern, von dem Schauspiel angelockt, bestand.

Er musste ihr Flüstern hören, dachte Avalon und schaute nur einmal kurz zu ihm auf. Bestimmt hörte er die Stimmen, die hinter ihnen ihre Namen raunten. Doch seine Miene blieb reglos und sein Schritt fest, ohne ins Stocken zu geraten. Offensichtlich hatte er ein Ziel. Avalon wusste, dass dies mehr als ein Spaziergang zu ihrem Vergnügen war.

Er führte sie vor – wie ein Mann eine kostbare neue Stute zeigte, so präsentierte er sie seinen Leuten.

Ein Teil von ihr wollte darüber in Wut geraten. Doch stattdessen verspürte sie eine verhaltene Zustimmung in sich. An seiner Stelle hätte sie das Gleiche getan. Sie hätte auch alle erdenklichen Schritte unternommen, um denjenigen, die von ihr abhängig waren, Zuversicht einzuflößen. Sie hätte sich jedwede Legende zunutze gemacht und sie höchstpersönlich zum Leben erweckt, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte. Schon dieses Eingeständnis vor sich selbst machte ihr Angst, indem sie die Maßnahmen des Lairds billigte, war sie nur einen Schritt entfernt von der bereitwilligen Teilnahme an ihnen. Und dann hätte Hanoch gewonnen.

Bald lag ein Tal vor ihnen. Ein geschützter Ort mit im Windhauch wogenden wilden Wiesen und sogar einigen weißen und gelben Blumen, die sich trotz der nahenden Kälte noch ans Leben klammerten. Im grünen Gras blitzten silberne Bäche auf. Sie schienen aus einer Region voll blauem Nebel und gesprenkelten Flächen am Abhang eines großen Berges herabzufließen und sich in den Kreis des kleinen Tales zu ergießen. Es gab raffiniert verwobene Muster von Brombeergestrüpp in diesem Tal. Junge Mädchen mit langen Haaren und geflochtenen Körben sammelten Wolle von dornigen Büschen.

Und am Hang des Berges erkannte Avalon, obwohl sie es nie zuvor gesehen hatte, das, was von dem bösen Elf der Legende übrig geblieben war. Da saß eine menschlich wirkende Gestalt aus schwarzem Fels inmitten von Grün und Silber.

Avalon verhielt in ihrem Schritt und blieb stehen. Sie starrte auf das Gestein.

Auf den ersten Blick wurde ihr klar, warum sich eine Legende um diesen Fels gesponnen hatte. Es musste ein riesiger Elf gewesen sein, dreimal so groß wie ein Mensch, wenn er statt aus Stein aus Fleisch und Blut gewesen wäre. Andererseits wirkte er gleichzeitig wie ein verdrehter, zerschmetterter Mann – allerdings mit den schwarzen Schwingen einer Krähe, die hinten aus ihm herauswuchsen. Die Form des Kopfes zeichnete sich deutlich ab, auch zwei ausgestreckte Arme, zwei Beine. Die Flügel. Das grünsilberne Gras war an keiner Stelle über den schwarzen Steinkörper hinweggewachsen.

Avalon biss die Zähne zusammen, bemerkte es jedoch erst, als sie wegschaute; Marcus tat das Gleiche. Stille herrschte im Tal. Kein Vogel, kein Insekt war zu hören. Sogar die leichte Brise hatte sich gelegt. Alle Leute, die sie umgaben, verharrten in Schweigen.

Plötzlich schien ihr alles wahr zu sein. Es hatte ihn gegeben – diesen bösen Elfen. Die Gemahlin des Lairds war kein Mythos, sondern hatte tatsächlich existiert und war auf dieser Wiese entehrt worden. So kam es zur Begegnung zwischen einem rachsüchtigen Laird und einem Teufel. Der Fluch war echt.

Ihre Welt geriet ins Wanken. Die Umrisse verschwammen. Lärm erfüllte ihre Ohren. Sie hörte einen Mann schluchzen. Ein schrecklicher Gestank erhob sich. Er war so widerlich, dass sie würgen musste. Es wurde unerträglich heiß und schwül.

Der Mann hörte nicht auf zu schluchzen und jetzt fing er auch zu sprechen an: Treulieb, mein Leben, verlass mich nicht ...

Keuchend holte Avalon Luft, und das Tal sah wieder normal aus. Der Mann, seine tieftraurige Stimme waren fort und man roch nur noch die Frische der Berge. Nichts schien sich in diesem kurzen Augenblick verändert zu haben. Alle standen an der gleichen Stelle und schauten entweder den bunten Abhang hinauf oder zum Laird und seiner Braut.

Sie wunderte sich. Es war so real gewesen! Und doch blickte niemand verdutzt um sich. Nur von Marcus kam ein Hinweis, dass sie sich möglicherweise nicht alles hier eingebildet hatte. Er atmete tief durch und runzelte die Stirn, als ob auch er den widerlichen Gestank von etwas, das nicht hierher gehörte, bemerkt hätte.

Sein Blick traf den ihren.

»Schwefel«, meinte er.

Ihre Ablehnung kam heftig und spontan. Es konnte nicht real gewesen sein.

»Nein!«

Er dämpfte seine Stimme, und was er zu sagen hatte, war nur für ihre Ohren bestimmt. »Noch eine Lüge, Avalon?«

»Es war eine Illusion.« Auch sie sprach leise. »Nicht wirklich.«

Jetzt warf er ihr sein frostiges Lächeln zu. »Wir haben hier oben überall unsere Geister, Mylady, ob Ihr nun an sie glaubt oder nicht.«

Die jungen Mädchen im Tal hatten sich näher herangewagt. Aus blassen, hohlwangigen Gesichtern schauten sie sie an, und Avalon spürte ihr Erstaunen, ihre Bewunderung, sah ihre wunden Finger, die Nässe ihrer Füße durch die Löcher in den Galoschen.

Am liebsten hätte sie mit dem Geist des Lairds, den sie gehört hatte, geweint. Sie wollte um diese Kinder weinen, die keine Nächte ohne die Schmerzen ihres Tagwerks kannten, die noch nie ein Bliaud gesehen hatten, das mit schönen Juwelen besetzt war, geschweige denn davon träumten. Welch ein Unglück, dass es so wenig Lachse gab, dass das Getreide auf den Feldern verdorben war. Lieber Gott, was sollte aus ihnen werden?

Marcus ließ ihren Arm los und gesellte sich zu den Menschen, die sich hinter ihnen versammelt hatten. Er verschmolz förmlich mit ihnen. Sein Tartan war von den anderen nicht mehr zu unterscheiden, einer unter vielen – ein Meer der Gleichförmigkeit, das ohne zu zweifeln seine Existenz in sich aufnahm.

Die Wolle sammelnden Mädchen schauten ihm nach und völlige Ergebenheit lag auf jedem einzelnen Gesicht.

Avalon stand nun allein im silbergrünen Gras und der schwarze Elf blickte auf sie alle herab.

Der Zauberer trat zu ihr, beide Außenseiter dieser Szene. Nachdenklich betrachtete er das Tal, die Brombeersträucher und die zerklüfteten Berge ringsum.

»Ein seltsames Land«, meinte er schließlich.

Avalon legte ihren gesunden Arm über ihren Bauch.

»Ein wildes Land und tapfere Menschen«, fuhr er fort. »Berggipfel, die mit Gott sprechen mögen, wenn ER es will. Magie, Legenden und scharfer Schnaps – eine berauschende Mischung!«

Der leichte Wind lebte wieder auf und rauschte durch die Gräser zu ihren Füßen. Die jungen Mädchen kehrten zu ihrer Arbeit an den Sträuchern zurück, wobei sie trotzdem noch heimliche Blicke von Marcus zu Avalon warfen.

Balthazar beugte sich nach unten und pflückte eine Blume mit bläulich weißen Blütenblättern. »Ich habe eine Frage an Euch, Mylady. Werdet Ihr sie beantworten?«

Avalon beobachtete, wie seine Finger, die dunkel vor dem hellen Hintergrund wirkten, mit den Blütenblättern spielten. »Wenn ich kann«, erwiderte sie.

Der Zauberer lächelte. »Die kluge Antwort einer alten Seele. Meine Frage lautet wie folgt: Was ist Euch von diesem Ort in Erinnerung geblieben?«

Seine Worte verwirrten sie. Avalon schaute sich unsicher um und suchte eine plausible Erklärung: »Nichts. Ich bin noch nie hier gewesen. Hanoch hatte mich in einem Dorf hoch im Norden untergebracht, wo ich die ganze Zeit lebte.«

»Nein, nein«, meinte der Zauberer und wedelte mit der Hand, als wollte er ihre Worte vertreiben. »Nicht aus diesem Leben. Ich meine Erinnerungen von früher. An was erinnert Ihr Euch?«

»Nicht aus diesem Leben?«, wiederholte sie zögernd. »Ich verstehe nicht.«

»Manche Menschen glauben, dass wir oft in denselben Körper zurückkehren. Sie sagen, jedes Leben sei eine Prüfung, um die Seele Gott näher zu bringen.«

Sie erfasste den Gedankengang und hinterfragte dessen ketzerischen Inhalt. »Kein Himmel? Keine Hölle?«

Der Zauberer lächelte wieder. Dieses Mal war es verhaltener. Seine Mundwinkel zogen sich vor Erheiterung nach oben. »Über dieses Thema lässt sich vortrefflich diskutieren. Doch ich würde meinen, dass die Hölle die Wiederkehr bedeutet, wenn man seine Prüfung nicht bestanden hat.«

Der Geist hatte geweint, seine Worte berührten sie im Innersten. Unfreiwillig hatte sie Anteil an seiner Pein gehabt. Der Schwefelgeruch war Übelkeit erregend gewesen.

»Wie würde meine Prüfung aussehen?«, fragte Avalon langsam und etwas ungläubig, während sie auf die Blume schaute, die er hielt.

»Das könnt nur Ihr selbst sagen«, antwortete Balthazar. »Nur Ihr selbst werdet es erfahren. Die Antwort findet sich im tiefsten Innern Eures Herzens. Sucht dort danach.«

Er verbeugte sich vor ihr und legte dabei beide Hände an die Stirn; dann überreichte er ihr die Blume.

Sie nahm sie und starrte auf die symmetrischen Blütenblätter und den samtgrünen Stängel. Als sie wieder hochblickte, war der Zauberer gegangen und eilte mit weit ausgreifenden Schritten talabwärts, zurück nach Sauveur. Marcus blickte aus der Menge zu ihr. Sie wandte sich von ihm ab und stellte fest, dass die Mädchen eindeutig über sie redeten, ohne die Blicke von ihr abzuwenden.

Plötzlich überfiel Avalon ein Gefühl tiefer Einsamkeit. Eine Einsamkeit, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr so stark empfunden hatte. Einsamkeit war ihr Feind, und sie hatte hart gegen sie angekämpft, um sie zu vertreiben – wie auch gegen alles andere, von Hanoch angefangen, was sie in die Knie zwingen wollte. Dass die Einsamkeit sie nun wieder packte, war keine willkommene Empfindung.

In der Nähe stand ein Brombeerstrauch. Langsam spazierte sie darauf zu und bemerkte die Wolle, die überall daran hängen geblieben war. Es handelte sich um die Hinterlassenschaften eines Schafes, das unvorsichtigerweise in der Nähe gegrast hatte.

Sie streckte die Hand nach einem Büschel aus. Leicht löste es sich von den Dornen und wog nur einen Hauch zwischen ihren Fingern. Ein größeres befand sich gleich dahinter. Auch danach griff Avalon. Ein Dorn piekste sie in den Finger.

Avalon riss die Hand zurück und starrte auf den Blutstropfen, der am Einstich austrat. Völlig unsinnigerweise war sie plötzlich den Tränen nahe.

»Oh, Mylady«, rief eine Mädchenstimme an ihrer Seite. »Ihr müsst Euch in Acht nehmen. Man sticht sich ständig an ihnen.«

Das Mädchen klemmte sich seinen Korb, der mit Büscheln von Schafwolle gefüllt war, unter den Arm und nahm dann Avalons Hand, um den Kratzer zu untersuchen. Auch die anderen Mädchen hörten auf zu arbeiten und rückten an.

»Nicht so schlimm«, meinte eine.

»Drück das Gift heraus«, empfahl eine andere.

»Ja«, stimmte das Mädchen zu, das Avalons Hand hielt, und fing an, ihren Finger zu drücken, bis ein großer runder Tropfen scharlachroten Blutes auf der kleinen Wunde stand.

»Wenn man nichts macht, juckt es ganz fürchterlich«, erklärte das Mädchen.

Avalon blickte auf ihre Hand hinunter, die mit festem Griff von der kleineren gehalten wurde. Sie bemerkte, dass die anderen Mädchen Tücher um ihre Hände und Finger gewickelt hatten. Alle hatten Kratzer, ganz viele.

»Wahrscheinlich bin ich nicht sanft genug, dass die Dornen vor mir zurückweichen«, versuchte sie zu scherzen und bedauerte jäh, dass sie die Legende der Menschen hier auf die leichte Schulter nahm. Aber die Mädchen nahmen sie ernst. Sie schüttelten die Köpfe und versicherten ihr, dass sie gewiss genauso sanft sei wie jene erste Lady. Doch seit dem Fluch hätten sich auch die Dornen verändert, seien nicht mehr so biegsam und nett wie einst.

Es war ein schmerzlicher Moment für sie – zu erfahren, dass diese vertrauensvollen Mädchen glaubten, sie sei eine wahr gewordene Legende; denn leider konnte sie für sie nichts tun und war ihrer Ergebenheit nicht wirklich wert.

»Was ist passiert?« Marcus wollte wissen, was die Versammlung der Mädchen zu bedeuten hatte.

»Nichts«, erwiderte Avalon, während sie dem Mädchen ihre Hand rasch entzog und die Wolle, die sie gesammelt hatte, in deren Korb legte.

Wie ein Schwarm Stare stoben sie auseinander und sausten zurück zwischen die Sträucher.

Marcus’ Körper versperrte ihr den Blick auf die Berge und den schwarzen Fels. Mit ernster Miene griff er nach ihrer Hand und untersuchte den Kratzer mit dem verschmierten Blutstropfen.

»Man muss das Gift herausholen«, sagte er und hob ihren Finger an seinen Mund.

»Ich weiß«, wehrte sie ab, doch schon schlossen sich seine Lippen um ihren Finger, und er begann, sanft daran zu saugen.

Wie verzaubert stand sie vor ihm. Sie spürte das wilde Pochen ihres Herzens, die schockierenden, seltsamen Gefühle, die dieser Mann in ihr auslöste, seine Zunge an ihrem Finger, die Weichheit und Wärme seiner Lippen. Seine Lider waren gesenkt und warfen Schatten auf seine eisblauen Augen, die dadurch dunkler wirkten.

Da war kein Schmerz, nur dieser heiße Sog. Die Einzigartigkeit seines intimen Tuns ließ sie bis ins Innerste erbeben und brachte alle Gedanken zum Schweigen, bis sie nichts mehr spürte als seine Berührung, sein Gesicht das Einzige war, was sie noch sah.

Seine Lider hoben sich wieder; doch nach wie vor ließ er sie nicht gehen, sondern hielt sie gefangen, als hätte er sie mit Ketten an sich geschmiedet. Avalon spürte, dass sich etwas in ihr rührte. Jenes flüssige Verlangen, das nur er ihr schenken konnte, war wieder erwacht. In seinen Augen las sie denselben Gedanken. In deren Bläue flackerten Männlichkeit, Macht und der Schatten von etwas anderem, über das sie nicht nachdenken wollte. Etwas Besitzergreifendes.

»Alles wieder gut?«, hauchte er gegen ihren Finger, den er immer noch dicht an seine Lippen hielt. Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern streckte auch ihre restlichen Finger, sodass ihre Handfläche offen war, und küsste sie dort.

Ihre Hand brannte; ein tiefer, dunkler Schauder raste durch ihren Arm in ihren Körper, der sich noch enger an ihn und seine magnetische Hitze lehnte.

Marcus verfolgte ihre Bewegungen. Weiterhin ihre Rechte haltend, hinterließ er eine Spur von Küssen bis zu ihrem Handgelenk. Dann ließ er sie los, umfasste ihren Hals und zog sie an sich.

Der Kuss war süß und leicht. Er war nur eine Einladung zu mehr, weil sie sich im Tal befanden, inmitten von Beobachtern; deshalb konnte Marcus nicht das tun, was er eigentlich wollte – sie ins weiche Gras legen und lieben. Also gab er sich mit diesem einen Kuss zufrieden, der ein Versprechen auf das Kommende barg, ehe er sich von ihr löste.

»Treulieb«, murmelte er.

Avalon riss sich los. »Was?«, rief sie in höchster Not.

»Treulieb«, wiederholte er. Dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nur ein Kosewort, Mylady!«

Er hatte keine Ahnung, woher es stammte, benutzte es nie. Und soweit er sich erinnern konnte, hatte er es auch noch nie jemand anders benutzen hören. Doch es schien wie für sie geschaffen. Es passte genau zu ihr, auch wenn er es sich bloß ausgedacht hatte. Und es zeigte Wirkung – unglücklicherweise die falsche. Avalon wurde aus jener Stimmung gerissen, in der er sie haben wollte; sie erinnerte sich wieder daran, was im Tal vorgefallen war und in welcher Situation sie sich befand.

»Es ist nicht real«, betonte sie, während sie an ihm vorbei auf den Elf schaute.

»Warum nicht?«, fragte Marcus und folgte ihrem Blick. »Warum nicht, Lady Avalon? Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert. Diese tragische Geschichte steckt immerhin auch voller Romantik, findet Ihr nicht auch? Das sorgt für den Ausgleich. Eine hochwohlgeborene Dame, die aus Liebe heiratet ...«

»Ja – und schaut, was es ihr gebracht hat«, stellte Avalon düster fest.

Sie traten den Rückweg über die Wiese an. »Richtig«, gab er zu. »Die Geschichte endete nicht gerade glücklich. Zumindest nicht für den Clan.«

»Für sie und ihren Laird auch nicht«, fügte sie hinzu, wobei ihr die Theorie des Zauberers über die Rückkehr in die jeweiligen Körper einfiel. Wenn das stimmte, waren der Laird und seine Gemahlin dann jetzt unter ihnen? Würden sie endlich ihr Glück behalten dürfen, wenn sie die Prüfungen bestanden?

Treulieb hatte der Laird seine tote Gemahlin genannt.

»Und was ist mit diesem Fluch, Mylord?«, unterbrach sie ihre eigenen Gedankengänge. »Euren Leuten mag es vielleicht nicht besonders gut gehen, aber ich würde nicht sagen, dass sie im Elend leben. Ich weiß sehr wohl, dass der Clan Kincardine Macht besitzt. Euch gehört das Ohr des Königs. Ihr habt Verbindungen zum Thron. Euer König Malcolm nahm sich ein volles Jahr, bis er vor Henry kapitulierte und in meine Rückkehr nach Hause einwilligte. Ein ganzes Jahr hat er gegen einen anderen König gekämpft, nur um Eurer Familie einen Gefallen zu tun. Das kann man doch nicht als Fluch bezeichnen.«

Abrupt hielt er sie mit einem Blick an, der sie wünschen ließ, ihre Worte zurücknehmen zu können.

»Glaubt Ihr, dass dies ein leichtes Leben ist, Avalon?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Ist es das, was Ihr für Euch selbst wünscht? Es gibt kaum genug Essen für den Winter, kaum genug Wolle, um damit Handel zu treiben. Selbst Hanoch konnte kein Vermögen verwalten, das nicht existiert.«

»Nehmt meines«, drängte sie ihn erneut. Erst ärgerte sie sich, dann schämte sie sich über das Gefühl. Sie fühlte mit ihnen allen – mit den Wollsammlerinnen, den mageren Frauen, den stolzen Männern. Es tat ihr weh, dass sie so nah am Rande der Bedürftigkeit lebten. Sie hasste es, dass er eine so geringe Meinung von ihr hatte und auch noch dachte, sie würde es nicht bemerken. »Ich gebe es Euch freiwillig.«

»Wenn wir verheiratet sind, werde ich es annehmen.«

Am Fuße des zerschmetterten Körpers des Elfen verlor Avalon die Fassung.

»Ich kann Euch nicht heiraten!«, schrie sie. »Versteht Ihr das denn nicht? Ich kann nicht! Ihr bekommt alles – außer das!«

Schweigen senkte sich über die Anwesenden. Ein Rabe kreiste über ihnen, landete auf einem Baum und beobachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf.

Marcus begann zu lachen.

Zuerst war es nur ein leises, tiefes Kollern, das sich zu seinem unverwechselbaren Klang ausweitete und lauter und lauter wurde, bis andere mit einfielen und schließlich eine Woge der Heiterkeit sie davontrug.

Avalon spürte die Hitze in ihre Wangen steigen. Er lachte, weil er wirklich belustigt war. Das spürte sie deutlich. Und die anderen fielen aus Erleichterung in sein Lachen ein, weil der Laird das Temperament seiner eigensinnigen Braut so leicht abtat. Nun, einerseits war er selbst der Ausgeglichenere, anderseits nahm er ihre Haltung der Legende nach hin: In der hieß es nämlich, dass sie sich widersetzte, in die Familie einzuheiraten.

Sie marschierte in Richtung Sauveur davon, weil sie wusste, dass man sie aufhalten würde, wenn sie eine andere Richtung einschlüge. Für einen Tag hatte sie genügend Demütigungen einstecken müssen.

Er ließ sie gehen. Sie spürte seinen Blick den ganzen Weg über, während er fleißig weiterlachte.

Die Leute starrten sie an. Insbesondere bei den Frauen meinte sie einen Hauch von Mitgefühl zu erkennen. Einige der Gesichter waren ihr inzwischen vertraut.

Hanoch hatte den Haushalt des Cottages auf sehr wenige Personen begrenzt. Eine Verwalterin. Eine Köchin. Acht Männer, die sowohl als Diener als auch als Wächter fungierten. Und Ian, natürlich. Sogar wenn Hanoch nach Sauveur verschwand, war Avalon nicht in der Lage gewesen, Ian zu entkommen.

Ian MacLochlan gehörte eigentlich nicht richtig zur Familie. Er war der Sohn eines Cousins dritten Grades eines Kincardines aus einem verbündeten Clan. Aber der wahre Grund, weshalb Hanoch ihn so bereitwillig akzeptiert hatte – sogar herzlich empfangen –, war, dass Ian auf eine Art und Weise kämpfte, gegen die niemand ankam. Und Ian wurde Avalons Lehrmeister.

Er hatte nie erzählt, wo er jene seltsamen Griffe gelernt hatte. Man wusste nur, dass er lange außerhalb von Schottland gereist war und ferne Länder besucht hatte, deren Namen keiner aussprechen konnte. Viele behaupteten, er würde seine Geschichten erfinden. Sie meinten, Ian hätte einen leichten Stich und er sei nie weiter als bis nach England gekommen. Aber niemand konnte ihm seine Fähigkeiten bei einem Kampf Mann gegen Mann absprechen.

Als das Kind Avalon ihn kennen lernte, war er grau und mürrisch. Und die Zeit hatte diese Eigenschaften noch verstärkt. Er war ein gnadenloser Lehrmeister gewesen. Auf seine Weise trat er genauso hart wie Hanoch auf; denn die beiden Männer hatten einen Pakt geschmiedet, dieses Mädchen zu ihrem eigenen Wunder zu machen. Aus einem sanften Kind wollten sie die Kriegsmaid meißeln, die die Leute brauchten.

Ian war tot. Tatsächlich starb er bereits, kurz bevor sie Schottland verließ; deshalb wusste sie, dass es stimmte. Andernfalls wäre sie wohl jedes Mal zusammengezuckt, wenn sie eine Stimme gehört hätte, die der seinen ähnelte. Ian und Hanoch waren diejenigen gewesen, nach denen man hatte Ausschau halten müssen. Die Wächter wurden in regelmäßigen Abständen ausgewechselt, sodass sie nie eine engere Beziehung zu ihnen hatte aufbauen können. Die Köchin wohnte nicht im Cottage, sondern besaß eine eigene Hütte im Dorf und eine Familie, um die sie sich kümmern musste.

Ihre einzig wahre Gefährtin war die Haushälterin namens Zeva. Unter all den Gesichtern, die sie so aufmerksam beobachteten, ähnelte keines Zevas. Vielleicht war sie auch schon tot.

Nur Zeva brachte ihr je Mitgefühl entgegen. Wenn die Männer nicht da waren, öffnete sie insgeheim die Tür zum Besenschrank, um dem darin eingesperrten Kind Speisen und Wasser hineinzureichen. Nur Zeva hatte ein paar Tränen vergossen, als Avalon mit vierzehn ging. Sie hatte ihr alles Gute gewünscht und gehofft, sie bald wieder zu sehen.

Doch die mittlerweile resignierte Avalon war nicht darauf eingegangen. Gleichgültigkeit stellte ihre wichtigste Verteidigung dar, und nicht einmal für Zeva würde sie sie wieder ablegen.

Nein, Zeva war nicht da, weder auf der Wiese hinter ihr noch in der Menschenmenge ringsum.

Sie wusste nicht recht, was sie fühlte. Hätte Zeva im Tal mit den anderen gelacht? Oder wäre sie im Gedenken an das kleine Mädchen mit den blau geschlagenen Augen und dem geschundenen Körper, das die Dunkelheit hasste, still geblieben? Vielleicht hatte nur Zeva sie je verstanden.

Während sie zur Burg zurückging, die ihr Gefängnis war, grübelte Avalon über die Ironie des Schicksals nach, dass es ihr so lange gelungen war, ihre sorgfältig bewahrte Gelassenheit beizubehalten, um sie ausgerechnet bei Marcus Kincardine zu verlieren. Marcus Kincardine: der Mensch, bei dem sie ihren Panzer der Gleichgültigkeit am nötigsten brauchte, durchbrach ihn sozusagen mühelos.

Ein Reiter galoppierte ihr auf der Straße nach Sauveur entgegen. Er war ein Kincardine; sein hinter ihm flatternder Tartan wies ihn eindeutig aus.

Er brachte aufregende Nachrichten, und sein Anblick ließ aufs Neue ein sanftes Wogen durch die Menge gehen. Anhand der durcheinander wirbelnden Gedanken um sie herum erkannte Avalon, dass er einer der Kundschafter war. Wenn er so schnell auf die Burg zuritt, musste er eine dringende Meldung haben.

Die sie betraf.

Der Kundschafter war sich der Aufmerksamkeit aller bewusst, und ein Teil von ihm freute sich darüber, doch der Rest von ihm ermahnte ihn an seine Pflicht. Er musste den Laird finden, um ihm von der Gruppe von Männern zu berichten, die sich näherte.

Die Chimäre blinzelte und ließ sie einen fernen Blick auf das werfen, was der Kundschafter gesehen hatte. Es waren zehn Reiter mit drei unterschiedlichen Bannern, darunter das von Malcolm selbst, das sie beschützen würde. Die anderen beiden Banner kannte der Kundschafter nicht, im Gegensatz zu Avalon. Das eine trug das Wappen von König Henry, das andere war das rote Kreuz des Papstes.

In der allgemeinen Erregung stieg auch in ihr ein Beben auf. Jedoch aus anderen Gründen.

Man würde sie retten! Die Könige und die Kirche wollten sie retten!

Marcus war von der Wiese heruntergekommen. Mit einer winzigen Geste ließ er Wächter sie in ihre Mitte nehmen. Die großen Männer bildeten einen engen Kreis um sie.

Der Kundschafter stieg ab, verbeugte sich vor Marcus und begann zu sprechen. Es versammelten sich immer mehr Menschen, sowohl Männer als auch Frauen an Ort und Stelle. Als der Kundschafter seine Erzählung fortsetzte, keuchten die Frauen entsetzt auf und blickten zu Avalon, die ihre Furcht spürte. Die Männer zeigten ihre Gefühle nicht so deutlich, doch sie waren genauso besorgt.

Nur Marcus schien die Gelassenheit selbst. Er lauschte dem Mann, ohne ihn zu unterbrechen, und nickte gelegentlich. Am Ende sagte er etwas zu dem Kundschafter und ließ ihn dann stehen. Er kam zu Avalon, die sich von Männern umringt sah.

»Bringt sie auf die Burg«, befahl er und tauchte in der Menge unter.

Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft

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