Читать книгу Süße Prophezeiung/Zeiten der Leidenschaft - Shana Abe - Страница 8
1 Trayleigh, England, September 1159
ОглавлениеDie Kavalkade, die sich der Burg näherte, war aus mehreren Gründen bemerkenswert: das kühne und unverwechselbare, leuchtend rote, grüne und weiße Wappen der d’Farouche; die mindestens vierzig Männer der Eskorte, Soldaten mit glänzenden Schwertern und stolzen Rössern. Die Reisegruppe bildete eine solch geschlossene Form, dass man fast den Eindruck von einem aus glitzerndem Metall bestehenden Tier hatte, das sich durch die Landschaft wälzte. Waffen, Rüstungen und polierter Stahl – die bedrohlichen Zeichen des Krieges – wurden stolz zur Schau gestellt.
Doch das Bemerkenswerteste an dieser Gruppe, die sich durch die sanft geschwungene Hügellandschaft auf Trayleigh Castle zubewegte, war wohl jene Frau, der der ganze Schutz galt.
Nahe der Spitze des Zuges ritt sie, umgeben von Männern, auf einer Fuchsstute.
Lady Avalon hatte es nicht nur abgelehnt, in einer geschlossenen Sänfte getragen zu werden, sondern sie hatte auch die Kapuze ihres Umhangs zurückgeworfen; nun glänzte in der strahlenden Sonne ihr Haar, das von einem so hellen Blond war, dass etliche ihrer Begleiter es mit dem Heiligenschein eines Engels verglichen.
Diejenigen jedoch, die auf der Sänfte bestanden hatten, murrten, dass kein Engel so stur sein könne. Und einigen waren auch die Gerüchte und das Raunen hinter vorgehaltener Hand zu Ohren gekommen. Jenes gefährliche Wort, das kaum einer zu äußern wagte – besonders nicht, wenn man dem ungewöhnlichen Blick jener gewissen Dame begegnete.
»Seht dort, Mylady!« Der Soldat an der Spitze drehte sich im Sattel um und wies in die Ferne, sodass die junge Frau in diese Richtung schaute.
Am Fuße eines flachen Hügels kam allmählich Trayleigh Castle in Sicht, das man bisher nur schemenhaft durch das herbstliche Laub der umgebenden Bäume erkennen konnte. Das war das Heim von Bryce, Baron d’Farouche – ihrem Cousin und Vormund.
Vor zwölf Jahren hatte Lady Avalon d’Farouche miterlebt, wie diese Burg, der Wohnsitz ihrer Familie, in Flammen stand, während sie sich an die Spitze einer Birke klammerte, auf die das Kind am Nachmittag vergnügt geklettert war.
Von diesem Punkt aus, am Rande der nahe gelegenen Wälder, hatte sie fast alles gesehen, was während des Überfalls geschah. Und im Gegensatz zu dem, was die Londoner behaupteten, erinnerte sie sich an jede einzelne Sekunde.
Dichte Wolken aus schwarzem Rauch, die aus jedem Winkel der Burg drangen.
Menschen, die rannten und schrien. Ein unbeschreibliches Chaos. Menschen, die bewegungslos am Boden lagen und Ströme von Blut vergossen.
Ona, ihr Kindermädchen, das zum Baum gerannt kam, auf dem sie saß, und in heller Panik ihren Namen rief.
Die Schar von Männern, die die Frau verfolgten.
Onas Häscher waren wie alle anderen mit Blut überströmt, jedoch auf seltsame Art mit Farben bemalt, und sie trugen Waffen. Sie kamen auf die Birke in wildem Laufe zu. Obwohl Avalon von dem Baum heruntergeklettert war, um Ona vor der Gefahr im Rücken zu warnen, war es zu spät gewesen. Ebenfalls im Gegensatz zu allen Gerüchten, hatte Avalon nicht gesehen, wie ihr Vater starb. Sie war nur Zeugin, wie ihr Kindermädchen neben der Birke abgeschlachtet wurde.
Bei den angemalten Männern handelte es sich um aufständische Pikten, um Männer ohne Heimat oder Ehre. Aber auf die siebenjährige Avalon wirkten sie wie Kreaturen direkt aus einem Albtraum: blau und rot bemalte Kobolde mit glühenden Augen.
Fast wäre sie zusammen mit Ona am Fuße der Birke gestorben, da man ihr genauso erbarmungslos die Kehle aufschlitzen wollte. Doch Onkel Hanoch war gekommen. Hanoch hatte ihren Vater besucht und Hanoch war es gewesen, der sich vorbei an Pfeilen, Äxten und Blut zu ihr durchgekämpft hatte. Und statt ihrer ließen die Kobolde ihr Leben. Er hatte die zukünftige Braut seines Sohnes gerettet und fort, weit fort gebracht, in die kälteste Region des ganzen Landes – nach Schottland.
Ja, das letzte Mal, als Avalon Trayleigh gesehen hatte, lag sie in den Armen von Hanoch Kincardine. Man trug sie fort, während sie wie eine Besessene schrie und weinte und um sich trat – bis man ihr einen Stofffetzen in den Mund stopfte, der nach Rauch und Tod schmeckte.
Aber der heutige Tag war herrlich und eine Ewigkeit seit jenem Drama vergangen. Die Sonne schien auf sanft geschwungene, grüne Hügel und endlose Weiden. Die Landschaft strahlte eine vollkommene Ruhe aus. Jetzt erkannte Lady Avalon d’Farouche, die junge Frau, dass Trayleigh Castle sich von jenen schrecklichen Ereignissen vor zwölf Jahren erholt hatte.
Während der Jahre ihrer Abwesenheit hatte sie sich nicht so sehr der prächtigen Burg erinnert, in der sie geboren worden war, sondern des verheerenden Chaos’, das sie an jenem Tag aus der Ferne mit ansehen musste. In ihrer Vorstellung hatte Trayleigh in diesem Zustand verharrt – brennend, triefend vor Blut und in die Knie gezwungen.
Die Pikten waren nie gefasst worden. Sie hatten geplündert und geraubt und waren dann einfach wieder in der Wildnis verschwunden. Die einzige Erklärung, die man Avalon je hatte geben können, sprach von Abkömmlingen eines fernen nördlichen Klans, der sich der Herrschaft jedes Königs sowie Gesetz und Ordnung widersetzte. Ob es nun Pech oder Schicksal gewesen war, dass sie sich ausgerechnet Trayleigh ausgesucht hatten, um ihrem Zorn zu frönen, wusste niemand.
In einem Winkel ihres Herzens erwartete Avalon deshalb immer noch, denselben Rauch zu sehen, der sich bis in den Himmel hochfraß, als sie sich im Sattel umwandte.
Aber die Burg, die sie jetzt begrüßte, stand nicht in Flammen. Auch mit dem Bild aus glücklicheren Tagen stimmte sie nicht überein.
Sie war viel kleiner und für einen Erwachsenen nicht annähernd so beeindruckend, wie sie auf das Kind damals gewirkt hatte. Die schlichten, geraden Formen reckten sich in die Bäume hinauf; aber sie schienen nicht bis zu den Engeln zu reichen, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Die Rasenflächen waren gepflegter und die Hecken besser gestutzt. Oder vielleicht hatte sie diese Dinge seinerzeit einfach nie bemerkt.
Die alte Birke, auf der sie während des Überfalls gesessen hatte, war nun größer und die Äste dicker. Offensichtlich hatte sie nicht das Schicksal der Burg ereilt.
Aber die Luft roch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte, und Avalon war überglücklich, dass es zumindest noch etwas Vertrautes gab: den Duft des Geißblatts und des Grases.
Der Söldner ihres Cousins sah ihr Lächeln und schob sein Visier nach oben, während er sie bewundernd betrachtete.
»Ganz reizend«, sagte er, und sie nickte erfreut.
Der Wachtposten hatte sie erspäht, und das Tor wurde geöffnet.
Avalon versuchte sich zu erinnern, ob ihr Vater das Tor zu verschließen pflegte. Sie hatte keine Ahnung – wahrscheinlich nicht!
Geoffrey d’Farouche war bei all seinem Ruhm als Ritter des Königs bereits ein älterer Mann gewesen, als sie zur Welt kam. Er war schlecht darauf vorbereitet, ein Kleinkind aufzuziehen, nachdem ein Fieber seine junge Frau dahingerafft hatte. Avalon wurde in die Obhut eines Kindermädchens gegeben und fast vergessen, so weit sie sich entsann. Die Erinnerung an ihren Vater beschränkte sich auf seine Augen, seinen Bart und den Klang seiner Stimme. War er streng oder freundlich gewesen, hatte er sich von praktischen Erwägungen oder gefühlsmäßigen Entscheidungen leiten lassen? Sie würde sich an ihn immer nur wegen zweier Dinge erinnern: Er hatte ihre Verlobung arrangiert und auf schicksalhafte Weise dafür gesorgt, dass Hanoch Kincardine kurz vor dem Überfall aus Schottland eingetroffen war.
Feierlich zog die Eskorte durch die riesigen Tore in den mit Kopfsteinen gepflasterten Hof. In der Mitte hielten sie an. Ein Knecht eilte herbei und half ihr vom Pferd. Dann griff er nach den Zügeln und führte das Ross davon.
»Cousine!«, erklang ein herzlicher Ruf, und Avalon drehte sich zu einem großen, reich gewandeten Mann um, der etwa im Alter ihres Vaters stand, hätte dieser noch gelebt. Er näherte sich ihr mit offenen Armen und einem breiten Lächeln. Sie tat ein paar Schritte auf ihn zu, doch er war schneller und zog sie in seine Umarmung. Die schweren Steine aus Onyx auf seiner Tunika bohrten sich in ihre Haut.
Sie ließ es geschehen, löste sich aber von ihm und brachte die Schleppe ihres Kleides wieder in Ordnung.
»Sag nicht, dass du den ganzen Weg geritten bist?« Der Mann – ihr Cousin Bryce, nahm sie an – warf ihr einen ungläubigen Blick zu und riss dabei seine grauen Augen auf. Er wandte sich an den Söldner.
»Und Ihr habt das zugelassen, Cadwell?«
»Es war meine Idee, Mylord«, warf Avalon schnell ein. »Ich hasse es, eingeschränkt zu sein, müsst Ihr wissen.«
»Aha!« Bryce betrachtete sie erneut, und obwohl immer noch ein Lächeln auf seinen Lippen lag, schien er etwas verwirrt. Dahinter erhaschte Avalon einen Blick auf noch etwas: Verärgerung.
»Du musst nicht so förmlich bei mir sein, liebe Avalon«, tadelte er milde. Sein Tonfall war immer noch ausgesprochen jovial. »Nenn mich doch bitte Bryce.«
»Wie nett«, erwiderte sie. »Du darfst mich Avalon nennen. Aber das tust du ja eigentlich schon.«
Er zögerte einen Augenblick und brach dann in Lachen aus, denn er hielt sie anscheinend für spaßig. Das war wahrscheinlich auch am besten so. Sie wusste nicht, was über sie gekommen war. Diesen Mann wollte sie sich nicht früher als unbedingt nötig zum Feind machen.
»Willkommen zu Hause!«, sagte er jetzt. »Ich hoffe doch sehr, dass ich dir keine zu großen Unannehmlichkeiten bereitet habe, indem ich nach dir schickte, Cousine?«
»Keineswegs«, antwortete Avalon und meinte es auch so.
»Deine Gefährtin – wie hieß sie doch noch gleich?«
»Lady Maribel.« Sie war seit fünf Jahren Avalons ständige Anstandsdame. Wahrscheinlich schaffte es ihr Vormund über eine solche Zeitspanne hinweg nicht, ihren Namen zu behalten. Obwohl er selbst die Anweisung gegeben hatte, dass sein Mündel bei ihr leben sollte.
»Ja, natürlich. Lady Maribel war hoffentlich nicht zu ungehalten darüber, dass du sie in London zurückgelassen hast?«
»Meiner Ansicht nach hat das in keiner Weise ihr Missfallen erregt, Mylord.«
Praktisch hatte Lady Maribel selbst Avalons Reisetruhen gepackt, um ihr so zu helfen, dem kommenden Skandal zu entgehen. Maribels Ruf war zu lauter, als dass sie überhaupt in Erwägung gezogen hätte, ihn zu besudeln – obwohl sie all die Jahre Avalon gegenüber, wenn auch etwas distanziert, so doch mitfühlend gewesen war.
»Zwar hat es meine Gemahlin vorgeschlagen, dass du nach Trayleigh kommst; doch ich war es, der das Ganze in die Wege leitete!« Bryce lachte und spreizte seine großen Hände über seinem Bauch. »Ich fürchte, ich bin kein sehr geduldiger Mann!«
»Deine Eile war nicht unwillkommen«, murmelte Avalon.
Die Aufforderung wurde in genau jener Nacht der Feier bei Hofe mit einiger Dringlichkeit von einem Mann überbracht, der die Farben ihrer Familie trug. Sie hatte das Wappen der d’Farouche so lange nicht gesehen, dass sie mehr als eine Minute brauchte, um es zu erkennen, auf den Mann zuzutreten und das Schreiben ihres Vormunds entgegenzunehmen.
Ihre Anwesenheit in Trayleigh wurde gewünscht. Man wollte, dass sie auf Befehl von Lord d’Farouche nach Hause kam, hieß es in dem Brief. Sie hatte all ihre Beherrschung aufbringen müssen, um nicht vor Freude durch den ganzen überfüllten Raum zu tanzen. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, warum er sie zu sich zitierte. Alles, was zählte, war, dass sie London entfliehen konnte.
Was für eine Ironie des Schicksals, dass die Rettung durch diesen Mann kam, der den Titel ihres Vaters nach dem Überfall geerbt hatte. Die hübschen jungen Damen hatten zumindest in einer Sache Recht gehabt: Vor fünf Jahren schickte Bryce sie umgehend nach Gatting. Er hatte sie nicht einmal sehen wollen, als sie unerwartet als Überlebende des lange zurückliegenden Überfalls auf die Burg der Familie aus Schottland auftauchte, obwohl er ihr zuvor noch nie begegnet war. Das kam einer öffentlichen Demütigung gleich. Im schwierigen Alter von vierzehn Jahren schickte man sie auf Lady Maribels Landsitz, und die Familie ignorierte sie seither – soweit Avalon wusste – vollkommen.
Aber nun hatte Bryce doch nach ihr geschickt. Nach langer, langer Zeit war sie endlich wieder zu Hause.
Während sie ihren Cousin musterte, diesen Fremden, der meinte, ihr Schicksal zu lenken, spürte Avalon das erste Mal ein leichtes Unbehagen. Sie konnte nicht sagen, wodurch es hervorgerufen wurde. Waren es seine großen Hände oder die blühende Gesichtsfarbe? Irgendetwas kam ihr falsch vor ...
Es war vollkommen normal, sie nach Hause einzuladen, hatte sie sich selbst beruhigt. Trotz allem gehörte sie zur Familie. Schließlich war ihr Vater vor ihm Lord d’Farouche gewesen. Vielleicht hatte ihr Vormund endlich beschlossen, sie anzuerkennen, weil er der Meinung war, dass sie genug Zeit mit Maribel in Gatting und London verbracht hatte.
Bryce ließ wieder sein Lachen ertönen. »Komm und lerne meine Frau kennen. Sie hat sich so sehr auf deine Ankunft gefreut! Ich wage zu behaupten, dass sie fast die ganze vergangene Woche von nichts anderem als deinem Kommen gesprochen hat!«
Im Schatten der Tür, die in die große Halle führte, stand eine Frau mit rötlichem Haar in einem scharlachroten Kleid. Mehrere andere Damen umgaben sie. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um Kammerdienerinnen. Bryce hakte sie unter, und sein Griff war so fest, dass sie fast über ihre Röcke stolperte, als sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten, während er sie zu dieser Gruppe führte.
Er zog sie neben sich und präsentierte sie seiner Frau wie eine kostbare Trophäe.
»Schau, wen wir hier haben, Claudia! Unsere schöne Cousine Avalon!«
Die so Angesprochene trat nicht aus dem Schatten. Sie legte den Kopf zurück, als müsste sie etwas ins Auge fassen, das zu nahe war. Dann blickte sie über Avalons Schulter in die Ferne.
»Willkommen auf Trayleigh Castle.« Ihre Stimme hatte einen heiseren schleppenden Klang. »Oder eher: willkommen zurück.«
»Danke«, erwiderte Avalon etwas ratlos, während sie angesichts der Worte der Frau gegen ein heftiges Gefühl der Enttäuschung ankämpfte. Niemand konnte reinen Gewissens behaupten, dass Claudia sich freute, und vielleicht wurde Bryce deshalb sogar noch überschwänglicher, um ihren Mangel an Begeisterung auszugleichen.
»Du musst erschöpft sein, liebe Cousine. Komm herein. Ruhe dich aus. Sicher bist du glücklich, wieder zu Hause zu sein.«
Avalon ging mit ihm an der langen Reihe von Frauen vorbei, die sie alle bis auf Claudia neugierig anschauten.
Auch die große Halle sah jetzt anders aus, als sie auf die kindlichen Augen gewirkt hatte. Sie musste geschrumpft sein, die Wandbehänge und die Tische waren andere. Selbst die Lichtverhältnisse schienen sich geändert zu haben. Alles wirkte schärfer und hatte härtere Konturen. Irgendetwas war seltsam, kam ihr falsch vor, doch Avalon konnte es nicht benennen. Das Unbehagen, das sie schon vorher gespürt hatte, verstärkte sich und ließ sich kaum mehr unterdrücken.
Sie spürte, wie sich die Chimäre unruhig im Schlaf wälzte.
Bryce winkte mit der Hand, und eine Magd, die kaum älter als Avalon war, trat vor.
»Man wird dich zu deinen Räumen führen, wo du dich bis heute Abend ausruhst. Wir freuen uns, wenn du uns dann Gesellschaft leistest.«
Avalon schaute zu ihrem hellhaarigen und in seiner mit Steinen besetzten Tunika eindrucksvoll wirkenden Cousin auf. Der unterschwellige Befehl in seinen Worten war ihr nicht entgangen. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde übermächtig und streckte langsam seine Greifarme aus.
»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Cousin Bryce«, sagte sie und machte einen Knicks.
Er warf ihr ein strahlendes Lächeln zu.
»Dir auch guten Einstand, Avalon!«
Die Räume, die man ihr zugewiesen hatte, waren nicht dieselben, die sie als Kind bewohnt hatte. Sie meinte, sich zu erinnern, dass diese Gemächer einst eine Edelfrau, eine vornehme Dame, bewohnte, die immer ein nettes Wort für sie übrig gehabt hatte. Wer war das noch gewesen? Ah, Lady Luedella. Avalon fragte sich, was aus ihr geworden sein mochte. Doch dann verdrängte sie den Gedanken. Wenn die Pikten sie gefunden hatten, wollte Avalon es nicht wissen.
Die Gemächer gefielen ihr. Die Bettstatt war sauber und dick mit Pelzen bedeckt. Die Binsen auf dem Boden dufteten frisch. Im Kamin brannte ein Feuer. Sie hatte sogar einen persischen Teppich, dessen verschlungene Muster und Blumen bei ihr Schwindel hervorriefen, wenn sie ihn länger betrachtete.
Alles war zufrieden stellend – ja, die Ausstattung grenzte fast an Luxus und spiegelte damit den Reichtum des Landsitzes wider. Warum konnte Avalon dennoch nicht das Gefühl loswerden, in einer Falle zu sitzen?
Sie trat ans Fenster und blickte auf der Suche nach der alten Birke hinaus. Die höchsten Äste waren zu sehen, doch mehr nicht. Die Birke stand auf der anderen Seite der Burg. Erfreulicherweise war das Wenige, was sie von dem Baum erblickte, grün.
Niemand sprach je mit ihr über die einstige Tragödie. Weder Hanoch noch Maribel oder die Dienstboten. Es schien, als wollte jeder sie aus der Geschichte tilgen. Gab es noch irgendjemanden von damals, als Avalon sich rundum glücklich fühlte? Vielleicht. Vielleicht ...
Eine kleine und ehrerbietige Magd trat ein. Sie machte einen Knicks und öffnete dann weit die Tür für mehrere Männer, die Avalons Truhen hereintrugen. Es gab eine Menge davon.
Avalon und die Magd schauten zu, wie die Knechte die Truhen an der Wand abstellten und dann wieder gingen, um mit weiteren zu kommen.
»Sag mal«, setzte Avalon an und brachte das Mädchen dazu, erschreckt aufzufahren. Sie unterdrückte ein Lächeln. »Entschuldige bitte.«
Verlegen errötete das Mädchen und wich ihrem Blick aus.
»Könntest du mir zufälligerweise sagen, was aus der Dame geworden ist, die diese Räume bewohnte?«
Die Magd warf ihr einen betretenen Blick zu, als ob die einfache Frage sie überforderte, und schüttelte dann den gesenkten Kopf.
»Nun denn ... oder kennst du jemanden, der das wissen könnte?«
Bei diesen Worten schaute das Mädchen Avalon fast ängstlich an und dann zu den Männern hinüber, die immer noch kamen und gingen. Avalon folgte ihrem Blick. Sie bezweifelte, dass die Magd das sah, was sie wahrnahm: das seltsame Gefühl, das sie schon unten in der Halle erfasst hatte und ihr sagte, etwas sei falsch; es kroch über die Schwelle der offenen Tür, und die sich windenden Tentakeln schlangen sich um die Knöchel des Mädchens. Avalon blinzelte ein paarmal, dann war die Vision verschwunden.
Die Magd hatte sich nicht gerührt, und Avalon wandte sich erneut an sie.
»Vielleicht könntest du mir ja einfach deinen Namen nennen?«
»Elfrieda, Mylady«, flüsterte das Mädchen.
»Elfrieda.« Ein Mann trat mit der letzten Truhe auf den Schultern ein, setzte sie neben den anderen ab und verbeugte sich zum Abschied. Avalon betrachtete das Mädchen forschend. »Wie alt bist du?«
»Vierzehn, Mylady.«
»Vierzehn! So alt! Du siehst aus, als könntest du meine Tochter sein.«
Elfrieda schaute hoch, die kleine Übertreibung machte sie aufgeschlossener. »Ganz bestimmt nicht, Mylady! Ihr seht jünger aus als meine Schwester, Mylady, und die ist älter als Ihr!«
Avalon stieß ein leises Lachen aus. »Meinst du wirklich? Da bin ich aber froh.« Sie ging zu einer der Truhen und hockte sich auf den Deckel.
»Elfrieda, sag mal, kennst du wirklich niemanden, der etwas von Lady Luedella weiß? Sie bewohnte diese Zimmer, als ich ein Kind war. Ich wäre für jeden Hinweis dankbar.«
Warum sie plötzlich so entschlossen war, das Schicksal der Frau zu erkunden, konnte Avalon nicht sagen. Es schien einfach sehr, sehr wichtig zu sein.
Sie griff in die Falten ihres Rockes und zog eine kleine, mit Juwelen besetzte Börse hervor, die mit einer Kette an ihrem Gürtel befestigt war. Sie löste das Band, das die Börse zusammenhielt, und schüttelte zwei Goldmünzen in ihre Hand.
Ungläubig starrte Elfrieda sie an, als Avalon sie ihr hinhielt.
»Für jederlei Hilfe«, wiederholte sie ruhig.
Das Mädchen trat einen winzigen Schritt vor, während es einen gequälten Blick erst auf Avalon und dann auf die Münzen warf. Avalon fing Bruchstücke ihrer Gedanken auf.
Essen genug für Wochen! Neues Saatgut für die Felder. Vielleicht sogar eine Kuh für Mama, Milch für das Baby ...
»Nimm es«, sagte Avalon, ohne zu zögern. Sie stand auf und drückte die Münzen in die Hand des Mädchens. Dann wandte sie sich, empört über sich selbst, ab. Was war nur in sie gefahren, mit so einem Kind ihr Spielchen zu treiben?
Unter Knicksen und gemurmelten Dankesworten verließ Elfrieda den Raum.
Avalon trat wieder ans Fenster und schaute blicklos nach draußen.
Cousin Bryce lachte lang und laut über eine Bemerkung von Avalon, die eigentlich nicht besonders witzig gewesen war.
Avalon merkte, dass er dieses Lachen in regelmäßigen Abständen während des Abendessens anstimmte und von Ausrufen seinerseits über ihren Geist und Charme begleitet wurde. Es war lästig und ermüdend. Avalon überlegte, ob er vielleicht dachte, sie sei so geistlos, dass er sie damit zum Narren halten könne. Oder er meinte, eine glaubwürdige Vorstellung zu liefern, und wollte wirklich wissen, was sie von seiner Präsentation des Lauchkuchens hielt – weshalb er es dreimal wiederholte.
Also lächelte sie höflich und nickte, machte passende Bemerkungen gegenüber ihrem Gastgeber, während sie an seinem Tisch auf der Estrade in der Halle aß, die ihrem Vater gehört hatte.
Soldaten und Edelleute reihten sich nebeneinander auf langen Bänken und nahmen die Mahlzeit fast schweigend ein, während ihr Cousin eine Anekdote nach der anderen zum Besten gab und immer wieder nach ihrer Meinung fragte. Er bot ihr die schmackhaftesten Bissen von jedem Gericht an und scharwenzelte die ganze Zeit um sie herum, indessen sie sich ihrem Teller widmete. Ständig pries er ihre Manieren und schenkte ihr nach, bis ihr Kelch schließlich unberührt bis zum Rand gefüllt war.
Es schien Avalon fast so, als würde er ihr den Hof machen. Sie konnte es nicht fassen. Doch dann schob sie diese Idee schnell von sich. Egal wie übertrieben freundlich er auch scheinen mochte, so war Bryce d’Farouche doch immer noch ihr Cousin, wenn auch um ein oder zwei Ecken herum. Und er besaß ja auch bereits eine Gemahlin.
Avalon bemerkte, dass Lady Claudia fast gar nichts aß. Sie saß einfach nur zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und trank von ihrem Wein, während sie ihren Ehemann und Avalon beobachtete. Bei Avalons vorsichtigem Versuch, sie in die Unterhaltung einzubeziehen, hatte diese sie nur schweigend angestarrt und Avalons höfliche Bemerkung zu irgendeinem nebensächlichen Thema unbeantwortet gelassen. Dann hatte sie sich abgewandt und noch einen Schluck aus ihrem Kelch genommen. Bryce wollte die Peinlichkeit überbrücken, indem er Avalon den Rehbraten vom nächsten Gang anbot. Doch Avalon lehnte ab.
Sie hatte noch nie einer solch seltsamen Mahlzeit beigewohnt. Nicht in Schottland, wo eine ausgelassene Stimmung herrschte, während man aß, noch in Gatting, wo man ihr beigebracht hatte, dass es sich in der Welt der Vornehmen nicht gehörte, die Unterhaltung während der Mahlzeit nur von einer Person bestreiten zu lassen.
In der Halle ihres Vaters war es immer laut und fröhlich zugegangen. So hatte es zumindest dem kleinen Mädchen geschienen, das neidisch von der Haupttreppe aus nach unten geblinzelt hatte und noch zu jung war, um dabei sein zu dürfen.
Aber das gab es nicht mehr. Dies war nicht das Heim ihrer Erinnerung. Eine gewisse Anspannung lag in der Luft. Daran bestand kein Zweifel. Das Misstrauen, das sie schon in ihren Räumlichkeiten gespürt hatte, wurde noch von den nervösen Blicken der Edelleute und dem verbissenen Kauen der Soldaten verstärkt. Auf den Lippen der rastlos lauernden und bis oben hin mit Wein abgefüllten Lady Claudia lag nun ein leichtes Lächeln.
Avalon musste sich zurückhalten, um nicht nach dem letzten Gang aufzuspringen.
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft, Cousin«, sagte sie, während sie ihren Stuhl mit einer, wie sie hoffte, nicht allzu hastigen Bewegung zurückschob.
Bryce erhob sich viel schneller. »Was? Willst du dich etwa schon so früh zurückziehen, liebe Avalon?«
Stille senkte sich über die Halle.
Sie verharrte immer noch sitzend und erwiderte dann: »Ja, gewiss. Es ist ein sehr langer Tag gewesen.«
Bryce brachte sich hinter Claudias Stuhl in Stellung, während Avalon ihn vorsichtig beobachtete. Er legte eine seiner fleischigen Hände auf die Schulter seiner Gemahlin.
»Aber es ist doch noch nicht spät, Avalon! Sag nicht, dass du uns jetzt schon verlassen willst. Claudia hat sich so darauf gefreut, dich nach dem Abendessen spielen zu hören, nicht wahr, meine Gemahlin?«
Lady Claudias Zähne waren vom Rotwein verfärbt, wodurch ihr Mund rubinrot schimmerte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und verzog sie zu einem schwachen Lächeln. »So ist es.«
Doch Avalon stand auf, und ihr Ton war bestimmt.
»Es tut mir wirklich sehr Leid, aber leider besitze ich kein musikalisches Talent. Ich kann nicht spielen.«
Bryce legte auch seine andere Hand auf Claudias Schulter. »Natürlich kannst du es nicht. Wie dumm von mir, so etwas vorzuschlagen! So wie du aufgewachsen bist, hattest du natürlich nicht die Gelegenheit ...«
»Auch in Schottland gibt es Musik, Mylord«, fiel sie ihm ins Wort. Sie war eher amüsiert als verärgert. »Ich wollte damit nur sagen, dass ich nicht über die Fähigkeit verfüge.«
»Dann wird Claudia für dich spielen, nicht wahr, meine Liebe?«
Claudia neigte den Kopf und schien in ein Lachen ausbrechen zu wollen.
»Aber gerne«, keuchte sie nach einem Moment. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben, als Claudia zu folgen, die zum Kamin ging. Es lag immer noch dieses seltsame Lächeln auf ihren Lippen.
Soweit Avalon das beurteilen konnte, beherrschte sie das Psalterium ziemlich gut. Sie hätte angenommen, dass sonst flinke Finger durch den vielen Wein unbeholfen in die Saiten greifen würden. Doch Claudia hielt ein gleichmäßiges Tempo, das sie mit dem rhythmischen Klopfen ihres Fußes auf den Boden begleitete, während sie mit ihrer leicht heiseren Stimme eine lebhafte Weise zum Besten gab.
Die Frauen hatten sich rings um sie versammelt. Die Reste der Mahlzeit waren von der Dienerschaft abgeräumt worden, und die Männer hatten sich zurückgezogen. Avalon war es schleierhaft, was sie taten. Sogar Bryce hatte die Schar verlassen, nachdem sichergestellt war, dass Avalon nicht vom Kamin wegkonnte. Er hatte seine Gattin mit seiner lauten und fröhlichen Stimme noch inständig gebeten, ja weiterzuspielen.
Und das tat Claudia. Nachdem Bryce gegangen war, stimmte sie ein Lied nach dem anderen an. Jetzt sang sie eine französische Ballade, die langsamer und melancholischer war. Die Stimmung schien die Schar der Frauen zu durchdringen. Claudia legte nur kurze Pausen ein, um zwischendurch einen Schluck Wein zu sich zu nehmen.
Avalon legte die Wange in ihre Hand und starrte ins Feuer. Sie wünschte sich in die Einsamkeit ihres Raumes, statt hier den traurigen Klängen des Instruments und tragischen Melodien zu lauschen. Das Feuer erlosch allmählich und sank zu einer rauchenden Glut zusammen.
Claudia beendete gerade ein weiteres Stück, und Avalon stand schnell auf, um sich zurückzuziehen.
»Ihr spielt wunderbar«, lobte sie, während sie sich von der Gruppe entfernte. »Es ist schade, dass ich mich jetzt ausruhen muss. Aber meine Augen fallen mir einfach zu.«
Zu ihrem Erstaunen versuchte Claudia nicht, sie aufzuhalten. Sie strich nur über die Saiten, während sie zusah, wie Avalon sich zurückzog. Die sterbenden Flammen spiegelten sich deutlich in ihren Augen wider.
»Seid bedankt«, sprach Avalon weiter, die vor Ungeduld brannte zu gehen, doch gleichzeitig versuchte, dem Moment einen Anstrich von Normalität zu verleihen. »Ich wünsche Euch eine gute Nacht.«
»Cousine«, erklang eine Stimme hinter ihr.
Avalon drehte sich um und sah Bryce, der aus der Dunkelheit herausgetreten war und ausnahmsweise einmal schweigend auf der Schwelle stand. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon dort verharrte.
Neben ihm stand weiter hinten im Schatten ein Mann. Beide betraten jetzt den Raum.
Claudia zupfte nach wie vor an den Saiten ihres Psalteriums. Sie hatte ihre Lippen zu einem Schmollmund verzogen und schaute nach unten.
»Lady Avalon, ich stelle dir deinen Cousin Warner, meinen Bruder, vor. Bitte, entschuldige seine Erscheinung, aber er ist gerade erst vom Festland zurückgekehrt.«
Warner trat vor und griff nach ihrer Hand, um sich darüber zu beugen. Wie Bryce wirkte auch er groß und hell, mit grauen Augen und sandfarbenem Haar; doch zählte er mindestens zwanzig Jahre mehr als Avalon. Er war von einer feinen Staubschicht bedeckt, die die Falten um seine Augen und um den Mund wie Spinnweben erscheinen ließ.
»Cousine«, hauchte er gegen ihren Handrücken.
Sofort befiel sie ein Frösteln, das ihren Arm nach oben kroch, und sie dachte: Aber natürlich, Bryce hat mir nicht den Hof gemacht. Allmächtiger, er will mich nicht für sich selbst ...
Er wollte sie für diesen Mann. Für seinen Bruder.
Bei dieser Entdeckung entwich ihrer Lunge der letzte Atem, und ihre Finger wurden kalt, obwohl Warner sie drückte. Bryce registrierte aufmerksam ihre Reaktion.
Einen Augenblick lang musste sie seine Frechheit bewundern. Tatsächlich plante er, das Eheversprechen zu brechen. Er trotzte dem Zorn zweier Könige und dem Clan Kincardine, damit sie in seiner Familie verblieb. Der Zorn, den er hervorriefe, würde gewaltig sein.
Aber damit behielte er auch all ihre Ländereien und ihr Vermögen. Und das war ebenfalls gewaltig.
Sie unterdrückte das Lachen, das in ihrer Kehle aufstieg. Sie entzog Warner ihre Hand und nickte ihm kühl zu.
»Es ist mir ein Vergnügen«, erklärte er, während er ihr Gesicht musterte und seinen Blick dann dreist über ihre Schultern zu den Brüsten wandern ließ.
Avalon trat einen Schritt zurück. »Bedauerlicherweise kann ich nicht länger verweilen, Mylords. Ich bin heute weit gereist. Jedoch sicherlich nicht so weit wie Ihr, Cousin Warner.« Sie gewährte Warner ein dünnes Lächeln und sah seinen Blick auf ihren Lippen ruhen.
Endlich traf Claudia eine falsche Note auf ihrem Instrument.
»Ich stelle fest, dass auch ich müde bin«, bemerkte sie, während sie aufstand und das Psalterium einer Frau aus ihrem Gefolge reichte. »Lady Avalon kann ich zu ihren Gemächern begleiten, Mylord.«
Bryce blickte erst seine Gattin forschend an, dann Avalon, die sich bemühte, ungeduldig zu erscheinen.
»Also wünsche ich euch eine gute Nacht, meine Lieben«, wandte er sich an beide und verbeugte sich.
»Ich freue mich schon darauf, Euch morgen früh zu sehen«, sagte Warner zu Avalon. Wieder nickte sie und griff nach Claudias Arm. Sie beachtete sein Starren auf ihren Rücken nicht, als sie den Raum verließen.
Avalon kannte den Weg zu Luedellas Gemächern, doch sie blieb schweigend an Claudias Seite und passte, sich deren langsamem und gemessenem Schritt an, der vielleicht eine Folge des vielen Weins war.
Warner heiraten! Bei diesem Gedanken unterdrückte Avalon wieder ein erstauntes Lachen. Dann warf sie Claudia einen Blick zu, die in ihrem benebelten Zustand gelassen weiterging.
Die Idee war vollkommen verrückt, aber Bryce’ Pläne warfen ihre eigenen über den Haufen. Die Folgen, mit denen zu rechnen war, reichten von ungelegen bis katastrophal. Das hing davon ab, wie schnell er sie in diese Verbindung zu drängen gedachte.
»Morgen Abend veranstalten wir eine Feier«, verkündete Lady Claudia gelassen den Mauern, an denen sie vorbeikamen.
»Oh?«
Vielleicht besaß Claudia ihre eigene Chimäre. Sie schien zu wissen, was Avalon dachte. Ihre Miene war ausdruckslos, als sie Avalons Blick begegnete. »Könnt Ihr erraten, warum, Mylady?«
Katastrophale Folgen ...
»Ich glaube schon.«
»Das habe ich mir gedacht.«
Claudia ließ diese Bemerkung einen Augenblick in der Luft hängen, bis sie einen Posten passiert hatten, der einen Durchgang bewachte. Dann setzte sie das Gespräch fort.
»Männer tun seltsame Dinge, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte ihr Avalon von ganzem Herzen zu.
»Nehmt irgendeinen! Nehmt zum Beispiel meinen Ehemann. Euren eigenen Cousin. Er mag eine Burg besitzen, mag Ländereien haben, die endlos reichen. Macht, Dienstboten, Ritter nennt er sein Eigen. Er mag all dies haben, aber wird das seinen Durst nach mehr löschen?«
Die Antwort sparte Avalon sich.
»Ein Mann ist ein unergründliches Wesen«, meinte Claudia nachdenklich. »Wir Frauen werden nie die Wünsche, die sie in ihrem Geist und Herzen hegen, verstehen. Vielleicht ist es auch besser so – wenn man beispielsweise nicht weiß, warum ein Mann etwas Übereiltes tut. Etwas, das mit Sicherheit Kummer über dieses Haus bringen wird.«
Sie waren bei Luedellas Tür angekommen. Claudia ließ ihren Arm los. »Vielleicht ist es ein Glück, nicht zu verstehen, warum ein Mann seine Existenz aufs Spiel setzt, indem er zwei Königreichen und mächtigen Familien trotzt – nur um noch mehr zu erlangen, als er bereits hat.«
Claudias Gesichtszüge wirkten durch das Licht der Fackeln weicher. Der Schein fing sich im Dunkel ihrer Augen und wurde davon verschlungen.
»Vielleicht«, bestätigte Avalon.
»Ich habe gehört, Euer Verlobter soll von seinem Kreuzzug zurückgekehrt sein, Lady Avalon. Marcus Kincardine ist wieder nach Hause gekommen.«
Die Neuigkeit traf Avalon wie ein Schock; doch sie versuchte, keine Miene zu verziehen. Von Claudia erhielt sie ein bitteres Lächeln.
»Es ist wahr. Er soll bereits unterwegs sein, um seine Braut für sich zu beanspruchen. Das scheint mir auch der Grund dafür, warum Warner so schnell aus Frankreich anreiste und warum mein Ehemann Euch so plötzlich hat herbringen lassen. Vermutlich habt Ihr nun eine sehr klare Vorstellung von dem, was morgen Abend bei der Feier geschehen wird. Warner kann sich den Luxus nicht leisten, lieb und nett um Eure Hand anzuhalten. Er ist ein Mann ganz nach meines Gatten Sinn, glaube ich, der nichts gegen ...«, sie schien einen Moment nach dem richtigen Wort zu suchen und legte einen Finger an die Lippen, »... gegen Gewalt hat, nehme ich an.«
Avalon fehlten die Worte. Das eben Gehörte verwirrte sie völlig. Sie stand mit klopfendem Herzen da, während sich ein Anflug von Panik in ihr breit machte.
»Ist Euch bewusst, was dieser Kincardine in der Fremde vollbracht hat, Cousine Avalon? Ist Euch bewusst, wie sie ihn nennen, Euren Verlobten, jenen Mann, mit dem mein Gemahl sich anlegen will?«
Stumm schüttelte Avalon den Kopf.
»Man nennt ihn den Schlächter der Ungläubigen«, erklärte Claudia ihr. Bleischwer senkten sich die Worte auf sie. »Ein Schlächter! All diese Jahre, die er fort war, hat er getötet und getötet und nochmals getötet. Da wird es keine große Sache für ihn sein, die Familie auszurotten, die es gewagt hat, seine Braut zu stehlen.«
Claudia wandte sich ab. Das Gesagte schien sie selbst zu überwältigen. Aber nach einem kurzen Moment drehte sie sich schon um und blickte Avalon forschend ins Antlitz. Einmal mehr war im flackernden Schatten ihrer Miene keine Regung zu entnehmen.
»Ihr seid sehr schön, Cousine. In der Tat seid Ihr so schön, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ihr habt das Aussehen von Eurer Familie mütterlicherseits geerbt. Das wird Marcus Kincardine gefallen. Gute Nacht! Süße Träume!«
In ihrem langsamen, gemessenen Schritt wandte sie sich ihren eigenen Gemächern zu.
Avalon betrat ihren Raum und hastete blindlings zur Bettstatt. Sie musste nachdenken. Nein – sie musste handeln!
All ihre Pläne lösten sich vor ihren Augen in nichts auf. Sie besaß immer noch das Gold, das sie sorgfältig in das Futter ihrer Umhänge genäht hatte – die Juwelen, die klein und leicht zu verstecken waren. Zumindest war sie nicht mittellos!
Aber alles andere ... der morgige Tag kam schon so bald. Wie sollte sie nur in diesen wenigen Stunden ein passendes Kloster ausfindig machen? Wohin sollte sie sich wenden?
Avalon stellte schon seit langem Überlegungen an, wie sie wohl ihrem Schicksal entfliehen könnte. Ihre Kindheit in Schottland hatte ihr überdeutlich gezeigt, dass sie nie wieder dorthin zurück wollte. Paradoxerweise hatte Hanoch selbst dafür gesorgt. Und doch war er fest entschlossen, sie mit seinem Sohn, seinem einzigen Nachfolger zu verheiraten. Diese Entschlossenheit hatte schon auf das Kind Avalon wie eine Obsession gewirkt. Nachdem die Pikten gekommen waren, ließ er sie streng bewachen und hielt sie versteckt in einem völlig abgeschiedenen Hochlanddorf. Es hatte der vereinten Bemühungen der Könige von England und Schottland bedurft, damit sie in die Obhut ihres gesetzlichen Vormunds zurückkehrte. Und auch das war nur gelungen, nachdem sie geschworen hatte, als Braut von Marcus zum Clan zurückzukehren.
Avalon hatte Hanochs Sohn nie kennen gelernt. Er war bereits der Knappe eines fanatischen Ritters, da zählte sie erst sieben Jahre. Während der ganzen Zeit, die sie in Schottland verbrachte, hielt er sich im Heiligen Land auf. Das passte ihr gut.
Er bedeutete ihr nichts; genau wie der Brautvertrag, den man in ihrem Namen abgeschlossen hatte. In ihrer Vorstellung war Marcus genau wie sein Vater – wild, rothaarig und grausam. Keine Macht auf Erden würde sie dazu bringen, ihn zu heiraten. Wenn es nach ihr ginge, konnte er ruhig mit der Verlobung samt Warner zur Hölle fahren.
Was sie brauchte, war ein Kloster. Ein mächtiges Kloster. Eines, das die Stärke besaß, dem Zorn, der wegen ihres Verrats auf allen Seiten ausbrechen würde, zu trotzen. Je näher es bei Rom lag, desto besser, war Avalons Ansicht. Aber sie wusste, dass sie es nicht so weit schaffen würde. Sie hatte von einem Orden in Luxemburg gehört, der viele Vorteile zu haben schien. Auch Frankreich bezog sie in ihre Überlegungen ein. Zumindest sollte es eines sein, das außerhalb von England lag. Doch, Herr im Himmel, jetzt konnte sie nicht einmal mehr hoffen, so weit zu gelangen. Nicht an einem Tag.
Sie hätte nicht nach Trayleigh kommen dürfen. Schon vor Monaten hätte sie in dieses Kloster gehen sollen. Aber in Gatting war es so bequem und Lady Maribel überaus freundlich gewesen. Und wenn sie ganz ehrlich mit sich war, musste sie zugeben, dass das Leben im Kloster ihr niemals sehr erstrebenswert schien. Aber es hatte ihr immer als beste Lösung vorgeschwebt, die sich ihr bei ihren düsteren Aussichten bot.
Doch ein Winkel ihres Herzens hielt hartnäckig an Trayleigh, ihrem früheren Heim, fest. Wie wundervoll es wäre, es wieder zu sehen, dorthin eingeladen zu werden. Mit den Jahren hatte es die Gestalt eines Hafens, eines sicheren Zufluchtsorts für sie angenommen. Diese letzte Gelegenheit, hierher zu kommen, ehe sie sich für den Rest ihres Lebens in einem Nonnenkloster vergrub, war einfach zu verführerisch gewesen, um der Versuchung zu widerstehen.
Eine schreckliche Schwäche in den Beinen ließ sie auf die Bettstatt sinken. Das Atmen bereitete ihr Mühe, und sie kämpfte gegen die Fassungslosigkeit an, dass all ihre Träume durch die Laune eines Mannes zerstört werden sollten.
Die Jahre über, die sie ein Spielball im Machtkampf derer gewesen war, die sie hatten gefügig machen wollen, hatte sie Pläne geschmiedet und versucht, ein Mindestmaß an Kontrolle zu erlangen – was ihr jedoch nie gelungen war.
Nun zeigte sich, dass sie viel Zeit damit verschwendet hatte, sich in falscher Hoffnung zu wiegen: nämlich, dass Trayleigh vielleicht doch wieder ihr Heim werden könnte. Nun würde sie für diese verschwendete Zeit bezahlen.
An der Tür erklang ein leichtes Kratzen. Es war so leise, dass sie es fast nicht gehört hätte. Aber das schwache, an eine Maus erinnernde Geräusch hörte nicht auf. Avalon holte tief und zitternd Luft, dann ging sie zur Tür, um sie zu öffnen.
Es war Elfrieda, die mit über den Kopf gezogener Kapuze ängstlich zu ihr aufschaute.
Avalon trat zurück, und das Mädchen huschte hastig herein. Dann knickste sie.
»Mylady, ich dachte, Ihr solltet es wissen. Die Dame, nach der Ihr fragt ... Ich habe etwas in Erfahrung gebracht.«
Avalon brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass sie auf eine Frage aus einer Unterhaltung antwortete, die statt vor Jahren erst vor einigen Stunden geführt worden war.
»Ich verstehe«, sagte sie. Trotz des inneren Aufruhrs, den Warner und Marcus hervorgerufen hatten, rief der Hinweis auf Luedella wieder die Erinnerung daran wach, dass es sich um eine wichtige Information handeln musste. Es drängte sie nun, mehr herauszufinden.
Suche sie, raunte die Chimäre, während sie ihr schreckliches Auge öffnete. Plötzlich war sie erwacht und erfüllte ihren ganzen Geist.
Innerlich wich Avalon zurück. Natürlich würde sie sie nicht suchen. Barmherziger Himmel, sie hatte einfach nicht genug Zeit, um Hirngespinsten hinterherzujagen!
Suche sie, beharrte die Chimäre.
Nein, nein, jetzt nicht, erwiderte Avalon verzweifelt und stumm.
Suche sie.
Warner! Bryce! Nur ein paar Stunden trennten sie vom Morgen!
Suche sie.
In einer Mischung aus Ärger und Verzweiflung gab sie der Stimme nach. Keinesfalls würde sie es schaffen, das drängende Gefühl zu ignorieren. Es würde sie verzehren, alles andere ausschließen, immer lauter in ihrem Kopf, in ihrem Körper dröhnen – auch wenn das ihr Verderben bedeutete, das sie morgen hilflos in Bryce’ Falle tappen ließe.
Wie sinnlos war das alles! Aber hatte sich ihre Chimäre je um so etwas wie Vernunft gekümmert? Das erzürnte sie.
Suche sie.
»Wo ist sie?«, fragte Avalon und hasste sich selbst.
Elfrieda rang die Hände. »Die Dame ist tot, Mylady!«
Ha! Am liebsten hätte Avalon die Stimme in ihrem Kopf mit einem höhnischen Lachen bedacht. Na denn! Lady Luedella war tot. Der Schadenfreude, die sie angesichts dieser Nachricht empfand, folgte sogleich ein Stich der Scham.
Die arme Luedella. Sie war schon damals Avalon so uralt erschienen, dass es keinen Grund gab zu glauben, sie sei ...
Elfrieda, die sie die ganze Zeit beobachtet hatte, unterbrach ihre Gedanken.
»Aber Ihr könnt Euch mit Missus Herndon unterhalten, wenn Ihr möchtet.«
»Mistress Herndon? Wer ist das?«
»Diejenige, die sich um die Lady kümmerte, nachdem man sie vertrieben hatte. Ich meine« – furchtsam schaute Elfrieda sich um –, »nachdem sie gegangen war.«
Das Gefühl ihres eigenen Verderbens wurde stärker und ihr Magen verkrampfte sich.
Suche sie.
»Wo ist sie?«, wiederholte Avalon.
»Im Dorf, Mylady«, antwortete das Mädchen. »Sie ist die Großmutter des Gasthausbesitzers im Dorf.«