Читать книгу Tod dem Management - Siegfried Kaltenecker - Страница 10

Freitag, 13:51 Freund und Feind

Оглавление

Die Sonne fiel durch die Blätter und warf ein zackiges Schattenmuster auf den Weg. Mit jedem Laufschritt ergab sich ein neues Bild. Zu seiner Rechten rauschte der Bach leise in Richtung See. Der Duft des Waldes kitzelte ihn in den Nasenlöchern. Nemecek atmete tief durch, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff zu füllen. Obwohl die Sonne wieder gnadenlos herunter brannte, herrschte hier eine angenehme Temperatur. Die hohen Bäume spendeten ausreichend Schatten und das fließende Gewässer brachte eine zusätzliche Kühlung. Nemecek spürte, wie sich seine Anspannung allmählich zu lösen begann. Der gleichmäßige Bewegungsrhythmus war genau das, was er jetzt brauchte. Der Ausdruck »sich ein wenig Auslauf zu gönnen« fiel ihm dazu ein, aber auch »auf dem Laufenden zu sein«. Auf alle Fälle tat das sowohl seinem Körper als auch seinem Kopf gut.

Nichtsdestotrotz lastete die unklare Situation nach wie vor auf seinen Schultern. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Warum ging er gerade diesem Unfall nach? Was, wenn es sich doch bloß um eine Verkettung tragischer Umstände handelte? Möglicherweise entpuppte sich der Mordvorwurf als völlig haltlos? Wie aufgescheuchte Vögel kreisten ihm die vielen offenen Fragen im Kopf herum.

Als Nemecek heute Mittag die kleine Polizeistation in Faak betreten hatte, sah alles noch ganz anders aus. Aufgrund seiner langjährigen Bekanntschaft hatte ihn Inspektionsleiter Rudi Hinteregger zwar freundlich begrüßt. Vonseiten seines Kollegen Andreas Ruschitz war ihm indes sofort eine deutlich ablehnende Haltung entgegengeschlagen. Während er einen vergnüglichen Small Talk mit Hinteregger führte, verfolgte Nemecek aus den Augenwinkeln, wie sich die Miene des jungen Polizisten zunehmend verfinsterte. Dass man es als Zumutung empfand, einen eigentlich abgeschlossenen Fall nochmals aufrollen zu müssen, konnte er durchaus nachvollziehen. Sogar Hinteregger schluckte merkbar, als Nemecek sein eigentliches Anliegen vorbrachte. Ruschitz aber machte kein Hehl aus seinem Ärger. Ohne ein einziges Wort zu sagen, stellte er klar, dass sich die Großstadtsheriffs wieder einmal in Angelegenheiten einmischten, die sie im Grunde überhaupt nichts angingen. Und nachdem er zu Nemeceks Erklärungen mehrfach geschnaubt und einmal sogar verächtlich aufgelacht hatte, verließ er kopfschüttelnd den Raum – natürlich nicht ohne mit der krachend ins Schloss fallenden Tür einen kraftvollen Schlusspunkt zu setzen.

Am Ende war sich Nemecek nicht ganz sicher, warum ihm Hinteregger dennoch seine Hilfe zusicherte. Vielleicht, weil er nach dem provokanten Verhalten seines Kollegen die Harmonie wahren wollte, vielleicht aber auch, weil im Laufe des Gesprächs immer mehr Fragen aufgetaucht waren, die er nicht zu beantworten vermochte. Warum hatte sich Joschak nicht rechtzeitig vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht? Wann genau war er ertrunken? Und was genau hatte letztendlich zu seinem Tod geführt? Immerhin schien es eher unwahrscheinlich, dass ein durchtrainierter Athlet einfach so unterging.

Schließlich willigte Hinteregger ein, sich doch noch auf die Suche nach Augenzeugen zu machen, obwohl allen Beteiligten klar war, dass das der vielzitierten Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich. Selbiges galt für die Kameraaufnahmen, die man in Betracht ziehen konnte – immerhin gab es rund um den See zahlreiche Campingplätze und Hotels. Möglicherweise, spekulierte Nemecek laut, konnte man sogar am Tabor etwas Brauchbares finden. In dem Hochseilgarten, der sich dort befand, waren ziemlich sicher Kameras angebracht, die auch den ganzen See überblickten.

Nemecek verlangsamte seinen Laufschritt und blickte rasch von links nach rechts. »Aichwaldsee«, stand auf dem obersten der gelben Hinweisschilder, die hier durch den Wald führten. Er entschied sich für die rechte Weggabelung, die ihn über die letzten Stationen des Fitnessparcours in Richtung Bahntrasse und dann zur Bundesstraße bringen würde. Dort konnte er sich immer noch entscheiden, ob er weiterhin bergauf laufen oder umkehren wollte.

Während er wieder Tempo aufnahm, schwenkten seine Gedanken zum nachmittäglichen Treffen mit Obermayr. Gemeinsam hatten sie die ermittelten Fakten sortiert: Als geklärt galt der Zeitpunkt, zu dem Joschak das Villacher Büro verlassen hatte. Seine Arbeitskollegen gaben an, ihn bereits gegen 16 Uhr 30 am Parkplatz vor der Acros gesehen zu haben, und bestätigten, dass sich sein Rad bereits auf dem Dachträger seines Wagens befunden hatte. Wie immer, wenn er am Kärntner Firmenstandort zu tun hatte, parkte Joschak direkt unter dem Bürofenster, sodass sein roter Karbon-Renner schwer zu übersehen war. Dementsprechend wahrscheinlich war es, dass sich seine Schwimm- und Laufsachen ebenfalls bereits im Wagen befunden hatten, sodass er nicht später als 17 Uhr am Parkplatz des Matschnighofs eingetroffen sein musste. Den Hotelchef Karl Matschnig, seinerseits ein alter Schulkollege von Marco Joschak, hatten sie gleich ganz oben auf ihrer Liste möglicher Augenzeugen gesetzt. Bislang war er nicht befragt worden – wozu auch, wenn man von einem tragischen Unfall ausging? Doch vielleicht hatten die alten Kameraden ja noch ein paar Worte miteinander gewechselt. Oder Matschnig hatte Joschak sogar am See beobachtet.

Den meteorologischen Aufzeichnungen zufolge brach das Gewitter erst gegen 17 Uhr 45 los, sodass Joschak eigentlich genügend Zeit geblieben wäre, sein Schwimmtraining abzubrechen und zum Hotelstrand zurückzukehren. Warum er trotz des zunehmenden Sturms nicht aus dem Wasser gegangen war, blieb rätselhaft.

Noch rätselhafter war allerdings, warum man seine Leiche genau am gegenüberliegenden Seeufer gefunden hatte. Man musste herausfinden, wo genau Joschaks übliche Trainingsstrecke verlief. Wenn man davon ausging, dass er mindestens 30, eventuell sogar 45 Minuten im Wasser und dabei in seinem üblichen Trainingstempo unterwegs war, musste er die Seerunde bei Ausbruch des Gewitters eigentlich bereits abgeschlossen haben. Oder sich zumindest wieder auf dem Rückweg und also in der Nähe seines Startpunkts beim Hotel befunden haben. Angespült wurde seine Leiche jedoch nicht am Nord-, sondern am Südufer. Stärkte das nicht die Vermutung, dass ihm während seines Schwimmtrainings etwas Ungewöhnliches zugestoßen war?

Angesichts der jüngsten Entwicklungen war klar, dass er noch heute Staatsanwalt Gunther Rüdinger anrufen musste. Der würde zwar keine Jubelsprünge machen, wenn er ihm am Wochenende einen neuen Fall aufhalste. Aber zumindest eine Vorermittlung sollte er ihm genehmigen. Denn einerseits wollte er Radingers offizielles Okay für eine neue Sonderkommission, bevor er mit Joschaks Witwe sprach, und andererseits brauchte er die notwendigen Kompetenzen, um den Leichnam noch einmal gründlich untersuchen zu lassen. Einen Herzinfarkt hatte man bei der ersten Totenschau ja ebenso ausgeschlossen wie einen Gehirnschlag. Doch doppelt hielt bekanntlich besser – und für besser gab es nur eine Adresse: Gerda Probisch.

Nemecek musste nur noch seinen Charme spielen lassen, damit sich die Grande Dame der österreichischen Gerichtsmedizin möglichst rasch an die Arbeit machte. Ausnahmsweise hatte er ja seit ihrem letzten Fall, den sie intern nur den Ziegelmord nannten, sogar etwas gut bei ihr. Schließlich war Probischs Sohn Raimund in diesen Fall involviert und eine Zeit lang sogar einer der Hauptverdächtigen gewesen. Oder zumindest der von Kappacher, der es sich zur Herzensaufgabe gemacht zu haben schien, Raimund Probisch hinter Gitter zu bringen. Anscheinend waren zwischen seinem Chef und der eigenwilligen Rechtsmedizinerin noch ein paar alte Rechnungen offen. Mehrmals hatte der Oberst auf eine Verhaftung gedrängt und es war nur Nemeceks Sturheit zu verdanken, dass es nicht dazu gekommen war. Dank seines Sondereinsatzes kam Raimund Probisch am Ende äußerst glimpflich davon. Mit Fug und Recht konnte Nemecek nun auch ein außerordentliches Engagement von der Chefforensikerin erwarten, die ja weithin als fachliche Koryphäe, aber eben auch als Diva bekannt war.

Nemecek schreckte hoch. Er war wieder einmal so in Gedanken versunken gewesen, dass er beinahe die Straße übersehen hätte. Die Hupe des gelben Sportwagens bewahrte ihn vor einem Blackout. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, dass er jetzt einen Unfall baute! Während er dem schnittigen Cabriolet mit offenem Mund nachsah, rauschte das Blut in seinen Ohren. Als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, schaute er sogar zweimal von links nach rechts, bevor er endlich die Bundesstraße überquerte und den Weg in Richtung Aichwaldsee fortsetzte.

Es dauerte eine Weile, bis er gedanklich den Anschluss wiederfand. Zum einen saß ihm noch der Schrecken über seine Unachtsamkeit im Nacken, zum anderen nahm das sich verdichtende Wurzelwerk seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Vor allem bergauf konnte man leicht ins Stolpern geraten und nach dem gerade Erlebten wollte Nemecek keinen Sturz riskieren. Als er das letzte Waldstück durchquert und die große Wiese erreicht hatte, atmete Nemecek auf. Spürbar erleichtert ließ er noch einmal die nächsten Ermittlungsschritte Revue passieren, die er mit den Kärntner Kollegen vereinbart hatte. Hinteregger würde sich, wie er im Hinblick auf seinen heißspornigen Kollegen betonte, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften auf die Suche nach möglichen Augenzeugen machen. Der Hoteldirektor und seine Angestellten waren ja bereits gesetzt, aber auch die kleineren Hotels und die Campingplätze sollten überprüft werden. Außerdem würden sie nach Kameraaufzeichnungen fahnden. Wäre doch gelacht, zeigte sich der Faaker Inspektionsleiter am Ende überzeugt, wenn es da rund um den See nichts zu finden gäbe!

Parallel zur genaueren Untersuchung des Leichnams würden Obermayr und er gleich Montag früh mit der Witwe reden. Außerdem sollten sie möglichst bald einen Termin bei Reto Pflückinger bekommen, um Joschaks berufliche Hintergründe zu durchleuchten. Parallel dazu sollte sich Zukic um Joschaks Handydaten und seinen PC kümmern. Neben den Anrufen und einschlägigen Nachrichten gab der Browserverlauf oft wertvolle Hinweise, womit sich jemand besonders intensiv beschäftigte.

Während er am Aichwaldsee vorbei bergab zu laufen begann, ertappte sich Nemecek aufs Neue dabei, dass er insgeheim von einem beruflichen Zusammenhang ausging. Die Acros schien ihn auf ähnlich magische Weise anzuziehen, wie das ein Jahr zuvor die SafeIT getan hatte. Oder war es viel weniger das Unternehmen selbst als die tiefgreifende Veränderung, die es gerade durchmachte, die ihn lockte? Jener vielschichtige Übergang von der aktuellen Situation zu neuen Vorgehensweisen in der Arbeitswelt, die Menschen und Strukturen in Bewegung setzten? Und kam dann nicht die intellektuelle Herausforderung hinzu, sich einmal eingehender mit den Themen Management und Organisation zu beschäftigen, über die er in seinem Polizeialltag immer wieder stolperte?

Doch je stärker er sich vom Thema Agilität angezogen fühlte, umso heftiger mahnte er sich zur Umsicht. Einerseits war er Chefinspektor und kein, wie ihm Kappacher schon des Öfteren vorgeworfen hatte, verkappter Philosoph. Andererseits war zum jetzigen Zeitpunkt eine Beziehungstat genauso wahrscheinlich wie eine beruflich motivierte. Wer sagte ihnen, dass nicht eine alte Feindschaft hinter Joschaks Tod steckte? Die Konkurrenz zwischen Sportlern, die oft genug krankhafte Auswüchse annahm? Eine heimliche Affäre Joschaks, die einen gehörnten Ehemann ausrasten ließ? Vielleicht steckte sogar Joschaks Frau selbst hinter dem tödlichen Anschlag, den sie so heftig beklagte. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Täterin auf diese Weise ihre Schuld zu verschleiern versuchte. Was umso wahrscheinlicher war, wenn es eine Lebensversicherung gab. Zukic sollte klären, ob es eine entsprechende Police gab. Und sie sollte mit den Nachbarn der Joschaks reden, ob diese irgendwelche Auffälligkeiten in deren Ehe wahrgenommen hatten.

Ein dichtes Programm, bilanzierte Nemecek. Dennoch durften sie jetzt nichts überstürzen. Sie mussten Schritt für Schritt vorgehen. Eigentlich sollte er ja noch Kappacher über die neuesten Entwicklungen informieren. Andernfalls würde sich dieser sicher wieder aufregen, wie er das schon so oft getan hatte, wenn er sich zu wenig eingebunden oder gar übergangen fühlte, insbesondere wenn es um so weitreichende Entscheidungen wie die Einrichtung einer Sonderkommission ging.

Als er jedoch den Faaker See wieder vor sich auftauchen sah, stand Nemeceks Entschluss fest. Wenn er schon den gestrigen Feiertag und den heutigen Brückentag gewissermaßen in geheimer Mission unterwegs war, sollte zumindest der Rest des Wochenendes seiner Familie gehören. Und für Montag früh war ohnehin eine Besprechung mit dem frisch aus seinem Urlaub zurückgekommenen Oberst Kappacher angesetzt.

Tod dem Management

Подняться наверх