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Montag, 12:18 Auf dem Weg zur Wahrheit

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Nemecek lehnte sich zurück. Langsam fand er sein eigenes Gleichgewicht wieder. Nach dem sie das Tohuwabohu in Joschaks Wohnung hinter sich gebracht hatten, von der Erstversorgung der Witwe über den Notarzt bis zum abschließenden Krankentransport, befand er sich die längste Zeit über in einem eigenartigen Schwebezustand. Einerseits versuchte er die unerwartete Mitteilung über den Tod eines weiteren Mitarbeiters der Acros zu verarbeiten, die ihren Ermittlungen eine völlig neue Perspektive eröffnete. Mit einem Male hatten sie es anscheinend nicht bloß mit einem Unfall zu tun, sondern gleich mit zweien, die noch dazu innerhalb weniger Tage stattgefunden hatten. Andererseits war er in ungewohnter Hektik darum bemüht, alle notwendigen Klärungsschritte einzuleiten. Konnte das wirklich Zufall sein, dass innerhalb von nur einer Woche gleich zwei Manager der Acros ums Leben kamen? Stärkte das nicht den Verdacht, dass diese Ereignisse etwas mit dem Unternehmen zu tun hatten?

Das ganze Durcheinander in Nemeceks Kopf wurde durch Obermayrs wilde Autofahrt verstärkt, da sie es sich nicht nehmen ließ, ihren Wagen mit Blaulicht und Signalhorn durch den dichten Verkehr zu drängen. Das Verhalten seiner Kollegin kam ihm zwar reichlich übertrieben vor, aber auch er spürte selbst diese sonderbare Aufgekratztheit, die ihn immer befiel, wenn die Ermittlungen eine unerwartete Wendung nahmen.

»Schau dir den Trottel an!« Mit einer heftigen Geste wies Obermayr auf den blauen Lieferwagen, der nun quer zur Fahrbahn stand. »Der hat seinen Führerschein auch im Lotto gewonnen«, spuckte sie gegen die Windschutzscheibe. »Wenden ist auf Schienenstraßen verboten, du Hirni!«

Nemecek verfolgte, wie die Finger seiner Kollegin ungeduldig auf das Lenkrad trommelten. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt und an der Schläfe pulsierte wieder einmal ihre Zornesader. Es lag auf der Hand, dass sie sich nach dem angespannten Gespräch mit Marina Joschak und dem hektischen Durcheinander nach deren Zusammenbruch abreagieren wollte – und was gab es dafür Geeigneteres als Verkehrsteilnehmer, die mit der Straßenverkehrsordnung auf Kriegsfuß standen! Auch er selbst hatte ja schon oft erlebt, wie rasch man sich am Steuer vom vernünftigen Dr. Jekyll in einen unkontrollierten Mr. Hyde verwandeln konnte. »Der ganz normale Auto-Faschismus«, hatte das sein Freund Sebastian Neufeldner einmal genannt und dazu eine ganze Reihe klassischer Feindbilder angeführt: Sonntagsfahrer, die im Schneckentempo auf der Mittelspur unterwegs waren, Freizeitpiloten, die sich zu waghalsigen Überholmanövern hinreißen ließen, Lkws, die bergauf ein sogenanntes Elefantenrennen starteten, oder jene notorischen Drängler, die einem ständig am Heck klebten.

Das Autofahren schürte indes nicht nur nach außen gerichtete Aggressionen. Wie Nemecek zu seinem eigenen Leidwesen wusste, richteten sie sich bisweilen sogar gegen diejenigen, die mit ihm im Auto saßen. In seinem Fall vorzugsweise gegen seine Frau Bettina. Egal, ob er dabei selbst am Steuer saß oder nur Beifahrer war: Die heftigsten Auseinandersetzungen in ihrem eigentlich recht harmonisch verlaufenden Eheleben hatten sie immer unterwegs. Vor allem Autobahnen brachten ihr Blut mitunter derart in Wallung, dass sie sich Dinge an den Kopf warfen, die ihnen im Ruhezustand niemals eingefallen wären. In solchen Situationen waren sie dann so ineinander verhakt, dass sie auch keinerlei Rücksicht auf ihre ebenfalls im Auto sitzenden Kinder nahmen. Einmal gerieten sie dabei so heftig aneinander, dass Sophie zu weinen begann und Lea ganz schüchtern fragte, ob sie sich nun scheiden ließen.

»Wenn der Fetznschädl nicht gleich abfährt, vergess’ ich mich.«

Allmählich wurde es Nemecek zu viel. Obwohl er gut nachvollziehen konnte, dass sich seine Kollegin über die unerwarteten Ereignisse bei Marina Joschak ärgerte, durfte sie sich nicht derart gehen lassen.

»Bitte Nina«, setzte er zu einem entsprechenden Hinweis an, als seine Kollegin wieder laut wurde.

»Das gibt’s doch nicht«, schrie sie aus dem Seitenfenster hinaus. »Schleich dich endlich aus der Spur, du Eierbär!«

»Hallo? Geht’s noch?«, versuchte es Nemecek ein zweites Mal und klatschte dabei in die Hände. Obermayr blickte ihn erstaunt an, wie jemand, der aus einem Traum erwacht.

»Können wir das Gespräch nochmals kurz Revue passieren …«

»Wenn du mich fragst, klingt das Ganze durchaus verdächtig«, sprang Obermayr gleich mitten in die angestrebte Nachbetrachtung. »Obwohl Joschaks Angaben schon ziemlich verworren waren. Und zwischendurch echt nervig.« Ihre leisen Zischlaute machten klar, dass ihre Aufregung noch nicht verflogen war. Dennoch hoffte Nemecek, dass sie ihre Emotionen nun wieder im Griff hatte.

»Lass uns doch noch einmal …«, startete Nemecek einen neuen Versuch, kam aber auch dieses Mal nicht viel weiter. Emotionen, so die alte Lehre, ließen sich halt nicht einfach ausschalten wie eine Maschine.

»Ich glaub’s nicht!« Langsam fädelte sich der querstehende Kastenwagen, der ihre Fahrspur blockiert hielt, wieder in den Verkehrsfluss ein. Obermayr stieg aufs Gas, konnte sich aber eine letzte Botschaft nicht verkneifen. Im Vorbeifahren warf sie dem Blockierer einen wütenden Blick zu und ließ dabei ihre flache Hand vor ihren Augen hin- und hergleiten. Scheibenwischer hieß diese Geste, wie ihn seine Kinder einmal aufgeklärt hatten – und immerhin waren die ja ausgewiesene Expertinnen in Sachen Schimpfkultur.

»Scheint so, als ob das Ganze tatsächlich etwas mit der Acros zu tun hat.«

Obermayr nickte. »Das mit den beiden Unfällen ist jedenfalls sehr merkwürdig.« Nach Zukic’ schneller Recherche wussten sie ja, dass es sich dabei keineswegs um ein Hirngespinst von Marina Joschak handelte. Obwohl der Notarzt bereits nach einer kurzen Untersuchung Nemeceks Eindruck bestätigte, dass sie wahrscheinlich eine schwere Medikamentenvergiftung erlitten hatte, hatte die Witwe die Wahrheit gesagt. Gernot Zettl, seines Zeichens Abteilungsleiter Operations in der Acros und ein langjähriger Kollege von Marco Joschak, war tatsächlich mit seinem Auto tödlich verunglückt. In der Nacht vom 8. auf den 9. August war er bei starkem Regen von der Höhenstraße in den Wiener Hausbergen abgekommen und mit überhöhter Geschwindigkeit frontal gegen einen Baum geprallt.

»Trotzdem heißt das nicht automatisch, dass wir es mit einem Mordkomplott zu tun haben«, überlegte Nemecek laut. »Es kann immer noch gut sein, dass es sich um zwei unglückliche Zufälle handelt.«

»Glaubst du das wirklich?«, wandte Obermayr ein. »Sicher hat uns Joschak, ihrem Zustand entsprechend, viel wirres Zeug erzählt. Aber ebenso sicher bin ich mir, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«

»Dennoch dürfen wir uns nicht zu früh auf ein berufliches Motiv einschießen«, wiederholte Nemecek die mahnenden Worte, die er erst vor Kurzem an sich selbst gerichtet hatte. »Selbst wenn sich der Mordverdacht erhärtet, heißt das noch lange nicht, dass die Acros damit zu tun hat.«

»Ja, ja, ich weiß schon«, winkte Obermayr unwirsch ab. »Wir müssen in alle Richtungen ermitteln.«

»Jedenfalls ist es zu diesem Zeitpunkt genauso wahrscheinlich, dass private Konflikte hinter den Vorfällen stecken«, beharrte Nemecek, wie um sich selbst endgültig zu überzeugen. »Eine eifersüchtige Geliebte, ein gehörnter Ehemann, ein anderer Triathlet, der es mit der Konkurrenz ein wenig übertreibt. Ganz abgesehen davon, dass selbst dann, wenn Joschak ermordet wurde, Zettl trotzdem einen ganz normalen Autounfall gehabt haben kann.«

»Marina Joschaks Verdacht kann ich aber ebenso gut nachvollziehen«, behauptete Obermayr trotzig, als hätte sie die Ausführungen ihres Kollegen überhaupt nicht gehört. »Ein neuer CEO, eine andere Unternehmensphilosophie, ein Veränderungsprozess, der alle Karten neu mischt und ehemalige Kollegen zu erbitterten Konkurrenten macht. Das ergibt für mich schon auf den ersten Blick eine höchst explosive Mischung.«

»Hältst du das agile Vorgehen denn für so gefährlich?«, versuchte es Nemecek mit ein wenig Ironie. Doch seine Kollegin, die ja sonst fast immer für eine humorvolle Wendung zu haben war, blieb ungewohnt ernst.

»Wir sind jedenfalls gut beraten, ganz genau hinzuschauen. Wer weiß, welche Dynamiken dort in Gang gesetzt wurden – und im Zuge der diversen Um- und Neubauten alles zutage kam.«

Für Nemeceks klang das ziemlich schlüssig. Selbstverständlich setzte der Versuch, ein Unternehmen schneller und wendiger zu machen, viele Dinge in Bewegung. Das lag, soweit er das verstanden hatte, in der Natur eines agilen Veränderungsprozesses, wie er bei der Acros anscheinend implementiert werden sollte. Ebenso brachte eine solche Veränderung zwangsläufig diverse Spannungen mit sich. Gewohnte Arbeitsabläufe wurden infrage gestellt, bisherige Entscheidungsroutinen außer Kraft gesetzt und das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neu gestaltet. All das setzte, wie Reto Pflückinger in einem seiner Interviews sehr überzeugend argumentiert hatte, die ganze Organisation, vor allem aber ihr Management unter Druck. Doch konnte dieser Druck so stark zunehmen, dass daraus ein echtes Pulverfass entstand? Und genügte dann schon ein wenig Zündstoff, um dieses zur Explosion zu bringen?

»Zum Glück müssen wir nicht mehr allzu lange spekulieren, ob es sich überhaupt um Mordfälle handelt«, meinte Obermayr, als sie endlich in die Währingerstraße einbogen. Denn in wenigen Minuten würden sie das gerichtsmedizinische Institut erreichen und bald schon jeden Zweifel hinter sich lassen.

Tod dem Management

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