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Dienstag, 14:20 Verschollene Verdächtige

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»Hier spricht die Mailbox von Johanna Kniewasser. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe Sie dann umgehend zurück.«

Eine angenehme Stimme, dachte Nemecek, bevor der übliche Pfeifton erklang. Er räusperte sich kurz und hinterließ noch einmal die Botschaft, mit der er bereits den ganzen Tag über hausieren ging. »Guten Tag, Frau Kniewasser. Robert Nemecek hier, Kriminalpolizei Wien. Es geht um die Todesfälle Ihrer Kollegen Joschak und Zettl. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie mich bitte so bald wie möglich zurückrufen. Vielen Dank und hoffentlich auf bald!«

Kaum, dass er die rote Taste gedrückt hatte, fragte er sich, ob er zu unverbindlich gewesen war. Oder zu freundlich, wie ihm Obermayr schon des Öfteren vorgeworfen hatte. Er schob seine Zweifel zur Seite, um sich wieder Zukic’ Dossier zu widmen. Wenn er schon nicht mit Kniewasser reden konnte, wollte er sich wenigstens mit einigen der Themen beschäftigen, die die Produktmanagerin umtrieben. Zu langsam, zu unzuverlässig, zu fehlerhaft, zu teuer, überflog er die Punkteliste, die sie im Vorwort ihrer Diplomarbeit als Problem Statement zusammengestellt hatte. Um auf der Höhe der Zeit zu agieren, argumentierte Kniewasser weiter, brauchen wir andere Arbeitssysteme. Agile Ansätze unterstützen Unternehmen dabei, rasch auf sich verändernde Kundenbedürfnisse einzugehen, um punktgenau die Produkte zu liefern, die tatsächlich gewünscht sind. Eine konsequente Organisationsentwicklung in diese Richtung sei allerdings ziemlich anspruchsvoll, da sie zwangsläufig viele bestehende Arbeitsroutinen infrage stelle. Ja, mehr noch, so Kniewasser: Agile Unternehmen geraten mit alten Überzeugungen in Konflikt und sorgen damit nicht nur für intellektuelle Herausforderungen, sondern auch für emotionale Turbulenzen.

Turbulenzen, Herausforderungen, Konflikte, hielt Nemecek in seinem Notizbuch fest. Der Text war zweifellos höchst interessant, vor allem, weil er eine Brücke zwischen den agilen Chancen und den Risiken schlug, mit denen man aus unternehmensentwicklerischer Sicht rechnen musste. Bald jedoch merkte er, dass er nicht recht bei der Sache war. Während seine Augen über die Zeilen wanderten, drifteten seine Gedanken beharrlich in Richtung Kniewasser ab. Welche neuen Aspekte der veränderungstypischen Spannungen würde er durch ihre Arbeit und Ausführungen entdecken? Welche Rolle spielte die oberste Produktmanagerin der Acros in diesem ganzen Wirrwarr an alten Verbindungen und neuen Verstrickungen? Und wie viel hatte sie mit den Todesfällen ihrer Kollegen zu tun?

Nemecek überflog die biografischen Eckdaten: Geboren 1990 in Micheldorf in Oberösterreich, Volksschule und Gymnasium ebendort, danach Höhere Technische Lehranstalt für Kraftfahrzeugtechnik in Steyr. Ab 2008 Diplomstudium der Wirtschaftsinformatik, Abschluss 2012 mit einer Arbeit zu »Agile Produktentwicklung – Ein Versprechen für die Zukunft«. Bereits während des Studiums als Werkstudentin bei der Veith Stahl AG tätig. Erster Vollzeitjob 2008 als Delivery Managerin bei der Ambusch Software Services GmbH, danach als Produkt- und Portfoliomanagerin in verschiedenen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz tätig. Berufsbegleitendes MBA-Studium von 2009-2011. Weiterbildungen zum Certified Product Owner (2012) und Certified Agile Leader (2016). Diverse Vorträge auf agilen Konferenzen und Meetups.

Neben ihren beruflichen Leistungen als jemand, der nach eigener Aussage für die Agilität lebte, sorgte Kniewasser auch durch ihr Hobby für Aufsehen. Sie betrieb nämlich eine eigene Website mit dem klingenden Namen Oldies But Goldies, auf der sie jede Menge Tipps für Liebhaber alter Autos gab. Dort posierte sie mit Klassikern wie einem Triumph Spitfire aus dem Jahre 1966, einem Ford Taunus aus dem Jahr 1961 oder einem giftgrünen MG Roadster aus dem Jahr 1960, aber auch mit einigen Motorrädern. Anscheinend ließ sie ihre Kenntnisse als Kfz-Technikerin nie einrosten. Im Gegenteil: Auf einer Unterseite dokumentierte sie minutiös, wie sie beim Bau ihres eigenen Motorrads auf der Basis einer alten Honda 750 Four vorgegangen war.

Nemecek klickte sich durch die Fotogalerie. Auf jedem Bild strahlte Kniewasser mit ihren polierten Oldies um die Wette. Eine attraktive Frau mit der Ausstrahlung von jemandem, mit dem man Pferde stehlen kann. Sicher kein Nachteil, wenn es um ein modernes Management ging, das ganz wesentlich auf wechselseitigem Vertrauen aufbaute.

Nemecek versuchte, die virtuelle Hochglanzpräsentation mit dem Mord an Joschak zu verbinden. Sie wirkte kräftig genug, um ein Boot auch bei rauem Seegang auf Kurs zu halten. Fragte sich bloß, welches Motiv sie für einen Mord haben sollte. Konnten die Konflikte rund um die Veränderungen in der Acros derart eskaliert sein? Hatte es Joschak mit seinem Widerstand gegen die Agilisierung des Unternehmens übertrieben? Oder ging es gar nicht um berufliche Zusammenhänge, sondern um eine private Geschichte?

Erneut spürte Nemecek Ärger in sich aufsteigen. Die letzten Stunden hatten ihm nicht im Geringsten geholfen, zu richtungsweisenden Antworten zu kommen. Zuerst hatte er von der Wiener Zentrale erfahren, dass Kniewasser seit letzter Woche in Oberösterreich arbeitete. Als er daraufhin beim Linzer Acros-Büro anrief, hieß es wiederum, dass sich Kniewasser kurzfristig frei genommen habe. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sie mobil zu erreichen, wandte sich Nemecek erneut an das Büro. Er wurde zwar unzählige Male hin und her verbunden, erfuhr dabei jedoch nicht viel mehr, als dass die Produktmanagerin vermutlich aufs Land gefahren war.

»Wahrscheinlich brauchen ihre Eltern etwas von ihr«, vermutete eine Frau, die Kniewasser anscheinend ein wenig besser kannte. »Vielleicht ist wieder etwas am Haus zu machen. Oder sie nutzt das schöne Wetter für eine Radtour.«

Nachdem auch in Kniewassers Elternhaus in Hinterstoder niemand abhob, machte sich Frustration breit. Sollte er jetzt wirklich die Kollegen vor Ort mobilisieren? Obwohl ihm das Gespräch mit Kniewasser wichtig erschien, entschied er sich am Ende dagegen. Der Aufwand kam ihm doch ziemlich übertrieben vor. Außerdem wollte er nach den Kärntner Erfahrungen nicht schon wieder den Eindruck erwecken, dass der Herr Sonderkommissar aus der Landeshauptstadt die Kollegen aus den Bundesländern als Laufburschen missbrauchte. Nüchtern betrachtet, handelte es sich ja bloß um eine einfache Zeugenbefragung.

Offenbar gab es massive Konflikte zwischen Kniewasser als Verfechterin des agilen Vorgehens und Joschak und Zettl als Vertreter des traditionellen Managements. Hinzu kam, dass sich durch den Tod der beiden die interne Konkurrenz rund um den Posten des Chief Technology Officer erledigt zu haben schien. Nemecek wollte zwar möglichst unvoreingenommen in das Gespräch mit Kniewasser gehen, musste sich aber eingestehen, dass das plausible Mordmotive waren. Je länger er grübelte, desto dringlicher erschien ihm die Befragung.

Doch so schwer es ihm auch fiel: Vorerst musste Nemecek akzeptieren, dass die Produktmanagerin nicht zu erreichen und er selbst wohl oder übel in der Warteschleife gefangen war. Normalerweise fiel es ihm relativ leicht, sich in der Zwischenzeit mit anderen Dingen zu beschäftigen. Dieses Mal fühlte er sich allerdings in einem regelrechten Aufmerksamkeitstunnel gefangen.

Um sich abzulenken, öffnete Nemecek seinen Computer. 12 neue Nachrichten, verkündete sein Mailprogramm. Er überflog die Informationen, die ihm die Welt in der Zwischenzeit zugetragen hatte. Doch bis auf eine Nachricht von Zukic erschien ihm seine aktuelle Post völlig irrelevant. Seiner jungen Kollegin war es gelungen, zumindest einen konkreten Gesprächstermin für ihn auszumachen. Gleich heute Nachmittag würde er mit Niels Swartling sprechen können.

Nemecek blickte auf die Uhr. Er hatte noch etwas mehr als eine Stunde, bevor er sich auf den Weg machen sollte. Kurz entschlossen druckte er sich die Informationen aus, die ihm Zukic über Swartling zusammengestellt hatte. Dann stand er auf, steckte die Ausdrucke in seine Tasche und verließ das überhitzte Büro.

»Darf’s noch ein Espresso sein?«

Nemecek sah von seinem Notizbuch auf und blickte in das vertraute Gesicht des Kellners. Er musste nicht lange überlegen.

»Gerne. Und noch ein großes Glas Wasser bitte.«

»Kommt sofort«, versicherte der Kellner, bevor er ihn wieder seiner Lektüre überließ. Niels Heiner Swartling, überflog Nemecek die ihm vorliegenden Kerndaten. Geboren 1982 in Hamburg als zweites von drei Kindern des schwedischen Staatsbürgers Per Albin Swartling und der Deutschen Inga Rosenthal. Grundschule in Flensburg, Abitur 2000 am Schiller-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg. Zivildienst beim Rettungsdienst in Köln, danach Studium der Organisationsentwicklung an der Universität München. Studienabschluss 2008.

»Mit 26«, kalkulierte Nemecek laut, als ob er den Kellner davon in Kenntnis setzen wollte. Der war ohnehin mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sich Nemecek nicht lange überlegen musste, wozu eine solche Mitteilung gut sein sollte. Stattdessen vertiefte er sich wieder in den vor ihm liegenden Bericht. 2009 Master of Business Administration, las er und begann erneut zu rechnen. Den dafür erforderlichen Lehrgang muss Swartling also noch während seines Studiums begonnen haben, überlegte Nemecek. 2011 kürt sich der umtriebige Deutsch-Schwede sowohl zum Agile Change Expert als auch zum Certified Product Owner. Es folgen weitere Zertifizierungen zum Design Thinking Master und zum Flight Levels Coach.

»Bitte sehr«, sagte der Kellner, als er das ovale Tablett mit den gewünschten Getränken über die Theke schob.

»Danke«, murmelte Nemecek ohne aufzublicken. Gerade eben war ihm ein Gedanke durch den Kopf gehuscht, den er unbedingt festhalten wollte. Doch so sehr er sich bemühte, er bekam ihn einfach nicht mehr zu fassen. Dann halt nicht, beendete Nemecek seine Spurensuche, um sich stattdessen die Liste an Unternehmen vorzunehmen, für die Swartling bereits gearbeitet hat. Er musste zugeben, dass diese Liste nicht weniger beeindruckend war als dessen umfassende Ausbildung. Insgesamt zählte er nicht weniger als zwölf Firmen, für die Swartling bereits tätig gewesen war, darunter viele namhafte Vertreter ihrer Zunft. Zudem war Swartling ordentlich in der Welt der Technik herumgekommen. Infrastruktur, Automotive, Mikroelektronik, Telekommunikation umriss er noch einmal die verschiedenen Branchen, in denen der Change-Experte einschlägige Erfahrung gesammelt hatte.

Plötzlich wusste er wieder, was ihm vorher in den Sinn gekommen und dann gleich wieder durch die Lappen gegangen war. Er öffnete seinen Laptop und rief den Acros-Ordner auf, den er mittlerweile angelegt hatte. Die Datei, die er suchte, trug den simplen Titel CEO. Kurz darauf fand er seine Ahnung bestätigt. Tatsächlich hatte Swartling vor der Acros bereits in drei Unternehmen gearbeitet, in denen auch Pflückinger tätig war – noch dazu genau im selben Zeitraum: 2010-2011 bei der SwissData, 2014-2016 bei der Textron Automotive und 2017-2018 bei der TeleMind. Head of Product Development bzw. Agile Coach, begann Nemecek die jeweiligen Jobtitel zu vergleichen, CTO – Agile Transition Master und jetzt also CEO – Agile Change Manager.

Soweit er das beurteilen konnte, hatten beide Männer in der letzten Dekade eine beachtliche Karriere hingelegt. Waren Pflückinger und Swartling also so etwas wie das Dream-Team der agilen Szene? Ergänzten sie sich so gut, dass das laufende Geschäft und dessen gezielte Veränderung produktiv ineinander griffen? Sich also wechselseitig ergänzten und bestärkten, statt einander zu widersprechen? Und rechnete sich das Ganze dementsprechend nicht nur für die beiden Spezialisten, sondern auch für die jeweiligen Unternehmen, für die sie tätig waren?

Langjährige Kooperation mit Reto Pflückinger?, begann Nemecek den Fragenkatalog in seinem Notizbuch zu ergänzen. Gemeinsame Erfolge? Besondere Highlights und Lowlights? Wichtigste Herausforderungen? Er war schon gespannt, welche Antworten er erhalten würde – und wunderte sich gleichzeitig, dass ihm der CEO nichts von seiner intensiven Zusammenarbeit mit Swartling erzählt hatte.

Wenig später signalisierte ihm die Erinnerungsfunktion in seinem Handy, dass er aufbrechen musste.

»Zahlen bitte«, rief er und legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Theke. »Stimmt so.«

»Danke«, rief ihm der Kellner zu. Nemecek zog zum Abschied seinen imaginären Hut und stand kurz darauf auf der Straße.

Tod dem Management

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