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Donnerstag, 17:44 Gepflegte Arschbomben
Оглавление»Achtung, Achtung!«, rief Lea, während sie im Vollsprint auf die Stegkante zuraste. »Arschbombeeee!« Ihr Schlachtruf endete mit einem lauten Klatschen und einer eindrucksvollen Wasserfontäne. Das darauf folgende Geschrei machte deutlich, dass Nemeceks ältere Tochter ihre Ankündigung perfekt umgesetzt hatte. Wie von der Tarantel gestochen sprangen ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sophie sowie deren Freundinnen Lydia und Klara auf und rissen ihre Handtücher vom Steg. Die dunkle Färbung des Holzes dokumentierte eindrucksvoll, wie gut Leas Paradesprung gelungen war.
»Leaaaa!«, empörten sich die drei Mädchen lauthals, während sie leicht panisch über ihre Smartphones wischten.
»Na warte«, verkündete Sophie gleich darauf mit erhobener Faust. »Das wirst du büßen!«, sekundierte Lydia und auch Klara zeigte mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie ihr am liebsten den Hals abschneiden würde.
»Ihr kriegt mich eh nicht«, heizte die große Schwester noch weiter an. Das konnten sich die drei Arschbombenopfer selbstverständlich nicht gefallen lassen. Zuerst der heimtückische Angriff und jetzt auch noch Spott! Kaum, dass sie ihre Strandsachen in Sicherheit gebracht hatten, nahmen sie die Verfolgung auf.
»Racheeee!«, versprach Sophie, bevor sie sich fast zeitgleich mit ihren Freundinnen in den See stürzte. Zu dritt jagten sie nun die Übeltäterin, die wohlweislich bereits ein Stück weiter hinaus geschwommen war.
Schmunzelnd verfolgte Nemecek die turbulente, von spitzen Schreien und lautem Gelächter begleitete Jagd. Blitzlichtartig flammten Erinnerungen an die eigene Kindheit auf, in der er sich mit seinen Freunden ausgedehnte Wasserschlachten geliefert hatte. Das waren noch Zeiten gewesen, als Sebastian Neufeldner, Rudolf Pokorny und er fast den ganzen Sommer an der alten Donau verbrachten!
»Eine wilde Bande, oder?«, holte Bettina ihn aus seiner sentimentalen Reise wieder in die Gegenwart zurück.
»Ja. Die Kids wissen halt, wie man den Sommer genießt!«
»Tust du das etwa nicht?«
Irritiert blickte Nemecek zu seiner Frau. »Doch, natürlich«, beteuerte er rasch. Auf das alte Thema, dass er die Arbeit nicht aus dem Kopf bekam, hatte er jetzt wirklich keine Lust. »Ich bin froh, dass ich mal zum Lesen komme.«
»Was liest du denn?«
»Ach, ein bisschen dies, ein bisschen das.«
»Soso.« Bettina war deutlich anzumerken, dass ihr die ausweichende Antwort ihres Mannes nicht schmeckte.
Wenn Nemecek ehrlich gewesen wäre, hätte er zugeben müssen, dass seine Gedanken in der letzten Stunde ständig zu Marco Joschak gewandert waren. Wie war er ums Leben gekommen? Was genau war passiert? Warum ertrank jemand, der als ausgezeichneter Schwimmer galt? Nemecek versuchte den Gedanken an den Mordvorwurf von Marina Joschak abzuschütteln, der war jedoch klebrig wie einer dieser altmodischen Fliegenfänger.
Um sich abzulenken, hatte er sich das von Zukic zusammengestellte Dossier vorgenommen. Die vorliegenden Fakten waren rasch abgehakt. Doch dann blieb er längere Zeit bei dem Interview hängen, das der neue Vorstand der Acros für dieses Wirtschaftsmagazin gegeben hatte – und entdeckte daraufhin sogar einen Artikel, der in einem Sammelband zu Die Zukunft der Unternehmen veröffentlicht wurde. In beiden bot Pflückinger starke Kernbotschaften: Von veränderten Anforderungen war da die Rede, von der konsequenten Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Kunden, von der Fähigkeit, rasch auf veränderte Wünsche zu reagieren, und der Notwendigkeit, entsprechend bewegliche Prozesse zu gestalten. Die wichtigste Aufgabe des Managements ist die Gestaltung geeigneter Rahmenbedingungen, schrieb Pflückinger an einer Stelle. Manager sind heutzutage viel weniger als Verwalter denn als Gestalter gefragt. Business-Designer statt Business-Administratoren.
Nemecek musste zugeben, dass das alles ziemlich interessant klang – und ihn einmal mehr in die Zeit zurück katapultierte, als sie in der SafeIT im Mordfall Paul Steiner ermittelt hatten. Damals hatte er sich ja auch schon mit den Phänomenen Agilität, Selbstorganisation und Führung beschäftigt. Er erinnerte sich noch gut, dass er dazu einiges gelesen und sich viele Notizen gemacht hatte. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo seine Notizbücher von damals abgeblieben waren. Wäre sicherlich interessant, noch einmal nachzulesen, was er sich damals dazu aufgeschrieben hatte. Schließlich hatte ihm sein früherer Chef und Mentor Josef Kallinger jahrelang eingeschärft, dass man den Kontext klären musste, wenn man die Textur eines Verbrechens erkennen wollte. Bislang hatte sich dieses Credo noch in jedem Fall bewahrheitet. Ohne die genauen Umstände erhellt zu haben, waren weder das Motiv noch die Mittel eines Mordes zu entschlüsseln. Geschweige denn die Gelegenheit, die der Täter für seinen tödlichen Anschlag genutzt hatte. Was ihn einmal mehr auf die alles entscheidende Frage zurückwarf, ob sie es in der aktuellen Situation überhaupt mit einem Mordfall zu tun hatten. Und, falls ja, welche Rolle dabei die Themen spielten, über die Pflückinger sprach. Hatte Joschaks Tod überhaupt etwas mit seiner beruflichen Tätigkeit zu tun? Spielte es eine Rolle, dass er als Manager tätig war? Und wenn ja, lag das Motiv möglicherweise in den Veränderungsprozessen begründet, die die Acros gerade durchlief?
Ohne es zu wollen, zuckte Nemecek mit den Schultern. Zweifellos war es noch zu früh, um darauf schlüssige Antworten liefern zu können. Bis es so weit war, konnte er immerhin sein Verständnis über die neue Arbeitswelt vertiefen. Dementsprechend entschlossen klickte er auf einen weiteren Link auf seinem Tablet.
»Wir sollten uns allmählich eingestehen, dass wir diese neue Welt niemals mit unseren alten Landkarten bewältigen können.« (Meg Wheatley)
Nemecek setzte den Stift ab. Diese Verbindung von Welt und Landkarte gefiel ihm – nicht zuletzt, weil sie auch einiges mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun hatte. Sie weckte Erinnerungen an legendäre Diskussionen, die sie in der Familie bei Wanderungen regelmäßig hatten. Einmal war Lea sogar wutentbrannt in den Wald gelaufen, nachdem sie als Navigationsverantwortliche lautstark infrage gestellt wurde. Damals waren sie noch mit echten Wanderkarten unterwegs gewesen, aus Papier und so trickreich gefaltet, dass Nemecek sich regelmäßig verhedderte. Statt einer kompakten Mappe glichen die von ihm zusammengelegten Karten eher einem unförmigen Stapel Papier.
Die Karte in ihrer Hand hinderte Lea damals freilich nicht daran, die gesuchte Abzweigung gleich zweimal zu verpassen. Während die ganze Wandergruppe im Kreis lief, mehrte sich der Unmut der anderen Kinder, die schon länger über Hunger klagten und am liebsten den direkten Weg zur Jausenstation eingeschlagen hätten. Lea schwor natürlich Stein und Bein, dass dies der richtige Weg war. Nemecek stellte fest, dass es auf der Karte genau danach aussah. Umso größer war die Überraschung, als sie später im Biergarten entdeckten, dass es sich gar nicht um eine Karte des Anninger handelte, auf dem sie unterwegs waren, sondern um eine des benachbarten Prielstein!
Die ganze Geschichte war letztlich halb so wild, schließlich war ihnen die Umgebung vertraut. Nachdem sich die Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten, mussten sie nur einem der ausgetretenen Pfade folgen, um zu dem gesuchten Rastplatz zu kommen. Da war die Welt in globaler Hinsicht schon ein ganz anderes Kaliber. Allein, wenn er Revue passieren ließ, welche tiefgreifenden Veränderungen seit der Geburt seiner beiden Töchter stattgefunden hatten: seien es nun politische Veränderungen, wie die weltweiten Flüchtlingsströme, ökologische, wie sie die von seinen Töchtern leidenschaftlich unterstützte Friday for Future-Bewegung thematisierte, soziale Veränderungen, die nicht zuletzt durch die sozialen Medien forciert wurden, oder eben ökonomische Veränderungen, die Unternehmen vor ungeahnte Herausforderungen stellten. Dafür gab es eben schon lange keine verlässlichen Landkarten mehr, geschweige denn ausgetretene Pfade, denen man einfach folgen konnte. Dazu kam, dass sich mit dem Markt auch die inneren Anforderungen an Organisation und Management gewandelt hatten. Schließlich legten die Kunden mittlerweile auf ganz andere Dinge wert, als dies 20 Jahre zuvor der Fall war. Und dasselbe galt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der diversen Generationen X, Y und Z, die klammheimlich die Unternehmenskulturen dieser Welt veränderten.
»Wir bewegen uns durch unbekanntes Gelände«, las er weiter, »und dafür brauchen wir neue Formen der Navigation.« Das war zwar reichlich metaphorisch, doch Nemecek liebte seit jeher starke Bilder, die nicht nur trockene Fakten boten, sondern Raum zum Nachdenken öffneten. In diesem Fall wurde die Tür zu einer der Kernfragen der Agilität aufgestoßen: Wozu das Ganze? Wenn der Weg in eine erfolgreiche Zukunft durch unbekanntes Gelände führt, so die Argumentation, brauchen Unternehmen jedenfalls mehr Flexibilität. Und sie brauchen andere Formen der Steuerung, um eine solche Flexibilität zu gewährleisten.
Das leuchtete ihm ein und er vertiefte sich weiter in den Text. Wenn sich die Welt schneller drehte und zugleich immer unberechenbarer wurde, müssen Unternehmen möglichst bewegliche Systeme schaffen. Das konnte jedoch nur gelingen, wenn die Unternehmen agiler wurden, was ja buchstäblich mehr Beweglichkeit und Schnelligkeit versprach. Die gewünschte Agilität hing allerdings davon ab, dass man überhaupt mitbekam, was sich rundherum tat. Dafür benötigte man wiederum eine besondere Form des Radarsystems, das den eigenen Informationsstand beständig aktualisierte. Fragte sich bloß, wie das in der Praxis gelingen konnte.
Nur wenig später stieß er auf eine überzeugende Antwort: Um für ein möglichst breites Sensorium zu sorgen, hieß es da, müssen nicht nur einzelne Spezialisten, sondern alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Fühler ausstrecken. Sie würden, argumentierte die Autorin weiter, gleichsam zu Spionen, die das Geschehen auskundschaften, indem sie mit Kunden reden, deren Wünsche erkunden, neue Möglichkeiten ausloten und ihre fachkundigen Schlüsse zogen. Um die wahrgenommenen Chancen und Risiken möglichst effizient verarbeiten zu können, brauchte es wiederum geeignete Kommunikationsformate und Arbeitsprozesse. Denn die beste Information nützte wenig, wenn man organisationsintern nicht imstande war, die neuen Anforderungen rasch zu teilen und entsprechend umzusetzen, um dem Kunden bessere Produkte und Dienstleistungen zu liefern.
»Hallooo? Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken?«
Nemecek hob den Kopf. Anscheinend war er so vertieft gewesen, dass er seine Frau nicht mehr wahrgenommen hatte. Bettina musterte ihn skeptisch. »Du kannst wohl niemals abschalten, oder? Und wenigstens für ein paar Stunden ganz bei uns sein?«
Mehr als ein hilfloses Schulterzucken hatte Nemecek nicht zu bieten. Er merkte, dass ihn die kritischen Worte seiner Frau störten. Aber noch mehr störte ihn die Ahnung, dass sie recht hatte.
»Also noch einmal«, sagte Bettina eindringlich. »Was wollen wir denn heute Abend essen? Die Kinder haben Hunger. Und wie du weißt, duldet das keinen Aufschub. Du kennst sie ja!«
Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass die vier Mädchen bereits ihre Badesachen in den Händen hielten. Er hatte weder bemerkt, wie ihre große Seeschlacht weiterverlaufen, noch wann sie zu Ende gegangen war. Aber nun war offenkundig Aufbruch angesagt. Nemecek stand von seiner Liege auf und ging auf die jungen Damen zu.
»Hallo Mädels«, rief er mit demonstrativer Fröhlichkeit, »wie war’s im See?«
»Eh lustig«, beschied Sophie kurz angebunden. »Nun haben wir aber vor allem eines: einen riesigen Hunger.«
»Ich könnte ein Mammut verdrücken!«, bestärkte Lea.
»Noch jemand, der Lust auf Mammut hat?«
»Papa!«, mahnte Sophie und hielt sich die Hand auf den Bauch. »Lass deine müden Witze. Sag uns lieber, was es zu Essen gibt.«
»Worauf habt ihr denn Lust?«
»Wie wär’s mal wieder mit Pizza?«, preschte Klara vor.
»Oder Huhn«, meinte Lydia.
»Oder Lasagne«, ergänzte Sophie.
Nemecek musste lachen. »Was denn nun? Könnt ihr euch nicht auf ein Gericht einigen?«
»Wie wär’s mit Kindergruppenessen?« Bettina blickte gespannt in die Runde.
»Ja«, riefen Sophie und Lea wie aus einem Munde. »Das machen wir!«
»Was ist Kindergruppenessen?«, fragte Klara skeptisch. Für sie klang das wahrscheinlich ein wenig nach Babybrei.
»Das ist unser Lieblingsgericht«, klärte Sophie ihre Freundin auf. »Das hat der Papa immer gemacht, wenn er in der Kindergruppe Kochdienst hatte.«
Klaras Zweifel schienen nicht geringer geworden zu sein. Kochdienst klang wohl nur wenig vertrauenserweckend.
»Und was ist das nun für eine Wunderspeise?«
»Hühnergeschnetzeltes mit Karotten, Zwiebeln und Paprika in einer weißen Sauce. Dazu Reis und Salat. Ur lecker!«
»Darin ist unser Dad ein echter Spitzenkoch«, bestätigte Lea.
»Von mir aus«, gab sich Klara geschlagen, klang jedoch alles andere als überzeugt.
»Und du?«, wollte Sophie nun auch von Lydia wissen.
»Okay.«
»Also«, zeigte sich der designierte Spitzenkoch entschlossen, »dann nehme ich hiermit eure offizielle Bestellung an! Ich hoffe nur, wir haben alle Zutaten im Haus.«
»Und ich hoffe, es dauert nicht lange. Ich habe nämlich schon einen totaaaalen …«
»Das wissen wir schon!«, fuhr Sophie ihrer Schwester in die Parade. »Du musst nicht alles tausendmal wiederholen.«