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Donnerstag, 15:57 Karawanken-Karibik

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Nemecek ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Er musste sich die Hand vor die Augen halten, so sehr blendeten ihn die kleinen Sonnenpunkte, die über das Wasser tanzten. Dennoch war die Aussicht atemberaubend. Der Faaker See hatte jetzt wieder diese türkisblaue Färbung angenommen, die ihn so auszeichnete. Die Karibik der Karawanken hatte das ein findiger Tourismusmanager einmal genannt. Dazu das Grün des Grases, das trotz der spätsommerlichen Hitze immer noch erstaunlich frisch wirkte. Selbst die Nadelbäume auf der gegenüberliegenden Insel schienen zu leuchten. Keine 500 Meter entfernt, das wusste Nemecek von seinen zahlreichen Seeüberquerungen, sei es nun schwimmend, mit dem Ruderboot oder dem sogenannten Wassertaxi, das alle Gäste zwischen Festland und Inselhotel hin und her transportierte. Er hob den Kopf. Über dem Dobratsch hingen tiefschwarze Wolken. Ob es heute noch gewittern würde?

»Die dunklen Flecken stammen wahrscheinlich von Joschaks Blut«, holte ihn Obermayr aus der Seeidylle wieder in die Gegenwart ihres Lokalaugenscheins zurück. Nachdem sie sich eine Zeit lang in der näheren Umgebung umgesehen hatten, standen sie nun wieder nebeneinander auf dem Steg.

Nemecek blickte seine Kollegin entgeistert an. »Seit wann verliert eine Wasserleiche noch Blut?«

Obermayr war so perplex, dass sie lachen musste. »Upps! Da ist wohl meine kriminalistische Fantasie mit mir durchgegangen.«

»Du solltest dir vielleicht weniger Horrorfilme ansehen – und mehr von diesen forensischen Videos. Da sind auch jede Menge Ertrunkene dabei.«

»Jaja, ich weiß schon, die Blutlosen.« Obermayr nickte abwesend und streckte dann noch einmal die Hand aus. »Den Fotos vom Fundort zufolge, lag er genau hier, als die Kollegen eingetroffen sind.«

Nemecek folgte ihrer Geste: Ja, laut Protokoll hatten sie Joschaks Körper in diesem Bereich aus dem Wasser gefischt. Sonst aber deutete nicht das Geringste darauf hin, dass an dieser Stelle vor Kurzem ein Mensch ums Leben gekommen war. Wie gewohnt schaukelten die Boote im leichten Wellengang. Zwölf, zählte Nemecek, oder dreizehn, wenn man das kleine Schlauchboot mitrechnen wollte, das ganz vorne am Stegende befestigt war. Die anderen Boote waren ebenfalls relativ klein, schließlich war am Faaker See nur Elektroantrieb erlaubt. Kein Vergleich mit dem keine fünfzehn Kilometer entfernten Wörthersee, der von vielen großen Motorbooten und Ausflugsschiffen bevölkert war. Hier am Faaker See gab es nichts davon. Keinen Lärm, keinen Gestank und nichts von diesem aufgeregten Treiben, das seine Töchter gerne als Halligalli bezeichneten.

Nemecek ließ seinen Blick noch einmal über den See gleiten: von der Reihenhausanlage, die sie vor ein paar Jahren im Ort errichtet hatten, über den breiten Schilfgürtel, der sich vom Faaker Campingplatz auf der Westseite nach Norden zog, bis zum Tabor, dem Hausberg, der am Ostufer knapp 800 Meter in die Höhe ragte. Erst jetzt fiel Nemecek auf, dass von den Unwettern der letzten Tage kaum mehr etwas zu sehen war. Üblicherweise war der See nach Gewittern immer ziemlich aufgewühlt. Ab und an trat er sogar über die Ufer und sorgte für großräumige Überflutungen. Tagelang war das Wasser dann ganz braun gefärbt und überall schwammen Gras- und Schilfreste herum. Jetzt allerdings ließen nur mehr die mächtigen Schotterbänke erahnen, was sich hier in den letzten Tagen abgespielt hatte. Laut Wetterdienst hatte es nicht nur sintflutartige Regenschauer gegeben, vielmehr waren auch Unmengen Steine und Sand aus dem Gebirge in die Tiefe gestürzt. Wer einmal das bis zu 50 Meter breite Flussbett gesehen hatte, das sich in Richtung Mittagskogel in die Landschaft grub, verstand den Ausdruck Naturgewalten sicher um einiges besser.

Nemecek schreckte hoch. Hatte Obermayr etwas zu ihm gesagt? Als er jedoch zur Seite blickte, sah er sie ganz ruhig am Steg stehen. Nur ihre Augen waren ganz eng zusammengekniffen, da auch sie ihre Sonnenbrille im Auto vergessen hatte. Soweit er feststellen konnte, gab es keinen Hinweis darauf, dass ihm seine Kollegin eine Frage gestellt hatte. Stattdessen schien sie ähnlich in Gedanken versunken zu sein wie er selbst. Er trat einen Schritt zurück. Je länger sie am Steg standen, desto unsicherer war sich Nemecek, was er hier eigentlich zu finden hoffte. Eine überraschende Spur? Einen konkreten Hinweis auf den Tathergang? Gar ein Gefühl für den Toten?

Er blickte auf die Uhr. Verdammt, schon fast fünf Uhr! Dabei hatte er seiner Familie versprochen, spätestens um vier am Strand zu sein. Sie sollten hier Schluss machen. Immerhin hatten sie sich nun ein Bild von der Umgebung gemacht und gedanklich einige Szenarien durchgespielt.

»Brauchst du noch Zeit?«

»Nicht im Geringsten.« Demonstrativ streckte Obermayr ihre verschwitzten Arme aus und deutete einen Kopfsprung an. »Ich verzehre mich danach, ins kühle Nass einzutauchen!«

Nemecek grinste. Da war es wieder, das dramatische Talent, das seine Kollegin zwischendurch gerne aufblitzen ließ. »Dann lass uns hier die Zelte abbrechen und endlich ins Wasser hüpfen. Sonst bilden sich womöglich noch Blasen auf unserer Haut.«

»Bist du zu lange in der Sonne, beschert der Brand dir keine Wonne«, kalauerte Obermayr. Damit war von ihrer Seite her wohl wieder einmal alles gesagt. Doch Nemecek täuschte sich, denn keine zwei Schritte später fragte sie plötzlich: »Verdammt! Wollten wir nicht noch Lillys Recherchen durchgehen?«

Nemecek fluchte innerlich. Wie konnte er das nur vergessen? Natürlich war es sinnvoll, sich noch ein möglichst vollständiges Bild zu machen, bevor sie morgen früh die Kärntner Kollegen trafen. Also musste das Schwimmvergnügen weiter warten.

»Wo sind wir denn stehen geblieben?«, fragte er ungeduldig.

»Beim beruflichen Werdegang von Marco Joschak. Aber keine Sorge, das geht schnell.«

»Hoffentlich.«

Obermayr zog ihr Tablet aus der Tasche. »Alsdann in medias res. Nachdem Joschak 1994 die Schule abgebrochen und sich ein paar Jahre lang mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hatte, absolvierte er 1999 die Abendmatura. Nur fünf Jahre später hatte er das Diplomstudium Informatik abgeschlossen und weitere zwei Jahre danach auch noch einen MBA in der Tasche. Scheint ihm irgendwie der sprichwörtliche Knoten geplatzt zu sein.«

Nemecek gab ein anerkennendes Pfeifen von sich. Das musste man erst einmal bringen!

»Ab 2001, also noch während seines Studiums, war Joschak für die Firma Best Data als Softwareentwickler tätig. Eine kleine IT-Firma in Klagenfurt, die drei Jahre später von der Acros gekauft wurde.«

»Dieser Mikroelektronik-Bude in Villach?«

»Genau. Ab 2004 war der frisch gebackene Diplomingenieur dort als Projektleiter, dann auch als Teamleiter eingesetzt. 2006 machte man ihn zum stellvertretenden Leiter der Softwareentwicklung, eher er ein Jahr später die Gesamtleitung übernahm.«

»Aha«, fühlte sich Nemecek zumindest zu einer nonverbalen Reaktion verpflichtet. Das Ganze erinnerte ihn unweigerlich an die SafeIT, jenes auf digitale Sicherungssysteme spezialisierte Familienunternehmen, das letztes Jahr in einen spektakulären Mordfall verwickelt war. Während ihrer Ermittlungen in diesem Unternehmen hatten sie allerdings nicht nur dunkle Machenschaften, sondern auch erhellende Arbeitsweisen entdeckt. In der SafeIT wurde nämlich allerorten das sogenannte visuelle Arbeitsmanagement mit Kanban eingesetzt, das ursprünglich aus der Automobilproduktion stammte und im Laufe der letzten Jahre auf alle möglichen Bereiche komplexer Wissensarbeit übertragen wurde. Aufgrund dessen hatten sie bereits im Laufe ihrer Ermittlungen damals vom Tatort Kanban gesprochen.

»Einige Jahre lang ist die Acros rasant gewachsen, aber in den letzten Jahren scheint die Expansion ins Stocken geraten zu sein. Angeblich kam es vermehrt zu Qualitätsproblemen, sodass das Unternehmen sogar einige Großkunden verlor und in die roten Zahlen abrutschte. Anfang des Jahres hat man offenbar die Notbremse gezogen und einen neuen CEO geholt. Einen Schweizer namens Reto Pflückinger.«

»Aha«, wiederholte Nemecek, weil ihm nichts Besseres einfiel. Irgendwie hing er immer noch in seinen Erinnerungen an die SafeIT fest, ohne dass er darin einen besonderen Hinweis entdecken konnte. Wie sollte ihm der alte Fall schon in seiner aktuellen Situation weiterhelfen?

»Und jetzt rate mal, womit der gleich Schlagzeilen gemacht hat.«

Unwillkürlich presste Nemecek die Lippen aufeinander. Obermayr wusste ganz genau, dass er solche Rätselfragen nicht leiden konnte. Warum nervte sie ihn ständig damit?

»Du wirst es mir hoffentlich gleich sagen«, knurrte er.

»Pflückinger hat sich vor allem dadurch einen Namen gemacht, dass er im gesamten Unternehmen auf zukunftsweisende Arbeitsmethoden setzte.«

»Zukunftsweisende Arbeitsmethoden?«

»Ich sag nur: agil, lean, selbstorganisiert!«

»Nicht schon wieder!«, entfuhr es Nemecek, der sich nun endgültig wie auf einer Zeitreise in die Vergangenheit fühlte. Auch bei der SafeIT wurde ja die gesamte Organisation völlig neu gestaltet, was zu neuen Formen der Zusammenarbeit und sogar zu einem aufsehenerregenden neuen Bürogebäude führte. Ein derartiges Unternehmen, das gänzlich auf die traditionellen hierarchischen Strukturen und Ebenen verzichtete und stattdessen auf das Arbeiten auf Augenhöhe und Selbstverantwortung setzte, war Nemecek zuvor noch niemals untergekommen. Obwohl der Mordfall damals einen gewissen Schatten auf das Unternehmen warf, schien ihnen der anhaltende Erfolg recht zu geben. Der strategischen Kombination von Kundennähe und interner Vernetzung schien die Zukunft zu gehören.

»Unternehmerische Agilität stellt das Management vor völlig neue Herausforderungen.«

Nemecek blickte irritiert zur Seite. »Sagt wer?«

»Pflückinger himself. Und zwar in einem Interview mit dem Economy-Magazin.«

»Und was sagt er noch so?«

»Eine ganze Menge – zumindest, wenn man von den Artikeln ausgeht, die uns Lilly beigelegt hat. Ich leite dir das gleich weiter. Ist garantiert eine unterhaltsame Strandlektüre.«

»Pflückinger sieht sich also als agiler Manager?«

»Scheint so«, bestätigte Obermayr. »Zumindest wird er in dem Interview als mutiger Pionier in Sachen innovatives Organisationsdesign bezeichnet.«

»Innovatives Organisationsdesign?« Nemecek blieb seiner skeptischen Linie treu. »Große Worte. Fragt sich, was da tatsächlich dahintersteckt.«

»Offenbar geht es um die Gestaltung von Unternehmen, die einerseits nahe am Markt sind und andererseits attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Einfach gesagt: Kunden- und Mitarbeiterorientierung so miteinander verbinden, dass man möglichst rasch und flexibel agieren kann.«

Nemecek schürzte die Lippen. »Das sollten wir uns wirklich noch genauer anschauen.«

Obermayr steckte ihr Tablet in die Tasche zurück. »Doch bevor wir uns in diese ganzen Klugheiten vertiefen, dürfen wir hoffentlich mal in den See springen.«

»Jawolle, Frau Holle«, bekräftigte Nemecek mit ungeahntem Schwung. Bis ihm gleich darauf einfiel, dass ihr Kollege Bialek keine 24 Stunden zuvor genau dieselben Worte gebraucht hatte.

Tod dem Management

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