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Montag, 9:55 Grelle Trauer

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Außer Betrieb, verkündete das rote Schild an der Gittertür.

»Na super!« Obermayr verdrehte die Augen. »Jetzt auch noch Fitnesstraining!«

»Tür 24«, erinnerte sich Nemecek. »Bei unserem Glück wahrscheinlich ganz oben.«

Vier Stockwerke später wussten sie, dass die Einschätzung richtig war. »Schön, dass wir den maximalen Trainingseffekt auskosten dürfen«, bemerkte Obermayr keuchend.

Nemecek war verwundert. Setzte ihr das Treppensteigen tatsächlich so zu? Sie war doch immer ganz gut in Form gewesen? Oder war das heute einfach nicht ihr Tag? Bevor Nemecek zu einer Antwort gekommen war, drückte seine Kollegin bereits den Schalter mit der kleinen Glocke. Von innen ertönte nicht mehr als ein leises Klingeln. Ansonsten gab es keinerlei Geräusche, die darauf schließen ließen, dass sich jemand näherte. Sicherheitstür, registrierte Nemecek automatisch, während er überlegte, ob die Witwe ihren Termin verschwitzt haben könnte. Instinktiv spitzte er die Ohren. War da ein Geräusch gewesen?

Als sich die Tür schließlich öffnete, musste Nemecek unwillkürlich blinzeln. Vor ihm stand eine stattliche Frau in einem schwarzen Kleid, dem man ansah, dass es nicht von der Stange war. Mitte 40, etwa 1 Meter 70 groß, schätzte Nemecek, zumindest wenn er die roten Stöckelschuhe abzog, mit denen sie jetzt fast so groß war wie er selbst. Ihr rundliches Gesicht war stark geschminkt, vor allem die schwarz umrandeten Augen stachen hervor, die zusammen mit den übernatürlich langen Wimpern ihre hellgrüne Iris noch stärker zur Geltung brachte. Dazu hatte sie einen kirschroten Lippenstift aufgetragen und trug kugelförmige Ohrringe im selben Farbton. Am Auffälligsten war indes dieser scharfe Kontrast zwischen ihrer Trauerkleidung und den wasserstoffblonden Haaren, die sie offensichtlich auftoupiert hatte, um für noch mehr Volumen zu sorgen. Dadurch wirkte die ganze Frisur wie ein überdimensionierter Helm. Ob sie sich extra für ihren Besuch so aufgedonnert hatte? Oder lief sie die ganze Zeit so durch die Gegend? Für Nemecek hatte Joschaks ganze Erscheinung etwas ungeahnt Grelles und er musste an sich halten, um nicht die Augen zusammenzukneifen.

»Frau Joschak?«, rettete ihn Obermayr aus seiner Verlegenheit. »Chefinspektor Nemecek, Bezirksinspektorin Obermayr. Dürfen wir hereinkommen?«

Wortlos trat Joschak zur Seite und gab den Blick auf den dahinter liegenden Flur frei. Kiefer? Buche? Eiche?, versuchte Nemecek die Holzart zu identifizieren, die hier dominierte. Während er weiter ins Wohnungsinnere vordrang, stieg ihm eine Wolke von schwerem Parfüm in die Nase. Dior kam ihm in den Sinn, obwohl er keine Ahnung hatte, ob das wirklich so roch. Aus irgendeinem Grund schien Dior perfekt zu der extravaganten Erscheinung zu passen.

Als er wenige Augenblicke später die Küche betrat, wusste er zumindest, woran ihn bereits der Eingangsbereich erinnert hatte – nämlich an die Ferienwohnung, die sie seit Jahren für ihren Sommerurlaub am Faaker See buchten. Also an genau jenes Quartier, in dem seine Familie derzeit ihren Urlaub verbrachte. Kärntner Landhausstil, pries dieses Quartier an, und das war es auch, was er hier vorfand: helles Holz so weit das Auge reichte, dunkle Maserung, glänzende Oberflächen und dazu dieser süßliche Geruch nach Bienenwachs, der dem Ganzen eine ganz besondere Note verlieh. Auf der rechten Seite stand eine mindestens zwei Meter hohe und wohl ebenso breite Kredenz, auf der linken eine Eckbank mit roten Sitzbezügen. Dazu gab es passende Tischdecken, Lampenschirme und Zierpolster. Es war kaum zu übersehen, dass hier eine versierte Gestalterin am Werk gewesen war.

»Nehmen Sie doch Platz.«

»Danke«, murmelte Obermayr, bevor sie einen der massiven Holzstühle unter dem Tisch hervorzog.

»Ich muss sagen, dass ich ein wenig überrascht bin«, eröffnete Joschak. Nemecek fiel auf, dass ihr Oberkörper dabei leicht hin und her pendelte.

»Sie sind überrascht?« Obermayr staunte. »Unsere Kollegin hat Ihnen doch unser Kommen angekündigt?«

»Was haben Sie herausgefunden?«, antwortete Joschak mit einer Gegenfrage, während der sie ihren Kopf zweimal auf- und abwippen ließ.

»Die Untersuchungen laufen noch«, erklärte Nemecek mit einer Polizeifloskel und legte gleich eine zweite nach. »In der Zwischenzeit durchleuchten wir das Umfeld des Toten.«

Mit geschlossenen Augen erwiderte Joschak: »Ich habe eigentlich nicht mehr damit gerechnet, dass die Polizei noch ihrer Arbeit nachgehen würde.«

»Lassen wir das«, wies Nemecek den Vorwurf in aller Entschiedenheit zurück. Er staunte selbst über seinen strengen Tonfall, doch er wollte sich keinesfalls auf das klassische Rechtfertigungsspiel einlassen. Stattdessen erklärte er, dass sie hier seien, um mehr über das Umfeld des Toten zu erfahren.

»Was können Sie uns über Ihren Mann erzählen?«, übersetzte Obermayr.

»Was genau wollen Sie wissen?« Wieder dieses leichte Pendeln mit dem Oberkörper. Hatte Joschak Probleme mit ihrem Gleichgewichtssinn?

»Was war er für ein Mensch?«

Die grelle Witwe faltete ihre Hände, trennte sie jedoch gleich wieder, als erinnere sie diese Berührung an ein Gebet. Gleich darauf fuhr sie sich vorsichtig über ihr Haar, als prüfe sie den Sitz ihrer Frisur. Sie öffnete ihre Lippen, blieb allerdings weiterhin eine Antwort schuldig. Dafür begann sie nun laut durch den Mund ein- und auszuatmen.

Verblüfft verfolgte Nemecek die seltsame Darbietung. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an das Spiel Activity, bei dem es um das Erklären und Erraten bestimmter Begriffe ging. Joschak schien die Karte mit dem Wort Unentschlossenheit gezogen zu haben und sich in der Phase zu befinden, in der man das Gesuchte pantomimisch darstellen musste. Je länger Nemecek die grelle Witwe betrachtete, umso befremdlicher kam ihm ihr Schauspiel vor. Irgendwie wirkte das Ganze einstudiert, wie eine Choreografie der Trauer, die Marina Joschak vor dem Spiegel eingeübt hatte. Doch von einem Moment zum anderen schien sie die Unentschlossenheit abgelegt und stattdessen den Begriff Verzweiflung in Arbeit zu haben. Jedenfalls griff sie sich nun an die Stirn und stöhnte theatralisch. »Das darf doch alles nicht wahr sein!« Aus den Augenwinkeln bemerkte Nemecek, wie ihm Obermayr einen vielsagenden Blick zuwarf. Während sich die Stirn seiner Kollegin in Falten legte, murmelte ihr Gegenüber: »Das ist alles nur ein böser Traum!« Ganz langsam nahm sie ihr Gesicht in beide Hände und schüttelte dann den Kopf: »Nein! Nein! Nein!«

Nemecek spürte seine wachsende Unruhe. Konnte Joschak ihren Schmerz nur auf diese exaltierte Weise zum Ausdruck bringen? Rang sie plötzlich derart heftig mit ihrer Trauer, nachdem sie vor ein paar Tagen noch höchst aggressiv aufgetreten war? Demonstrativ schüttelte Nemecek den Kopf. Im Laufe seiner Karriere hatte er ja schon vieles gesehen, doch Joschaks Verhalten kam ihm ebenso dick aufgetragen vor wie ihre Schminke. Maske, Kostüm, Bühne und sie als geduldige Zuschauer – passte doch alles wunderbar zusammen.

Obermayr warf ihm einen genervten Blick zu, als ginge ihr gerade genau dasselbe durch den Kopf. Lange würde sie sich diese Vorstellung nicht mehr bieten lassen. Schon verformte sich ihre linke Augenbraue zu einem zornigen Ausrufezeichen, als Joschak die Hände vom Gesicht riss und unvermittelt zu reden begann.

»Was war er für ein Mensch?«, wiederholte sie die ursprüngliche Frage, während sie ihren wackligen Oberkörper energisch aufrichtete. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr auf die Tischplatte vor ihr fixiert, sondern starrten geradewegs nach oben, als fände sie die Antwort irgendwo an der Küchendecke. »Als ich ihn kennenlernte, hatte Marco gerade die Schule abgebrochen. Im Grunde war er damals ohne jede Perspektive, ein klassischer Kandidat für die Straße.« Mit dieser Erinnerung schien sich Joschaks Blick neuerlich in der Ferne zu verlieren.

»Aber es kam anders«, setzte Obermayr nach, um ihren Redefluss in Gang zu halten.

»Er hat es immerhin bis zum Abteilungsleiter gebracht, der für über 100 Leute verantwortlich war«, sprang Joschak ansatzlos von der Frühgeschichte in die Gegenwart und dann gleich weiter in die Zukunft. »Und demnächst sollte er sogar in den Vorstand aufrücken!«

Nun war es an Nemecek, überrascht zu sein. Beförderung? Konkurrenz? Neid?, kritzelte er rasch in sein Notizbuch, das bis dahin unberührt vor ihm lag.

»Das heißt, er war ein Mensch, der sich durchzusetzen wusste.«

Während Obermayr gespannt auf eine Reaktion wartete, begannen Joschaks Augenlider unkontrolliert zu flattern. Es sah gespenstisch aus und Nemecek fragte sich ernsthaft, ob mit ihrer Gesprächspartnerin alles in Ordnung war. Setzten sie sie zu sehr unter Druck? Unterschätzten sie, wie nahe ihr der Tod ihres Mannes ging? Unversehens senkte Joschak den Kopf und schloss die Augen. Nemecek befürchtete schon, sie könnte einfach einschlafen, als sie im nächsten Moment wieder hochfuhr und weitersprach, als wäre nichts gewesen.

»Er war der ehrgeizigste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Und nicht nachließ, bis er das auch erreicht hatte.«

»Damit wird er sich nicht nur Freunde gemacht haben«, unterstellte Obermayr.

»Im Gegenteil, seine Mitarbeiter haben ihn verehrt«, gab Joschak spitz zurück. »Was ja auch kein Wunder ist, so wie sich Marco für sie eingesetzt hat.«

»Er hatte also keinen Streit, von dem sie wissen? Keine Feinde, die ihm Übles wollten? Keine Konkurrenten oder Neider?«

Statt die Frage zu beantworten, presste sie die Lippen zusammen und deutete ein Kopfschütteln an.

Nemecek sah, wie Obermayr ein Seufzen unterdrückte. Wahrscheinlich fragte sie sich genau wie er selbst, warum sich Marina Joschak so verschlossen gab, wenn sie doch wollte, dass aus dem vermeintlichen Unfall ein Mordfall wurde? Irgendetwas stimmte hier nicht. Vielleicht mussten sie pointiertere Fragen stellen?

»Lassen Sie uns noch einmal zu dem verhängnisvolles Abend zurückkehren«, schlug er vor. »Laut Protokoll der Faaker Kollegen haben Sie Ihren Mann bereits um 22 Uhr als vermisst gemeldet.«

Joschak starrte Nemecek an und er starrte zurück. Ihre Augen wirkten glasig. Erst in diesem Moment kam ihm der Gedanke, dass die Witwe unter Medikamenteneinfluss stehen könnte. Oder hatte sie getrunken? Oder beides? Das würde jedenfalls ihr seltsames Verhalten erklären und wohl auch diesen leichten Zungenschlag, den er bisher ihrem Dialekt zugeschrieben hatte.

»Warum haben Sie sich schon so früh Sorgen gemacht?«

Wieder reagierte Joschak erst mit Verspätung auf Obermayrs Frage. »Ich habe gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.«

»Es war üblich, dass er sich gleich nach seinem Triathlontraining bei Ihnen meldete?«

»Selbstverständlich! Wenn er in Villach zu tun hatte, nützte er jede freie Minute dafür. Aber nach dem Training haben wir immer miteinander telefoniert.«

»Aber es ist doch sicher einmal vorgekommen, dass er dann noch etwas essen gegangen ist? Oder zumindest etwas trinken?«

Joschak drehte neuerlich ihren Kopf hin und her. Dann wechselte sie übergangslos vom Verwirrungs- in den Angriffsmodus. »Ihre Kollegen waren total inkompetent. Zuerst haben sie mich als lästige Bittstellerin behandelt und dann das Ganze als tragischen Unfall abgetan.«

»Was macht sie so sicher, dass es keiner war?«

»Hören Sie!« Joschak lehnte ihren Oberkörper noch weiter nach vorne. »Marco war Spitzensportler, er kannte die Gegend, ist praktisch am See aufgewachsen.«

»Sie wissen schon, dass die meisten unnatürlichen Todesfälle in den eigenen vier Wänden passieren«, hielt Obermayr dagegen. »Also in der Gegend, die man für gewöhnlich am allerbesten kennt.«

»Es war Mord!«, schrie Marina Joschak unvermittelt und sprang von ihrem Stuhl auf. Es klang wie ein fernes Echo des Vorwurfs, mit dem sie vor ein paar Tagen das Polizeipräsidium verlassen hatte. Nemecek sah, wie Joschaks Hände zitterten. Sie merkte es wohl auch selbst und stützte sich an der Tischplatte auf, um wieder festeren Halt zu finden.

»Was macht Sie so sicher?« Nemecek spürte deutlich, dass sie nun in einer neuen Gesprächsphase angekommen waren.

»Weil man meinen Mann gnadenlos unter Druck gesetzt hat«, erklärte Joschak, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.

»Inwiefern?«

»Alles nur, weil sich dieser Schweizer in den Kopf gesetzt hat, dass alles anders werden muss.«

»Sie meinen Reto Pflückinger, den neuen CEO?«, fragte Obermayr.

»Plötzlich muss alles anders werden. Angeblich geht es um Verbesserung, dabei wird einfach nur ganz viel zerstört.«

»Wie zerstört?«

»Glauben Sie denn wirklich, dass mein Mann zufällig gestorben ist?« Joschak riss die Arme zur Seite. »Der ist gezielt ausgeschaltet worden!«

»Haben Sie dafür auch irgendwelche Beweise?«

»Und dass er demnächst zum Technikvorstand berufen werden sollte, rief natürlich jede Menge Neider auf den Plan.«

»Neider?« Nemecek horchte auf. Er hoffte, dass Joschak nunmehr Tacheles reden würde: spezielle Situationen, nachvollziehbare Zusammenhänge, konkrete Namen. Doch diese blieb ihrer Linie treu, direkte Fragen nicht zu beantworten. Zweifellos befand sie sich unverändert in ihrem eigenen Film.

»Natürlich haben sich auch andere für den Job beworben. Vor allem Johanna Kniewasser hat keine Gelegenheit ausgelassen, meinem Mann Prügel zwischen die Beine zu werfen.«

Kniewasser, notierte Nemecek rasch in sein Notizbuch und zeichnete einen dicken Pfeil zu den möglichen Motiven, die er zuvor festgehalten hatte. Beförderung? Konkurrenz? Neid?, las er. Es blieb ihm allerdings keine Zeit, um über weitere Zusammenhänge nachzudenken.

»Auch dieser seltsame Schwede, dieser Swartling, hat sich ja, wo es ging, gegen ihn gestellt.«

»Wie heißt der?«, rutschte Nemecek heraus, obwohl ihm klar war, dass auch dieses Fragezeichen ungeklärt bleiben würde. Swartling?, übertrug er stattdessen in sein Buch.

»Die Langholt spielt seit jeher sowieso ihr eigenes Spiel. Und aufgrund seiner Geschichte ist und bleibt der junge Wondratsch völlig unberechenbar.«

Langholt, Wondratsch, hielt Nemecek auch diese Namen fest. Viel mehr als die Namen verstand er allerdings nicht. Gut, dass sie gleich morgen früh einen Termin mit dem Vorstandsvorsitzenden von Acros vereinbart hatten. Dieses Gespräch würde mit Sicherheit so manches Rätsel lösen.

»Und außerdem«, erklärte Joschak lautstark, »bin ich mir ganz sicher, dass Gernot keinen normalen Autounfall hatte.«

»Wer ist jetzt Gernot?« Obermayr war verwirrt und Nemecek ging es nicht viel anders. Gernot, schrieb er auf und setzte gleich drei Fragezeichen hinzu, als könnte er damit eine Antwort erzwingen.

»Zettl stand genauso auf ihrer Abschussliste.«

»Was genau ist denn nun passiert? Ein Autounfall sagen Sie?«

»Angeblich war er sofort tot!« Joschak war jetzt wieder von ihrem Stuhl aufgesprungen und beugte sich nach vorn. Nemecek sah, wie ihre Hände zitterten, mit denen sie sich an der Tischplatte abstützte. »Und ein paar Tage später ertrinkt mein Mann im See. Einfach so! Zuerst Gernot, dann Marco. Sie glauben hoffentlich nicht, dass das Zufall ist?«

»Sie meinen«, setzte Nemecek zu einem neuen Klärungsversuch an, blieb aber schon im Ansatz stecken. Denn in diesem Augenblick sank Marina Joschak plötzlich in sich zusammen, als wäre alle Kraft aus ihrem Körper gewichen. Hilflos musste er mitansehen, wie sie, statt wieder auf ihrem Stuhl zu landen, leblos zur Seite kippte und mit einem dumpfen Knall auf dem Parkettboden aufschlug.

Tod dem Management

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