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Das Päckchen Shanghai, China, 1. August 2002

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Michi Endo hätte niemals in einer japanischen Stadt als Prostituierte arbeiten können. Allein schon der Gedanke, eines Tages einen Nachbarn oder sogar den eigenen Vater im Türrahmen ihres Studios zu erblicken, ließ ihren ganzen Körper erschauern.

Mittlerweile verbrachte sie ihren dritten Geburtstag in Shanghai.

Neben den Stammfreiern und der regelmäßigen Laufkundschaft, waren da noch die sogenannten Specials. In der Regel gut zahlende Geschäftsleute, die sich nur für wenige Tage in Shanghai aufhielten und die Michi ausschließlich in deren Hotelzimmern aufsuchte.

Ihr Studio befand sich in der Nähe des Jin Mao Plaza, das wie ein monumentales Mahnmal aussah und im Finanzviertel Lujiazui neben dem Huangpu Fluss lag.

Vor gut drei Jahren fertiggestellt, gehörte das Jin Mao Plaza zu den höchsten Gebäuden der Welt. Im oberen Drittel dieses Giganten residierte das Luxushotel Grand Hyatt, dessen Hotelmanager Wang Cheng höchstpersönlich dafür verantwortlich gewesen war, dass dieser extravagante Ort für Michi mit der Zeit zu einer lukrativen Einnahmequelle wurde.

Michi war erst einige Wochen in China gewesen und wohnte noch außerhalb von Shanghai in Suzhou, einer der ältesten Städte Chinas, als sie von Wang Cheng zu ihrem ersten Hotelbesuch gerufen wurde.

Der einflussreiche Grand Hyatt Manager hielt sich dort gerade für einige Tage auf, um sich mit eigenen Augen von einem neuen Animationsangebot für seine Hotelgäste zu überzeugen.

Einem alten chinesischen Sprichwort zufolge gibt es im Himmel zwar das Paradies, jedoch auf Erden Suzhou.

Berühmt für seine prachtvolle Gartenanlage Liu Yuan, was so viel heißt wie Garten des Verweilens und dem Zhuozheng Yuan-Garten, was mit Garten der anspruchsvollen Amtsperson übersetzt wird, schienen diese beiden Orte geradezu ideal für touristische Exkursionen zu sein. Außerdem war Suzhou nur 90 Kilometer von Shanghai entfernt und somit relativ schnell mit entsprechenden Reisebussen zu erreichen.

Nachdem die Tagestouren für seine künftigen Hotelgäste unter Dach und Fach waren, saß der 160 Kilogramm schwere Wang Cheng nach einem üppigen Abendessen zufrieden in der Hotellobby eines First-Class-Hotels, zog genüsslich an einer kubanischen Havanna und nippte an seinem Rèmy Martin, als er in einem Anzeigenblatt für Insider über Michis Annonce stolperte, in der sie sich mit einem Pseudonym anpries.

Der Himmel hat das Paradies – Suzhou hat Ichiko!

1st-Class Ichiko, junge, knackige, vollb. Japanerin steht dem großzügigen Geschäftsmann zu Diensten.

Nur Hotelbesuche!

An ihren Geburtstagen mussten sich Michis Kunden zwangsläufig mit dem Telefonbeantworter begnügen.

Dieser Mobilfunkteilnehmer ist zurzeit nicht zu erreichen! Bitte rufen sie später nochmals an!

Zur Feier dieses Tages, der ihr gänzlich allein gehörte, wusch sie sich jeweils in aller Ruhe ihre langen Haare und pflegte gemütlich ihre Finger und Zehen, wozu auch das Bemalen sämtlicher Nägel gehörte.

Die Sonne schien direkt in ihre kleine Küche, in der sie auf dem warmen, weiß gekachelten Steinfußboden im Schneidersitz auf einer Bastmatte saß.

Plötzlich richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf ein leises Geräusch.

Neugierig sprang sie mit den farbigen zehenspreizenden Plastikschablonen an den Füßen zur Küchenspüle, öffnete die Schranktür unter dem Spülbecken, schob den Mülleimer zur Seite und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass die Kupferrohrverbindung leckte.

Eine Wasserlache durchkreuzte ihren glückseligen Zustand, hatte bereits teilweise das weiße Furnier von der Trägerplatte des Schrankbodens gelöst und rief unweigerlich dazu auf, in Aktion zu treten.

Geistesgegenwärtig stellte Michi einen knallroten Putzeimer unter die defekte Rohrleitung, nahm mit einem Selbst-ist-die-Frau-Gefühl die Malerarbeiten an ihren Füßen wieder auf und fragte sich so nebenbei, ob der Eimer, der laut Aufschrift ein Fassungsvermögen von fünfzehn Liter hatte, wohl eine ernstzunehmende Lösung darstelle. Denn vor morgen früh würde sie den zuständigen Hauswart für eine entsprechende Reparatur nicht kontaktieren können.

Es war bereits dunkel, als Michi erwachte. Das monotone Aufprallen der Wassertropfen hatte sie wohl in den Schlaf gelullt. Schlaftrunken warf sie einen Blick auf die Küchenuhr, die vom schwachen Licht einer benachbarten Leuchtreklame angestrahlt 7 nach 7 zeigte. Da die Zeit in Japan eine Stunde vor China lag, hatte ihr Vater seit sieben Minuten Feierabend. In gut 20 Minuten wäre er daheim. Zeit um mit den Eltern zu telefonieren - ihr unumstößliches Geburtstagsritual.

Michis Vater Kioto war überrascht, als seine Tochter ihn darum bat, ihr das Buch Mumonkan - Die torlose Schranke nach Shanghai zu schicken.

Als kleines Mädchen hatte er ihr gelegentlich vor dem Einschlafen daraus vorgelesen und konnte nun seine Ergriffenheit über den außergewöhnlichen Wunsch seiner Tochter nur schlecht unterdrücken.

Froh darüber, dass seine Frau Natsu ihm spontan den Telefonhörer aus der Hand riss, verschwand er den Tränen nah im Badezimmer.

Die defekte Rohrleitung war längst repariert.

Behutsam öffnete Michi das lang erwartete Päckchen. Ein paar Tränen kullerten ihr zögernd die Wangen entlang, gefolgt von einem verhaltenen Schluchzen, das aber beim Lesen der Ansichtskarte abrupt in ein lautes, unbändiges Weinen hinüberglitt.

Geliebte Tochter,

deine gütige Mama und meine Wenigkeit haben uns sehr über deinen außergewöhnlichen Wunsch gefreut.

Gerne schicken wir dir als nachträgliches Geburtstagsgeschenk „Die torlose Schranke“ als Taschenausgabe nach Shanghai.

Wir wünschen Dir viel Freude beim Lesen dieser anspruchsvollen Lektüre und hoffen, Dich recht bald mal wieder in unseren Armen halten zu können.

Liebe Grüße

Mama und Papa

Song - Tock,tock,tock - Link/Soundcloud

Tock, Tock, Tock | YouTube

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