Читать книгу Der Klang der Shakuhachi - Siegmund Eduard Zebrowski - Страница 13

Katana und Wakizashi Tokio, Japan, 28. Juli 1976, abends

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Seit Izumi denken konnte, hatte seine Mutter Omina panische Angst vor Naturkatastrophen. Wenige Tage vor seinem neunzehnten Geburtstag strahlte das japanische Fernsehen eine Sondersendung aus. Berichtet wurde von einem gewaltigen Erdbeben in der chinesischen Stadt Tangshan, die im Nordosten der Provinz Hebei liegt.

Sage und schreibe nahezu 260. 000 Menschen verloren innerhalb weniger Minuten ihr Leben, wobei man inoffiziell von noch weitaus mehr Opfern sprach. Tangshan wurde durch die unbändigen Naturgewalten buchstäblich eingeebnet.

Als die Radio- und Fernsehstationen die schreckliche Nachricht in Windeseile rund um den ganzen Globus verbreitet hatten, rief Izumis Mutter ihn zu sich in ihr Arbeitszimmer.

Die Tür war offen, trotzdem klopfte er pro forma an, was in seinem punkigen Outfit etwas komisch wirkte.

Von den Ereignissen der letzten Stunden sichtlich gezeichnet, saß Omina mit geröteten Augen hinter ihrem wuchtigen antiken Schreibtisch aus Mahagoni, der mit zahlreichen Dokumenten und Aktenordnern übersät war.

„Danke, Izumi, dass du gekommen bist“, begrüßte Omina ihren Sohn mit zittriger Stimme und bat ihn sich zu setzen.

„Kein Problem, worum geht’s?“, fragte er flapsig und ließ sich in den Sessel plumpsen.

„Es geht um unsere Zukunft, Izumi. Ich möchte umgehend außerhalb von Tokio ein erdbebensicheres Haus kaufen. Sollte sich kein geeignetes Objekt finden, werde ich eines in Auftrag geben. Ferner möchte ich wertvolle Bilder, antike Möbelstücke, unsere kostbaren Teppiche und die unbezahlbaren Sammlerstücke aus der edlen Porzellankollektion, sowie den weißen Steinway-Flügel vorsorglich einmotten lassen.“

Izumis Atem stockte.

Kommentarlos streckte seine Mutter ihm eine sorgfältig ausgeschnittene Zeitungsanzeige entgegen, die für erdbebensichere Lagerräume warb.

Izumi warf einen kurzen Blick darauf, und obwohl er seiner Mutter nickend beipflichtete, verfinsterte sich seine Miene.

Aber das war noch nicht alles. Per sofort sollten ihre Liegenschaften, acht Häuser mit insgesamt einhundertzwölf unterschiedlich großen Wohnungen, entweder verkauft oder mit Hilfe von staatlichen Krediten erdbebensicher gemacht werden. In Zukunft wollte Omina ausschließlich Wohnobjekte im gehobenen Komfort-Segment für finanziell gut situierte Mieter anbieten.

„Echt? Das heißt, dass wir hier bald ausziehen!“, konstatierte Izumi, schaute noch einmal irritiert auf die Zeitungsannonce, reichte sie seiner Mutter zurück und begann mit starrem Blick an seinen Fingernägeln zu knabbern.

„Ich fürchte, ja“, flüsterte Omina mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck, während sie das Inserat mit einer stattlichen Buddhafigur beschwerte.

Unruhig rutschte Izumi auf dem komfortablen Lederpolster umher. Er spürte deutlich, wie sich sein Magen verkrampfte.

Betont höflich, mit gesenktem Blick, fragte Izumi dann aber unverhofft, was mit den Samuraischwertern seines verstorbenen Vaters geschehen soll. Falls seine Mutter gedenke, diese auch einzumotten, würde er die altertümlichen Waffen lieber gerne selbst bis zum Umzug in das neue Heim in Gewahrsam nehmen.

Kaum hatte er sein ungewöhnliches Anliegen beendet, wirkte alles im Zimmer dumpf, wie in Watte gehüllt.

Der dicke Perser-Teppich, der den Raum großflächig bedeckte und in wenigen Tagen aufgerollt und vakuumverpackt für eine unbestimmte Zeit sein Dasein fristen würde, dämpfte die Atmosphäre noch zusätzlich.

Plötzlich fuhr Omina zusammen, sah sich panisch im Zimmer um und wollte wissen, ob Izumi diesen warmen Windstoß auch gerade gespürt hätte.

Verblüfft starrte er auf seine entblößten Unterarme. Sämtliche Härchen hatten sich aufgestellt, und dies besiegelte seine Gewissheit, dass zwischen ihm und seiner Mutter gerade eine unsichtbare Kraft getreten war. Das Energiefeld war physisch so stark spürbar gewesen, dass beide unwillkürlich aufstanden.

Verstört begann Omina die zahlreich verstreuten Dokumente zusammen zu packen, ergriff mit zittriger Hand den Telefonhörer und instruierte das Dienstmädchen, ihnen sofort frischen Grün-Tee zu bringen. Dann verließ sie eilig das Zimmer.

Die Stille war gespenstisch.

Erneut stellten sich Izumis Härchen auf.

Zum Glück erschien Yukiko mit dem bestellten Tee und etwas Mandelgebäck.

Froh, nicht mehr allein im Raum sein zu müssen, schaute er ihr bei der Arbeit zu und rätselte, ob seine Mutter die Bediensteten auch schon über die anstehenden Umstrukturierungen informiert hatte.

Unterdessen war Omina mit den Samurai-Schwertern zurückgekehrt.

Eingehüllt in kostbare, mit goldenen Ornamenten versehene Brokatstoffe, zogen sie magisch die Aufmerksamkeit auf sich.

Schon als Kind durfte Izumi immer wieder einmal diese sagenumwobenen Waffen aus dem 15. Jahrhundert bestaunen.

Und jedes Mal, wenn seine Mutter die Schwerter mit einer feierlichen Langsamkeit aus der schützenden Umhüllung des edlen Brokatstoffes befreite, stand die Zeit für eine Weile still.

Diesmal enthüllte sie das kostbare Erbe aber nicht, sondern legte das Bündel behutsam auf den Beistelltisch neben dem Tablett ab.

Als hätten sich beide abgesprochen, ergriffen Mutter und Sohn wie zwei Synchron-Tänzer gleichzeitig ihre Teetassen. Bedächtig führten sie die fragilen Sammlerstücke aus feinem Porzellan an ihre Münder.

Am liebsten hätte Omina diesen Augenblick in ihrem Leben übersprungen, aber in drei Tagen würde Izumi seinen neunzehnten Geburtstag feiern. Eigentlich wollte sie es ihm ja schon im letzten Jahr mitteilen, doch da hatte sie sich nicht getraut.

Nun kam halt alles zusammen. Ihre Angst vor einem großen Erdbeben, seine Frage nach den Schwertern und ihr Freund, den sie bisher nur heimlich traf, und der sie schon lange dazu drängte, ihrem Sohn endlich die Wahrheit zu erzählen.

„Izumi … „, stammelte Omina, rang nach Worten, stotterte umher, und nachdem sie ihm alles gebeichtet hatte, verließ sie weinend das Zimmer.

Peinliche Stille.

Nur das gleichmäßige Ticken der schwarzen barocken Standuhr füllte den Raum und für einen Moment lang gab die Vergangenheit, nicht die Gegenwart den Takt an.

Verstört nach Luft ringend stürzte Izumi zum Fenster, riss es auf und hielt seinen Kopf in den dunklen, mit Sternen übersäten lauen Abendhimmel.

Omima hatte ihm alles erzählt. Unverblümt, ohne Schnörkel, ganz roh, so, als wäre sie in einem Schlachthof routiniert ihrer täglichen Arbeit nachgegangen.

Blut ist dicker als Wasser, pochte es in Izumis Kopf. Im klaren Licht des sperrangelweit geöffneten Firmaments erkannte er, dass er neunzehn Jahre lang mit einer Lüge gelebt hatte.

Omina war in Wahrheit gar nicht seine Mutter. Seine richtige, leibliche Mutter war eine Prostituierte gewesen, mit der sich sein Vater Yoshio damals eingelassen hatte und die ihn erpresste, als sie mit Izumi schwanger wurde. Nachdem Yoshio ihr viel Geld für die Abtreibung gegeben hatte, ging er davon aus, dass dieses leidige Thema nun für immer beendet war. Doch die Frau wollte noch mehr Geld und drohte damit, die Geschichte auffliegen zu lassen, würde Yoshio die von ihr geforderte Summe nicht bezahlen. Daraufhin beschloss Izumis Vater in seiner Not, Omina die missliche Angelegenheit zu beichten. Da Omina aus gesundheitlichen Gründen keine Kinder empfangen konnte, machte sie ihm völlig unerwartet den Vorschlag, der Prostituierten sogar noch zusätzlich Geld zu geben, falls sie sich bereit erklären würde, das Kind auszutragen.

Eines Nachts, am 2. August 1959, Izumi war gerade mal zwei Jahre alt, kastrierte sich sein Vater eigenhändig mit einem der alten Samurai-Schwerter.

Er wollte Buße tun, Omina so für ihre Großherzigkeit danken. Leider hatte er es nicht mehr rechtzeitig ins Kreiskrankenhaus geschafft und war elend verblutet.

Izumi hatte nach den Schwertern gefragt, und sie erhalten. Wie ein vorzeitiges Geburtstagsgeschenk, das man nicht wirklich gerne annimmt, geschweige denn schon vorher auspacken möchte, starrte er auf die wunderschönen, hunderte von Jahren alten Waffen.

Das Katana, lang und elegant gebogen. Ebenbürtig, wenn auch um die Hälfte kürzer, das Wakizashi. Ein Kurzschwert, mit dem sein Vater es getan haben muss, denn das Katana war viel zu lang, um sich selbst damit zu kastrieren.

Als wäre es der abgetrennte Penis seines verstorbenen Vaters, hielt Izumi das Wakizashi in seinen Händen. Jeden Augenblick würde er es aus der Schwertscheide ziehen, doch irgendetwas hielt ihn zurück und dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Izumi sich noch über die Namensgebung einer Tokioter Punk-Band lustig gemacht, die sich Koiguchi nannte, was so viel wie Karpfenmaul heißt und natürlich eine provokante Anspielung auf das weibliche Geschlechtsteil war.

Doch als er am gleichen Tag auf die Konzertankündigung von Bo-Hi, die Blutrinne, stieß, die zu alledem ihren Gig auch noch an seinem Geburtstag gaben, riss er kurzerhand das Plakat von der Litfaßsäule, um es später mit geschwellter Brust in seiner Bude an die Wand zu pinnen.

Inmitten von Hunderten von Punks wartete Izumi am Abend seines neunzehnten Geburtstages in einer ehemaligen heruntergekommenen Glockengießerei gebannt auf den Beginn des Konzertes.

Zaghaftes rhythmisches Klatschen setzte ein, wurde stetig stärker, vermischte sich nach und nach mit dem im Chor lautstark rufenden Zuschauern.

„BO-HI! BO-HI! BO-HI!“

Schlagartig setzte die Musik mit einem ohrenbetäubenden Lärm ein, donnerte, einem schweren Militärflugzeug gleich, über die Köpfe des Publikums hinweg und hämmerte mit voller Wucht auf Izumis Solarplexus ein - den Sitz seiner Persönlichkeit.

Doch wer war er überhaupt - und wenn ja, wie viele?

Der Verlust seines inneren Zusammenhalts war immens, und so seelenlos wie jetzt, an seinem neunzehnten Geburtstag, hatte Izumi sich noch nie in seinem Leben gefühlt.

Die Frage nach dem Sitz seiner Seele schien sich im Rhythmus des Schlagzeugs in ein Mantra zu verwandeln.

Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?

Und ein anderes Mantra löste das Erste ab.

Warum? Warum? Warum?

Überall hüpften junge Männer und Frauen zum Beat der Musik in die Höhe, ihre Arme in den Himmel gestreckt. Es roch nach Schweiß und Bier, Menstruationsblut und Parfüm, Zigarettenrauch und Marihuana.

Als Izumi seine Augen wieder öffnete, sah er in die wunderschönen Augen von Naomi. Er hatte letzte Nacht seine Mutter verloren, dafür aber eine Freundin gewonnen, und das alles an seinem neunzehnten Geburtstag.

Der Klang der Shakuhachi

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