Читать книгу Der Klang der Shakuhachi - Siegmund Eduard Zebrowski - Страница 14
ОглавлениеSupernova 1987A
Tokio, Japan, 2. August 1976, um die Mittagszeit
Was wäre wohl an diesem Abend passiert, wenn Izumi nicht total besoffen im Anschluss an das Bo-Hi-Konzert zu Naomi ins Bett gefallen wäre, sondern stattdessen mit dem Kurzschwert und dem Katana, sechzig Zentimeter lang und scharf wie eine Rasierklinge, alleine in seinem Zimmer verbracht hätte?
Izumi stöhnte vor Wonne - Naomi hatte ihn gerettet!
Die Frage nach dem Warum, hatte sich schon lange in ein Was-hat-sie-sich-dabei-gedacht verwandelt.
Ja, was hatte sich Omina eigentlich davon versprochen, die Frau, die viele Jahre lang vorgab, seine leibliche Mutter zu sein, wenn sie mit ihm in regelmäßigen Abständen die sagenumwobenen Samuraischwerter angeschaut hatte?
Aus dem Radio ertönte Come together von den Beatles.
Izumi bekam große Ohren. Er erinnerte sich daran, wie John Lennon und Yoko Ono ihre Flitterwochen im Bett verbrachten hatten. Ein wahnsinniges Medienspektakel, völlig skandalös und seine Mutter - nein, Omina - empörte sich damals, weil im Fernsehen ein Nacktfoto von den beiden Avantgarde-Künstlern gezeigt wurde.
Da war Izumi gerade mal zwölf Jahre alt und total stolz darauf, dass Yoko Ono eine Japanerin war.
Come together, come together, come together.
Doch Izumi bremste seine Jugenderinnerungen, stellte sich, plötzlich stocksteif, der Melodie entgegen, die aus dem Lautsprecher dazu einlud, zusammen zu kommen. Nein, er war jetzt ein Punk und kein nostalgischer Beatles-Fan mehr!
Naomi mischte sich ein, fing an ihn zu necken.
„Come together, come together“, rief sie laut. Dazu hüpfte sie im Takt der Musik auf dem Futon umher. Dann flogen die Kissen. Wie kleine Kinder balgten sie umher, unbeschwert, ohne Zeitgefühl und aus dem Radio ertönte weiterhin die Aufforderung der berühmten vier Pilzköpfe:
Come together, right now, over me.
Kurze Zeit später wurde der Kühlschrank geplündert und nachdem jeder zwei große Burger, belegt mit Schinken, Gurkenstückchen und mit viel Wasabi-Ketchup verdrückt hatte, erzählte Naomi von einem Film, einem aus dem Jahre 1967, der am späten Nachmittag an der Uni laufen würde und in dem John Lennon eine Nebenrolle hätte.
Wie ich den Krieg gewann war dessen Titel und Naomi schlug vor, sich den Film gemeinsam anzusehen, obwohl sie genau wusste, dass die meisten ihrer Kommilitonen wieder blöde Sprüche klopfen würden, schließlich hatte Izumi sich für eine militärische Laufbahn bei der Marine entschieden.
Für angehende Soziologen ein Affront.
Hamburg, Deutschland, 23. Februar 1977
Die Nachricht vom Tod Ominas ereilte Izumi in Hamburg. Er hielt sich dort im Rahmen eines Studentenaustauschs auf und hatte gerade mit Studienkollegen auf der Reeperbahn den berühmten Star Club besichtigt.
Schon als Jugendlicher hätte er nur zu gern diesen Club besucht, in dem die Beatles zu ihrer Gründerzeit 1962 einige Auftritte gegeben hatten. Doch Omina fand es damals nicht angebracht, sich mit einem Heranwachsenden auf der sündigsten Meile Deutschlands herum zu treiben.
Bestens gelaunt stand Izumi mit seinen Freunden an einem Imbissstand. Sie wollten sich gerade für die zweite Etappe ihres fröhlichen Bummels über der Reeperbahn nachts um halb eins stärken, als sich plötzlich fette Ketchup-Tropfen seitlich aus seinem Hotdog quetschten und auf das niegelnagelneue weiße T-Shirt klatschten. Welch Gaudi!
Aber nicht alle fanden dieses Intermezzo so amüsant und so stand Izumi kurze Zeit später genervt in seiner kleinen Studentenbude vor dem Waschbecken.
Dann klingelte das Telefon.
In der Hoffnung, Naomi würde anrufen, stürzte er kopfüber aufs Bett zum Telefonapparat. Doch er hatte sich geirrt. Am anderen Ende der Leitung, über 10. 000 Kilometer entfernt, meldete sich der Vermögensverwalter seiner Mutter. Was war geschehen?
Omina hatte einen Tag zuvor von einer lukrativen erdbebensicheren Immobilie in Kawasaki gehört und sich deshalb sogleich mit ihrem metallicroten Jaguar XJ-S auf den Weg dorthin gemacht.
Die Stadt Kawasaki, die zwischen Minato und Yokohama im Nordosten der Präfektur Kanagawa liegt, wurde zunehmend als angenehme Stadt gehandelt und in Insiderkreisen vor allem wegen der hohen Sicherheitsstandards geschätzt.
Leider machte das Wetter bei ihrem Ausflug nicht mit. Bereits zwischen Minato und Shinagawa bildeten sich grau-schwarze Gewitterwolken am Himmel und kurz vor Kawasaki schlug das Wetter dann definitiv um.
Ein starker Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe und erschwerte die Sicht. Als Omina die Autobahn verlassen wollte, hatte sie die Ausfahrt nach Kawasaki zu spät erkannt und war von der Überholspur mit rasanter Geschwindigkeit direkt ausgeschert. Sie verlor auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über ihren Wagen, überschlug sich mehrmals und prallte auf einer Anhöhe neben der Ausfahrt gegen einen Baum. Sie starb noch direkt am Unfallort.
Omina hinterließ ein Gesamtvermögen in Höhe von umgerechnet 66 Millionen Dollar. Quasi über Nacht wurde Izumi an diesem 23. Februar 1977 der reichste Student Japans.
Tokio, Japan, 26. Februar 1977
Dazu bestimmt, zwei wertvolle Samurai-Schwerter aus dem 15. Jahrhundert, ein seltenes Zen-Gewand, eine alte Shakuhachi und 7. 481. 298. 000 Yen zu erben, betrat Izumi das Büro des Notars.
Izumi wusste, dass er einmal sehr viel Geld erben würde, aber nicht, dass damals die junge Omina, gerade mal achtzehnjährig, gegen ihren Willen von ihrer Familie gezwungen wurde, in Tokio ein Jurastudium zu beginnen.
Exakt sechs Tage später, nachdem sie von Hiroshima nach Tokio in ein Studentenwohnheim gezogen war, verlor sie durch den Atombombenabwurf der Amerikaner auf Hiroshima am 6. August 1945 ihre komplette Familie. Glück im Unglück?
Kaum hatte der Notar seine Ausführungen beendet, blickte Izumi verstört auf die gegenüberliegende Straßenseite, an der eine an einem Fassadengerüst hängende riesige Werbetafel für erdbebensicheres Bauen warb. Sofort schossen ihm heiße Tränen aus den Augen und tropften auf die auf seinem Schoß liegenden Erbschafts-Dokumente.
Nach einer einstündigen, nicht enden wollenden nervigen Taxifahrt, erreichte Izumi völlig aufgelöst Naomis Studentenbude.
So wie es damals John Lennon und Yoko Ono in ihren Flitterwochen getan hatten, wollte auch er mit Naomi mehrere Tage nur im Bett verbringen. Keinen Schritt würden sie vor die Tür machen, kein Telefongespräch entgegennehmen und nur das essen, was die spärlichen Vorräte hergaben.
Ihr Streben nach Wahrheit war viel größer als der Hunger nach irgendwelchen Lebensmitteln. Kein Delikatessengeschäft dieser Welt konnte Izumi momentan das offerieren, was der Notar ihm übergegeben hatte. Das viele Geld war nur die Zugabe, nicht das Wesentliche an dieser Erbschaft und weil er wusste, dass er Naomi irgendwann mal heiraten wollte und es zwischen ihnen auf keinen Fall Geheimnisse geben sollte, weihte er sie in die unglaubliche Geschichte seiner Eltern ein. Wort für Wort.
Izumis Vater, Yoshio, hatte seine zukünftige Frau Omina sieben Jahre nach der Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki in Tokio während einer Gedenkfeier zu Ehren der Opfer der beiden Atombombenabwürfe am 9. August 1961 kennengelernt.
Wie Omina kam Yoshio damals auch nur durch einen makabren Zufall mit dem Leben davon. Als die Amerikaner nur drei Tage nach Hiroshima die zweite Atombombe auf Nagasaki warfen, hielt Yoshio sich gerade in Kawasaki auf . Die tödliche Bombe sollte hauptsächlich den Rüstungskonzern Mitsubishi treffen, aber wegen schlechter Sicht verfehlte sie ihr Ziel um mehr als zwei Kilometer und so kam es, dass Yoshio Kushiro seine Eltern, alle drei Geschwister und sämtliche Verwandte verlor. Mit ihnen starben an diesem Tag viele tausend Einwohner Nagasakis einen grauenvollen Tod.
Im Gegensatz zu dem Piloten Paul Tibbets, der damals die B 29-Superfortress flog und der für diese tödliche Mission auf Hiroshima sein Flugzeug extra nach dem Namen seiner Mutter Enola Gay taufte, hatte der Notar Izumi leider nicht mitteilen können, wie der Name seiner richtigen Mutter lautete. Dieses Geheimnis hatte Omina am 22. Februar 1977 bei ihrem tödlichen Unfall unwiderruflich mit ins Jenseits genommen.
Heulend hielten sich Izumi und Naomi in den Armen. Dass Naomi noch einen anderen, auch triftigen Grund zum Weinen hatte, sollte Izumi erst viele Jahre später von ihr erfahren.
Einige Tage nach der Erbschaftsverkündung, 1. März 1977
Die Frühlingssonne meldete sich mit ihren lieblichen Strahlen aus ihrem Winterschlaf zurück. In der Luft hing der Duft neuen Lebens. Bald würden die Kirschblüten in weißer Pracht das ganze Land verzaubern und tausende verliebte Paare in die Parks strömen lassen, um dort das beliebte Sakura-Fest zu feiern.
Doch die beiden jungen freiwilligen Eremiten wollten von all dem nichts wissen.
Einmal mehr wechselten sich Izumis und Naomis unversöhnliche Fragen in einen rebellischen durcheinander wirbelnden Taumel ab und gaben sich erst nach mehreren Tagen und vielen vergossenen Tränen versöhnlich die Hand.
Obwohl die Schleusen ihrer Trauer immer noch weit geöffnet waren, flossen irgendwann einfach keine Tränen mehr.
Die Engelstrompeten waren verstummt.
Das profane Leben bahnte sich zögernd seinen Weg zu ihren Herzen, kroch durch die Spalten der Türen und Fenster in die kleine Studentenwohnung.
Dankbar nahmen sie an, und das Gefühl, nach einer längeren Krankheit ins pralle Leben zurückzukehren, war großartig und erhaben.
Aufrecht im Bett hockend, neben ihm die über fünfhundert Jahre alten Samuraischwerter, ein schwarzes Zen-Gewand und eine uralte Shakuhachi, schaute Izumi gelassen dabei zu, wie Naomi in der Küche den frisch aufgebrühten Kaffee in zwei kleine Suppenschüsseln füllte. Beiden war klar, dass sie den Kaffee später kalt trinken würden und der Zug an der Zigarette letztlich nur die Zulassungsbestätigung für die folgende innige Umarmung darstellte.
Naomi deutete einen Striptease an und Izumi wurde verlegen, aber nicht lang. Aus seiner Verlegenheit wurde Rührung und aus dem Gefühl der Rührung entstand eine starke Gewissheit.
Ja, mit Naomi Matsumoto wollte er ganz von vorn beginnen, das Alte begraben.
Nach elfjähriger Freundschaft heirateten Izumi und Naomi am 23. Februar 1987. Der Zufall wollte es, dass genau an diesem Tag eine Supernova, die Supernova 1987A, entdeckt wurde.
Das Tolle daran war, dass die beiden Frischvermählten sie sogar mit bloßen Augen sehen konnten.