Читать книгу Der Klang der Shakuhachi - Siegmund Eduard Zebrowski - Страница 9

Das Buch, das niemand lesen soll Kyoto, Japan, 1. August 1993, früher Abend

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Der Vollmond war gerade aufgegangen, stand direkt über dem Haus der Kleinfamilie Endo. Rundherum ein klarer Sternenhimmel. Mucksmäuschenstill, nur das Zirpen der Grillen war zu hören.

Michi Endo saß in ihrem Zimmer am Fenster und schaute einer Katze dabei zu, wie sie sicher über die Dächer der Nachbarhäuser balancierte. Über ihr die unermessliche Weite des Firmaments.

Michi trug einen klassischen schwarzen handbemalten Seidenkimono. Darunter war sie nackt.

Auf dem Fußboden lag noch die Geschenkverpackung ihres mit roten Blumen und weißen Vögeln bemalten Kimonos, den sie heute zu ihrem 15. Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte.

Das Außenthermometer zeigte immer noch schwül-heiße 28 Grad. Einhändig schloss Michi gekonnt die Jalousie und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.

Unbekleidet, um ihre Schultern nur ein flauschiges Frottiertuch gelegt, kam sie nach einer Weile zurück.

Das Trockenrubbeln ihrer langen, bis zum Gesäßansatz reichenden rabenschwarzen Haare, geschah wie nebenher.

Mit kritischen Blicken betrachtete sie ihren entblößten Oberkörper im großen Standspiegel.

Michi, die ihren Vornamen indirekt dem Zen-Meister Mumon Ekai verdankte, empfand anfangs durchaus eine gewisse Bewunderung für ihre sich entwickelnden Brüste.

Ja, sie war sogar Stolz darauf, langsam eine Frau zu werden und erachtete bisher die Größe als durchaus akzeptabel.

Als sie aber an diesem besagten fünfzehnten Geburtstag in den Spiegel schaute, musste sie unwillkürlich an zwei pralle Wassermelonen denken, die kurz vor dem Platzen standen.

Sie schämte sich!

Letzte Woche hatte sie sogar einmal den Schulunterricht geschwänzt, da am Nachmittag Sport auf dem Stundenplan stand und sie tags zuvor von den größeren Mädchen auf der Schultoilette gehört hatte, dass nur Dirnen und Prostituierte opulente Brüste hätten, um damit die Männer anzulocken.

Dieses von Michi so nebenbei im WC aufgeschnappte Ammenmärchen führte nicht nur dazu, dass sie in der darauffolgenden Zeit immer öfter mit eingefallener Brust und hochgezogenen Schulterblättern durchs Leben schritt, um ihren üppigen Busen zu verdecken, sondern auch knapp sechs Jahre später zu ihrem Umzug nach China.

Wörtlich übersetzt bedeutet Michi im Japanischen so viel wie „es ist überreichlich vorhanden“.

Von ihren stattlichen Brüsten mal abgesehen war sie aber im Gegensatz zu ihren Freundinnen mit ihrem Aussehen zufrieden. Viele von ihren Kameradinnen liebäugelten nämlich mit einer zunehmend in Mode gekommenen Nasen-, Lippen- oder Brustoperation, was für Michi unter keinen Umständen in Frage kam.

Immer, wenn dieses Thema unter ihnen aufkam, stimmte sie einfach das Lied I am what I am von Gloria Gaynor an. Das kam an, und schon war das Thema vom Tisch.

Ihre langen Haare waren Michis ganzer Stolz.

Fast fünf Jahre hatte sie dafür gebraucht. Sie liebte es, mit unterschiedlichen Frisuren ihr Aussehen zu verändern, und als sie eines Tages ihre blau-schwarze Mähne blond färbte, nannten ihre Freunde sie im Anschluss daran nur noch Mitsune.

Die Jungs in der Schule waren sichtlich aus dem Häuschen. Hin- und hergerissen von Michis neuem Outfit, das sie allesamt an Mitsune Kumano, eine Kunstfigur aus einem speziell an heranwachsende junge Männer gerichteten Manga-Magazin erinnerte, konnten sie es nicht erwarten, ihrer fleischgeworden Wichsvorlage auf dem Schulhof oder in ihrer Freizeit zu begegnen.

Mitsune Kumano war die Hauptprotagonistin einer Shōnen-Serie, 18 Jahre alt und bei den Jungs besonders beliebt, da sie völlig unbedarft ihre weiblichen Vorzüge betonte, was die Comiczeichner natürlich mit Bravour in Szene zu setzen wußten.

Das entscheidende Erlebnis aber, das Michis zukünftiges Leben nachhaltig prägten sollte, geschah im Anschluss an ihren Schulausflug ins Friedensmuseum nach Hiroshima.

Auf der Rückfahrt tauschte sie mit ihrer besten Freundin Miyako ihre Berufswünsche aus, knabberte an den Resten ihres Esspäckchens und tratschte selbstverständlich über den Klassen-Hengst, Akiri Hatori, der unübersehbar ein Auge auf Michi geworfen hatte.

Im Anschluss an den Ausflug lud Akiri - Sohn reicher Eltern - noch einige seiner besten Klassenkameraden zu sich nach Hause in seinen extra dafür eingerichteten Partykeller ein. Und da ohne Mädchen gar nichts mehr lief, erhielten Michi und Miyako - die beiden mit Abstand bestaussehendsten Girls der Klasse - auch eine offizielle Einladung.

„Ich gebe dir 5000 Yen, wenn ich deine Brüste anfassen darf“, hatte Akiri Michi im Laufe des Abends irgendwann einmal abseits des Trubels und im Schutze der dröhnenden Musik-Boxen hinter der Theke im schummrigen Licht zugeflüstert.

Michi klappte die Kinnlade herunter. Dummes Arschloch, schoss es ihr durch den Kopf, starrte Akiri fassungslos an und bedachte ihren Mitschüler mit einem vernichtenden Blick. Doch dann fasste sie sich schnell wieder, schnitt eine zickige Grimasse und erwiderte zu ihrer eigenen Verwunderung provokativ: „Gut, 10. 000! Da ich zwei Brüste habe, 5000 für jede.“

An seinem Gesichtsausdruck konnte Michi ablesen, dass Akiri Hatori in keinster Weise mit dieser Antwort gerechnet hatte.

Ja, Michi Endo war einfach anders.

Ihr Vater, Kioto Endo, ein hochgewachsener, drahtiger, gutaussehender Mann Mitte vierzig, der sein Leben lang als Buchhalter in einer kleinen Firma arbeitete, interessierte sich nach Feierabend und wenn im Fernseher nichts Richtiges lief, leidenschaftlich für die Tradition der uralten buddhistischen Zen-Lehre.

Als belesener Mann, der sein Tagesgeschäft mehr mit dem Kopf als mit den Händen absolvierte, stolperte Kioto eines Tages in der Mittagspause beim Studieren der regionalen Tageszeitung über einen Artikel, der sich mit der Koan-Sammlung Mumonkan, Die Torlose Schranke, des Zen-Meisters Mumon Ekai beschäftigte.

„Ein Buch wie dieses sollte man besser sogleich wegwerfen. Warte nicht darauf, bis ich es tue. Lass das Buch niemals in der Welt verbreiten, und wäre es auch nur in der kleinsten Auflage.“

Wenige Tage später konnte der Feierabend für Kioto nicht früh genug kommen.

Kaum erreichte der große Uhrzeiger seiner Armbanduhr - eine Citizen AG 7400 - die Zwölf, griff er zu seiner bereits im Voraus gepackten ledernen Aktentasche und stürmte eilig aus dem kleinen Büro.

Hastig überquerte er mit großen Schritten die stark befahrene Quartierstrasse, eilte entgegen der Fahrtrichtung des Busses den Bürgersteig entlang, um sich schlussendlich nach gut fünfzig Metern zu der an der Bushaltestelle diszipliniert wartenden Menschenschlange zu gesellen.

Seine Arbeitskollegen hatten ihn so noch nie erlebt, denn gewöhnlich verließ Kioto immer als letzter das Büro.

Deshalb rissen sie später in ihrer Stammkneipe im obersten Stock ihres Büro-Hochhauses, bei dem einen oder anderen Sake, auch noch so manchen schlüpfrigen Witz über sein außergewöhnliches Verhalten.

Nach insgesamt sechs Busstationen und einem kurzen Fußmarsch, hielt Kioto endlich das ersehnte Meisterwerk in seinen Händen.

Zufrieden kehrte er dem kleinen Buchladen den Rücken.

Das zarte Bimmeln des mechanischen Glöckchens, dass als Türsignal diente, hallte noch längere Zeit lieblich in seinen Ohren nach und erinnerte ihn an ferne Zeiten, als Samurais noch Tugenden wie Treue, Ehre und Opfermut mit dem Schwert verteidigten.

Als Michi am 1. Augustabend in einem Krankenhaus in Kyoto 1978 zur Welt kam, donnerte und blitzte es so heftig, als ob jeden Moment die Welt untergehen würde.

Massen von Wasser ergossen sich in kürzester Zeit auf den Stadtteil rund um den alten Kaiserpalast. Alle Einwohner bangten um ihr Hab und Gut. Zum Glück zog der Taifun schnell weiter, und so gab es außer überreichlich Wasser und kleineren Schäden nichts zu beklagen.

Verängstigt saß Kioto im Taxi und betete dafür, dass sie während der Fahrt ins Krankenhaus nicht in dem stetig ansteigenden Fluten stecken bleiben. Wer will schon gerne zur Geburt seines ersten Kindes zu spät kommen?

Der Taxifahrer musste in diesem Moment an der Zurechnungsfähigkeit seines Fahrgastes gezweifelt haben, denn umgeben von chaotischen Straßenzuständen, ohrenbetäubendem Donnern und zahlreichen Blitzen am Himmel, erzählte Kioto dem Chauffeur von einem alten japanischen Sprichwort: „Fische wissen nichts vom Wasser, während sie im Wasser sind!“

Für Kioto führten aber nicht die unendlichen Wassermassen zu Michis Namensgebung, sondern die Auseinandersetzung mit dem Buch Mumonkan - die torlose Schranke, dass er wie besessen studierte.

Michis Geburt verlief ohne Komplikationen.

Stolz hielt Kioto sein gerade frisch geborenes Kind in den Armen, und als das Klinikpersonal wissen wollte, wie seine Tochter denn heißen soll, zögerte er auch nicht den kleinsten Moment, sondern antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Michi! Denn das große Tao hat kein Tor. Weil es torlos ist, steht es jetzt vor dir, und plötzlich siehst du es hinter dir. Es ist unergründbar und grenzenlos!“

Der Klang der Shakuhachi

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