Читать книгу Der Klang der Shakuhachi - Siegmund Eduard Zebrowski - Страница 11

Das Tattoo Pattaya, Thailand, 13. Dezember 2016, 8. 00 Uhr morgens

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Religiöse Zeremonien können manchmal eine echte Belästigung darstellen. Speziell, wenn sie an einem Sonntagmorgen per Lautsprecheranlage direkt neben dem eigenen Apartment durchgeführt werden.

Geweckt von den ohrenbetäubenden Rezitationen eines Mönches und den in bestimmten Intervallen einsetzenden Klang- und Schlaginstrumenten, kann Edmund selbst mit Ohrstöpseln nicht mehr weiterschlafen.

Schwerfällig trottet er ins Bad, aktiviert dort sein Mobiltelefon.

Ungeachtet seiner nicht gerade erbaulichen Gemütsverfassung prognostiziert seine Wetter-App einen angenehmen Tag: Strahlende Sonne bei Werten von 25 bis zu 31 Grad Celsius und einem lauen Wind aus nordwestlicher Richtung.

Nicht umsonst kommen um diese Jahreszeit so viele Touristen nach Thailand, stellt er fest und betätigt die Klospülung.

Ein kurzer Blick in den Spiegel.

Seitdem Edmund sich vor ein paar Tagen nach sage und schreibe fünfunddreißig Jahren seinen üppigen Vollbart hat abrasieren lassen, wird er wieder knallhart mit seiner Hasenscharte konfrontiert.

Kann man sich daran gewöhnen? Nein! Es macht ihm immer noch zu schaffen.

„Scheiße, mit Einundfünfzig sollte ich doch endlich drüber stehen”, seufzt er seinem Spiegelbild mit brüchiger Stimme zu, spürt, wie sich für einen Moment lang die alten schmerzhaften Geschichten aus seiner Kindheit in sein Gedächtnis schleichen - „Koala!”

Alldieweil explodieren draußen mehrere wuchtige Knallkörper, was wiederum die aufgebrachten Quartier-Hunde auf den Plan ruft und den Lärmpegel auf mindestens 100 Dezibel hochschnellen lässt.

Ein Sekundenbruchteil der Irritation, ein Blick auf die Uhr, verständnisloses Kopfschütteln. Rasch setzt der Verstand ein. Nichts wie weg von hier, dröhnt es in Edmunds Kopf.

Doch vorher will er noch den Grund für den nicht bestellten Weckdienst herausfinden.

Prompt erfährt er von seiner Vermieterin, dass jedes Jahr um diese Zeit irgendein Hausbesitzer im Quartier sein Anwesen für das kommende Jahr von einer Handvoll auserlesener Mönche segnen lässt. Umso wohlhabender der Herr des Hauses wäre, desto länger würde sich auch dieses Ritual hinziehen. Im Extremfall könnte es bis zu sieben Tage andauern.

Religion als Geschäftsmodell, denkt Edmund und macht sich auf den Weg in sein Lieblingscafè.

Es liegt an der Pattaya Sai Song Road, nur wenige Gehminuten von dem berühmt berüchtigten Publikumsmagneten, der Walking Street entfernt.

Die Fahrt dorthin mit dem Motorrad-Taxi dauert weniger als fünf Minuten und kostet nur 40 Baht, was umgerechnet knapp einem Euro entspricht. In der Regel ist sein Stammplatz nicht besetzt. Bestellen muss Edmund schon lange nicht mehr, außer er gönnt sich zu seinem obligatorischen Large Latte ein Stück Kuchen.

Während die freundliche Bedienung seinen Milchkaffee serviert, stolpert er auf seiner News-App über einen Artikel, der die aktuelle Literatur Nobel Preisverleihung von Bob Dylan aufs Korn nimmt. Im Nu katapultieren ihn seine Gedanken in längst vergangene Zeiten.

Bob Dylans Blowin’ In The Wind war in jenen Tagen der ausschlaggebende Grund für den Kauf von Edmunds erster, einer gebrauchten Akustikgitarre. 50 D-Mark, ein kleines Vermögen anno dazumal. Schon nach wenigen Einzelstunden, die er sich mühsam durch das Austragen von Zeitungen finanziert hatte, beherrschten seine Finger die wichtigsten Grundakkorde. Entsprechend groß war seine Freude, Dylans bekannteste Komposition in einem Stück fehlerfrei durchspielen zu können.

Dass Blowin’ In The Wind für die aufkommende amerikanische Protestbewegung bereits den Status einer Art Anti Kriegs-Hymne innehatte und die USA fünf Tage nach seinem dreizehnten Geburtstag, am 5. August 1964, damit begonnen hatte, schwere Vergeltungsschläge mit Luftangriffen auf nordvietnamesische Hafenanlagen zu fliegen, war Edmund dazumal nicht bewusst gewesen.

Ihn hatten vor allem die wie Pilze aus dem Boden schießenden Pop- und Rockgruppen und deren neueste Hits interessiert.

Das Hören der einschlägigen deutschen Schlagergrößen, wie Freddy Quinn mit seinem Hundert Mann und ein Befehl, Heidi Brühl’s Wir wollen niemals auseinander gehen oder Pack die Badehose ein von Conny Froboess, überließ man seit der ersten Veröffentlichung der Beatles-Single Love Me Do im Jahre 1962, getrost seinen Eltern und Großeltern - Old school!

Doch selbst wenn Edmund am 4. 8. 1964 durch den Hörfunk und das Fernsehen von der Eskalation des Vietnam-Kriegs erfahren hätte, wäre er nur mit Halbwahrheiten bombardiert worden. Wie sollte es auch anders sein. Das Nachkriegs-Deutschland war eindeutig Pro-Amerikanisch eingestellt. Die einzige konkurrenzlose relevante Nachrichtensendung war in den sechziger Jahren die Tagesschau des ARD-Senders. Das Gesicht dieses Propaganda-Mediums der US-Alliierten hieß Karl-Heinz Köpcke. Was der vom Blatt ablas, wurde zuvor von den verantwortlichen, Atlantik-Brücke-treuen, Chefredakteuren kritisch gesichtet, ausgewählt, aufbereitet und erst danach unter das gemeine Volk gestreut.

Spätestens seit Joseph Goebbels, dem Chef-Propagandisten der Nationalsozialisten und engsten Vertrauten von Adolf Hitler, wusste man, wie wichtig die Medien für den Erhalt der politischen Machtelite waren.

Nachdenklich legt Edmund sein Smartphone auf dem kleinen Bistrotisch ab, nippt an seinem Milchkaffee, lehnt sich zurück in den bequemen Ledersessel und blickt wie paralysiert durchs Fenster auf die Pattaya Sai Song Road.

Dort herrscht wie immer auf der zweispurigen Einbahnstraße ein dichter und geschäftiger Verkehr.

Links und rechts der Fahrbahn preisen Einheimische mit improvisierten Auslagen ihre Waren an. Fahrende Garküchen locken inmitten des chaotischen Verkehrsgewühls mit ihren Spezialitäten, deren exotische Düfte sich mit dem Gestank der Abgase vermischen. Tattoo-Shops und Wechselstuben zwischen kleinen Verkaufsständen, die T-Shirts, Sonnenbrillen, Sportbekleidung und Flipflops in bunten Farben anbieten. Last but not least, die zahlreichen um Kundschaft buhlenden Massagesalons.

Trotz der ansteigenden Hitze schlendern unzählige Touristen aus den unterschiedlichsten Kulturen die Pattaya Sai Song Road entlang.

Die Europäer sind vorzugsweise als Single oder in kleinen Gruppen unterwegs. Viele von ihnen fett- und barbäuchig, mit Tätowierungen an den unterschiedlichsten Körperregionen, die sie sichtlich stolz zur Schau stellen.

Die Chinesen treten fast nur in großen Gruppen auf und folgen in der Regel diszipliniert ihrem Reiseleiter, der, mit einem Fähnlein ausgerüstet, seine ihm anvertrauten Kunden in Manier einer Entenmutter sicher durch den stets stockenden Verkehr bugsiert. Wehe dem, so eine Horde kommt einem auf dem Gehsteig entgegen. Nicht einen Zentimeter weichen sie zur Seite. Die Macht des Kollektivs!

Oder die ganz in schwarz gehüllten Frauen, die ihren bärtigen Jeans-, Turnschuh- und T-Shirt tragenden Männern artig in einem vorgegebenen Abstand folgen und das quirlige Geschehen um sich herum ausschließlich durch einen schmalen Sehschlitz hindurch wahrnehmen. Dunkle gesichtslose Gespenster aus einer archaischen Welt, umgeben von leicht bekleideter thailändischer Anmut und Würde - Pattaya, Schmelztiegel oder Mosaik der Kulturen und Widersprüche!

Edmund brütet vor sich hin, nippt abwechselnd an seinen Kaffee, greift schlussendlich zum Mobiltelefon und tippt flink ein paar Suchbegriffe auf Google ein.

Ab 1967 diente das an der östlichen Golfküste Thailands gelegene, ehemalige kleine Fischerdorf Pattaya der US-Armee als Erholungsort für ihre G. I. ’s im Vietnamkrieg.

Eilig huschen Edmunds Augen über den Text, verlieren sich zwischendurch in den Bildern, die eindrücklich dokumentieren, wie das amerikanische Militär seinerzeit in Thailand von der Marinebasis Sattahip und der Airbase U-Tapo ihren todbringenden Nachschub organisierten.

Dabei basierte der Anlass des Vietnamkriegs auf einer Lüge, die der amtierende US Präsident, Lyndon B. Johnson, der Weltöffentlichkeit 1964 mit Hilfe der Massenmedien unterbreitet hatte.

Nordvietnamesische Schnellboote hätten Anfang August 1964 im Golf von Tonkin, vor der Küste Nordvietnams, US-Kriegsschiffe beschossen. Eine vorsätzliche Falschmeldung. Das kleine Einmaleins der Geheimdienste. Gängige Praxis, um sich so die Legitimation für den Eintritt in einen Krieg zu geben, der natürlich ökonomisch motiviert war. Es geht immer um Herrschaft und Einfluss und letztlich um Geld. Eine False Flag vom Feinsten, mit verheerenden Folgen. 58 220 junge US-Soldaten mussten ihr Leben im Dschungel, auf den Reisfeldern oder im aufreibenden Guerillakampf in einem der vietnamesischen Dörfer lassen. Auf vietnamesischer Seite soll die Zahl der Opfer Schätzungen zufolge bei 2-4 Millionen Toten liegen.

Edmunds Gedanken überschlagen sich. Sein Blick bekommt etwas Wehmütiges. Traurig schüttelt er mit dem Kopf, starrt düster vor sich hin, kann es nicht fassen, dass diese Episode der Menschheitsgeschichte erst vor 41 Jahren beendet wurde und hört sich plötzlich selbst beim Singen zu.

„The answer, my friend, is blowin' in the wind! The answer is blowin' in the wind.“

Nun also wird Bob Dylan überraschenderweise mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt.

Zwar nahm der in die Jahre gekommene Rockpoet den prestigeträchtigen Preis an und bedankte sich auch brav beim Komitee in schriftlicher Form für diese mit rund 830000 Euro dotierte Auszeichnung, ließ sich für die eigentliche Übergabe der Trophäe aber von Patti Smith vertreten, einer Punkrock-Legende und alten Weggefährten.

Bob Dylan hätte diesen Preis nie akzeptieren dürfen, resümiert Edmund leicht brüskiert, sondern sich ein Beispiel an John Lennon nehmen sollen, der als einziger Beatle am 25. November 1969 wegen Großbritanniens Unterstützung der Amerikaner im Vietnamkrieg aus Protest seine königliche Ehren-Medaille zurückgegeben hatte.

„Tja … manchmal sind uns die Toten näher als die Lebendigen“, säuselt Edmund, kippt den letzten Schluck Latte Macchiato in sich hinein und blickt nach draußen auf die Straße.

Ein Notfallwagen versucht sich mit flackerndem Blaulicht seinen Weg durch den Verkehr zu bahnen. Doch selbst sein nerviger ohrenbetäubender Signalton bringt ihn keinen Deut schneller durch das dichte Knäuel der stark befahrenen Pattaya Sai Song Road - Buddhistische Gleichgültigkeit im stockenden prestigeträchtigen Individualverkehr.

Dafür beantwortet Google Edmunds Suchanfrage zu John Lennon umso schneller. Wissbegierig überfliegt er die verschiedenen Wikipedia-Einträge, die Lennons Lebensstationen von seiner Kindheit bis zu seinem tragischen Tod skizzierten.

Fasziniert bleibt er bei einem Foto hängen, das ein Lennon-Fan nur wenige Stunden vor John Lennons Ermordung in der Nähe des Dakota-Gebäudes am 8. Dezember 1980 mit seiner Kamera aufgenommen hatte. Das Farbfoto zeigt den begnadeten Singer-Songwriter neben seinem Mörder, Mark David Capman, als dieser sich gerade von dem berühmten Ex-Beatle eine Schallplatte signieren lässt.

Andächtig stöpselt Edmund seinen Kopfhörer in sein Samsung Smartphone S5 und gibt auf YouTube den Musiktitel Imagine ein.

Ein zirka 50-jähriger Asiate betritt das Cafè, gibt seine Bestellung direkt an der Verkaufstheke auf und deutet mit einer ausladenden Handbewegung auf den Außensitzplatz, der über eine Raucherecke verfügt.

„Woher kenne ich bloß diesen Mann?“, rätselt Edmund. So nebenbei beobachtet er am linken Oberarm des neuen Gastes eine Tätowierung, die aber zur Hälfte von dessen hochgekrempelten Ärmeln am schneeweißen Hemd verdeckt wird und so gar nicht zum sonstigen Aussehen passt. Mit den Markenjeans und den schwarzen Lederschuhen wirkt dieser Unbekannte eher wie ein Schauspieler, den man in ein unpassendes Kostüm gezwängt hat.

Während der Fremde das Cafè verlässt, um sich draußen an einen der zahlreichen Bistrotische niederzulassen, wird Edmund plötzlich bewusst, dass dieser Mann ihn gar nicht an eine lebende Person erinnert, sondern an seine Romanfigur Izumi Kushiro.

Was könnte Izumis ambivalente Lebenshaltung besser skizzieren als ein Tattoo, freut sich Edmund und kann es gar nicht erwarten, dieses Detail direkt nach seinem Cafébesuch daheim in das entsprechende Kapitel seines Romanmanuskriptes Der Klang der Shakuhachi einzubauen.

Der Klang der Shakuhachi

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