Читать книгу Der Klang der Shakuhachi - Siegmund Eduard Zebrowski - Страница 6
Der Gedankenblitz 15 Monate zuvor. Pattaya, Thailand, 11. September 2016, noch vor Sonnenaufgang
ОглавлениеWieder einmal bläst eine leichte Brise vom Meer her und trägt viel zu laute Livemusik in das 6. Stockwerk von Edmund Stanislawskis Apartment.
Obschon diese Coverversion von Lionel Richies Hello recht passabel klingt, kommt es ihm so vor, als ob die Oldieband aus der benachbarten Musikbar direkt neben seinem Bett aufspielt.
„Vielleicht sollte ich einfach mal in eine ruhigere Stadt ziehen“, grummelt Edmund schlaftrunken, streckt ausgiebig seine müden Glieder, trottet verärgert zu einem der beiden großen Fenster und lässt seinen Blick über die hell erleuchtete Touristenmetropole schweifen, die nie zu schlafen scheint – Pattaya!
„Wie wäre es mit Hua Hin?“, ruft er gähnend seinem Spiegelbild im Panoramafenster zu.
Schließlich gehört der bekannte Badeort, mit seinen kilometerlangen Sandstränden gut drei Autostunden südwestlich von Bangkok gelegen, nicht umsonst seit Jahrzehnten zur Sommerresidenz der königlichen Familie.
Es wäre ein Leichtes, sich mit dem Koffer und dem Laptop unter dem Arm auf den Weg zu machen. Genauso wie vor zehn Monaten, als er am 3. Dezember 2015 Deutschland den Rücken gekehrt hatte. Andächtig streicht Edmund sich durch seinen üppigen Vollbart. Gerade als er denkt, dass es wieder mal an der Zeit wäre, seiner Schwester eine Mail zu schicken, wandern seine Gedanken zu dem letzten Abend, den sie gemeinsam vor seinem Abflug nach Bangkok beim Chinesen verbracht hatten.
Der plötzliche Wintereinbruch, mit seinen andauernden Schneefällen und Temperaturen im Minusbereich, hatte das im vorweihnachtlichen Glanz erstrahlende Wohnquartier, dessen Aushängeschild der kleine Stadtzoo mit seinen stattlichen Tierbestand ist, in ein beschauliches weißes Kleid gehüllt.
Passend zum aktuellen Anlass wollte Edmund seine Schwester ursprünglich ins Sukhothai-Restaurant einladen. Da dort Hunde bekanntermaßen nicht geduldet werden, Lisa aber ihre pechschwarze Labrador-Hündin, Runa, unbedingt dabei haben wollte, landeten sie schlussendlich im Mandarin.
Nachdem die beiden sich mehr oder weniger durch das dreigängige Menü durchgekaut hatten, stöhnte Edmund auf.
„Es regt mich einfach auf, Lisa, wenn unsere Bundeskanzlerin in einer autokratischen Manier für zigtausend fremde Menschen unkontrolliert die Landesgrenzen öffnet und dann auch noch so tut, als ob die bestehende globale Flüchtlingskrise einfach über Nacht aus dem Nichts entstanden ist! Verstehst du?“
„Und mich regt deine Behauptung auf, dass du deswegen nicht mehr in Deutschland leben kannst“, entgegnete Lisa resolut. Kopfschüttelnd ergriff sie ihr Weinglas. Dass sich Edmund eine längere Auszeit leistete, um in Ruhe seinen Debütroman in Thailand fertig zu schreiben, gönnte seine Schwester ihm von ganzem Herzen. Lediglich der Umstand, dass er seine Abreise mit der aktuellen brisanten politischen Situation in Deutschland verknüpfte, machte ihr nicht nur als Privatperson zu schaffen, sondern auch in Ihrer Rolle als engagierte Sozialarbeiterin.
„Immer beim Essen … das pisst mich sowas von an!“, fauchte sie verhalten, schob demonstrativ den leeren Teller von sich weg, faltete ihre Stoffserviette mit kantigen Bewegungen zusammen und warf das Textil mit einer ruppigen Geste auf den Tisch. Schmollend verschränkte sie ihre Arme.
Edmund reagierte auf Lisas Ausbruch nur mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck, ergriff sein Bierglas und leerte es in einem Zug.
„Nimmst du zum Dessert wieder gebackene Banane mit Honig und eine Kugel Vanilleeis?“, fragte er mit einem angestrengten Lächeln, den Bierschaum vom Mund wischend.
Lisa warf ihrem Bruder einen missmutigen Blick zu, zuckte mit den Schultern und erwiderte forsch: „Nein … ich meine ja … aber erst später. Für den Moment ist mir der Appetit vergangen.“
Es entstand eine Pause, in der sie ihrer jungen Hündin ein paar Streicheleinheiten zukommen ließ. „Brave Runa!“
„Typisch Püppi“, feixte Edmund ungehalten, sah sich nach dem Kellner um und bestellte per Handzeichen noch ein weiteres Tsingtao-Bier.
Augenblicklich staute sich ein Adrenalinstoß in Lisas Adern. Sie wusste nur zu genau, in welchen Momenten ihr drei Jahre älterer Bruder sie „Püppi“ nannte.
Ihre Retourkutsche, war dann nichts anderes, als was die beiden bereits zu Genüge aus ihrer Kindheit und Teenagerzeit kannten – Geschwisterzwist par excellence. In Anbetracht des besonderen Treffens verzichtete sie aber darauf, ihn ihrerseits „Koala“ zu nennen.
Lisa riss sich zusammen, atmete schwer und als der Kellner mit der Bestellung an den Tisch kam, gelang es ihr sogar, den beiden Männern ein freundliches Lächeln zu schenken.
Kaum waren sie wieder unter sich, platzte es dafür aus Edmund heraus.
„He, Lisa, wie lange ist Merkel schon Kanzlerin? Seit 2005 … oder? Also, dann hatte sie als Regierungschefin mehr als genug Zeit gehabt, um sich auf diesen extremen Menschenansturm vorzubereiten. 9 Jahre … stell’ dir das mal vor! Wozu hat sie eigentlich ihren Beraterstab, den Nachrichtendienst und was weiß ich noch wen alles. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass diese immense Flüchtlingskrise keine begründeten Ursachen hat!“
Edmund senkte die Stimme: „Wir schaffen das! Wenn ich diesen blöden Spruch schon höre.“ Selbstgefällig lachte er auf.
„Ja, gut … aber vergiss bitte eines nicht, Edmund“, warf Lisa säuerlich ein, „unsere Eltern und Opa und Oma waren vor gar nicht so langer Zeit auch mal Heimatvertriebene!“
Beide stockten, ergriffen ihre Getränke und schauten sich über den Tisch hinweg mit geröteten Wangen an. Die Heizung im Restaurant war eindeutig zu hoch eingestellt.
Runa, für die derartige Wortgefechte zwischen ihrem Frauchen und Edmund nichts Außergewöhnliches waren, kroch unter dem Tisch hervor, legte ihren Kopf auf Lisas Knie, wedelte mit dem Schwanz und kommentierte die Situation mit einem kurzen, aber heftigen Schnaufen. Liebevoll streichelte Lisa ihr über den Kopf, überlegte sorgfältig, musterte ihren Bruder mit einem kritischen Blick und sagte dann mit klarer Stimme: „Meinst du etwa, es wird einfacher sein, in einem Land zu leben, in dem eine Militärjunta regiert?“
Obgleich nur mit Boxershorts bekleidet, treibt die Hitze Edmund den Schweiß aus allen Poren. 26 Grad und das gegen 6 Uhr in der Früh. Alles andere als erfrischend.
Er verriegelt die Fenster, stellt die Klimaanlage an und entschließt sich dazu, trotz der Unzeit an seinem Debütroman Der Klang der Shakuhachi zu arbeiten.
„Ein Buch wie dieses sollte man besser sogleich wegwerfen. Warte nicht darauf, bis ich es tue. Lass das Buch niemals in der Welt verbreiten, und wäre es auch nur in der kleinsten Auflage.“
Wie ein Damoklesschwert hängt dieser kurze Textabschnitt des Zen-Meisters Mu-mon Ekai in einem der von Edmund bereits fertiggestellten Kapitel über seinem Kopf. Hinzu kommt, dass sich heute auf den Tag genau zum fünfzehnten Mal der Terroranschlag auf die Twin Towers in New York jährt.
Vermutlich wäre ich ohne dieses weltbewegende Ereignis nie auf die Idee gekommen, einen Roman zu schreiben, sinniert Edmund und verharrt für einen Moment lang mit gebanntem Blick auf den in der Ferne blinkenden roten Signalleuchten, die zu tief fliegende Flugkörper auf das Hilton Hotel hinweisen sollen.
Die Bilder der aus den Fenstern der beiden rauchenden Zwillingstürme des World Trade Centers springenden Menschen hatten sich damals unausweichlich in sein Gedächtnis eingebrannt und schrien selbst nach so vielen Jahren immer noch nach Verständnis.
Gedankenversunken füllt Edmund den Sharp-Kocher mit Wasser auf, greift sich eine der handlichen Instant-Kaffee-Päckchen, schüttet das Pulver in den mit bunten Blumen verzierten weißen Henkelbecher aus Plastik und wartet geduldig, bis das orange Kontrolllämpchen erlischt.
Gerade als er das kochende Wasser über die Kaffeemischung gießt, stimmt der Bandleader in der zirka fünfhundert Meter Luftlinie entfernten Musikbar ein kräftiges Happy Birthday für einen der anwesenden Gäste an. Im Nu feiert das ganze Lokal lautstark das Geburtstagskind.
„Happy birthday to you …!“
Vorsichtig nippt Edmund an seinem heißen Kaffee, schließt die Augen und fragt sich, ob er seinen Roman-Protagonisten, den Architekten Helmut Neumann, im Verlauf des Romans wirklich sterben lassen sollte.
Der Moment zieht sich.
Allein die Tatsache, dass er damit hadert, einer seiner Romanfiguren möglicherweise die Existenzberechtigung zu entziehen, stimmt ihn nachdenklich.
Edmund öffnet die Augen, seufzt, starrt mit einem Ausdruck der Ratlosigkeit auf die Tastatur seines Laptops, während unten auf der benachbarten Pattaya 3rd Road ein Rettungswagen mit hoher Geschwindigkeit und lauter Sirene vorbei rast.
Ein kräftiger Regen hat eingesetzt und sorgt nicht nur für etwas Abkühlung, sondern lockt mit dem Ansteigen der Luftfeuchtigkeit auch die Frösche aus ihren Verstecken. Sobald die umliegenden sandigen Brachflächen rund um Edmunds Apartment mit zahlreichen Pfützen übersät sind, ertönen regelmäßig großartige Balz-Konzerte.
Die Oldie-Band hat sich nach einer kurzen Pause zurückgemeldet und drängt nun mit After Midnight von J. J. Cale die Naturgeräusche in den Hintergrund.
Wahrscheinlich nicht ihr letzter Auftritt, mutmaßt Edmund gereizt, während sich der Himmel kübelweise über Pattaya ergießt.
Gefolgt von mehreren gewaltigen Blitzen direkt über seinem Apartment, erzittern bei jedem Donnerkrachen sämtliche Wände.
Ein Wunder, dass weder die Stromversorgung noch die Internetverbindung zusammenbricht, denkt Edmund. Sicherheitshalber zieht er den Stromstecker seines Laptops aus der Steckdose.
Obwohl sich die Naturgewalten noch mehrmals in Folge mit voller Wucht zurückmelden, scheint das außer ihm niemanden zu tangieren. Die Froschmännchen werben unvermindert um die Gunst der Weibchen und die Oldie-Band zieht lautstark ihr Programm durch.
Datenverlust, diese Form der Amnesie für Computer ist für Edmund trotz externer Festplatte und der Google-Cloud sein größter Horror.
Da schreibst du jahrelang an deinem ersten Buch, und plötzlich ist alles weg, stellt er sich gerade vor, als erneut über seinem Kopf ein Blitz kracht.
Für einen Moment stülpt sich die Vergangenheit wie ein Kartoffelsack über sein ganzes Wesen.
Verdammt lang her die Zeit, als seine Mutter an Alzheimer erkrankt war. Unmerklich, dafür aber äußerst effektiv begann die tückische Krankheit ihre Schaltzentrale zu zersetzen. Dunkle Erinnerungen streifen Edmunds Bewusstsein.
„Guten Tag Mama.“
„Wer sind Sie?“
„Ich bin’s, Edmund, dein Sohn. Schau mal, wie schön, ich habe dir eine weiße Orchidee mitgebracht. Deine Lieblingsblume!“
„Was wollen Sie? Verschwinden Sie, ich kaufe nichts!“
„Aber Mama, ich bin’s … dein Sohn, Edmund! Die Blume ist ein Geschenk an dich. Du musst nichts bezahlen. Schau, wie schön … deine Lieblingsblume!“
„Wo bin ich?“
„Im Seniorenzentrum St. Augustin.“
„Siegfried! Siegfried! Komm schnell, hier ist ein fremder Mann! Siegfried! Wo ist Siegfried?“
„Mama … dein Mann, Siegfried, ist schon lange tot!“
„Ich will nach Hause!“
Gedankenversunken schlurft Edmund zum Ostfenster, um von dort aus weitere Entladungen zu beobachten.
„Ein Blackout hin oder her … falls du wirklich von einem Blitz getroffen wirst, ist eh alles egal“, spezifiziert er seine existenziellen Überlegungen, als plötzlich aus dem Nichts dieser geniale Gedankenblitz auftaucht.
„Genau, die Natur soll es richten … und zwar mit Hilfe eines Blitzes“, murmelt Edmund erfreut in seinen Bart.
Endlich hat er eine adäquate Möglichkeit gefunden, den Architekten Helmut Neumann aus dem Leben scheiden zu lassen.
Unrealistisch? Nein! Laut Google werden jährlich bis zu tausend Menschen weltweit von Blitzen erschlagen.