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Edmunds Traum Hua Hin, Thailand, 31. 12. 2017, 23. 00 Uhr

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Es wäre nicht das erste Mal, dass Edmund einen Silvesterabend verschläft. Doch diesmal ist das schier unmöglich. Geweckt von einem frischen Wind, der ums Dach herum heult und an Fenstern und Türen rüttelt, fröstelt es ihn. Die Temperaturen sind massiv in den Keller gegangen. Es pfeift durch alle Löcher und Ritzen. Gefühlte 17 Grad. Winterzeit in Thailand. Froh darüber, sich mit einem Daunenduvet zudecken zu können, versucht Edmund krampfhaft weiterzuschlafen. Aussichtslos!

Mit voller Wucht donnern die Wellen unter seinem auf Holzstelzen ruhenden, kleinen traditionellen Thai Häuschen ans Ufer und machen ihm das Atmen schwer. Trotz des ohrenbetäubenden Lärms döst er ein und findet sich in einem Traum wieder.

Beharrlich folgt Edmund Schritt um Schritt den Hausnummern, die ihm in der engen Gasse einer historischen Altstadt im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung den Weg weisen. In der alten Bibliothek mit der Hausnummer 55 soll an diesem warmen Sommerabend ein berühmter Schriftsteller sein neuestes Werk signieren. Entgegen Edmunds Befürchtungen staut sich vor dem Gebäude aber weder eine Menschenschlange, noch warten im Inneren Leute darauf, ihr Buchexemplar signieren zu lassen.

Plötzlich spricht ihn eine dunkle Gestalt von der Seite an. Sie scheint einem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto aus längst vergangenen Zeiten entsprungen zu sein: „Entschuldigung … wenn ich Sie hier einfach so auf der Straße anspreche …“. Misstrauisch blickt Edmund auf, weicht instinktiv einen Schritt zurück, als ihm der Atem stockt. Blitzartig schießt es ihm durch den Kopf. Ach du meine Güte, das ist ja Franz Kafka!

Edmunds Magen sinkt ihm im Nu in die Kniekehlen. Zaghaftes Nicken. „Kei … kein Problem! Wie … wie kann ich ihnen helfen, Herr …?“

„Gestatten sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle, Herr Stanislawski! Mein Name lautet Kafka … Franz Kafka … es ist mir ein großes Anliegen, ihnen mitzuteilen, dass mir die kleine Textpassage in ihrem Buch über Mu-mon Ekai’s Koan-Sammlung Die torlose Schranke, außerordentlich gut gefällt. Leider hatte ich während meiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit keine Kenntnis von dieser literarischen Perle, was ich im Nachhinein äußerst bedaure.“

Überrascht hebt Edmund eine Braue, kratzt sich nachdenklich am Ohr, denkt: Das glaubt mir kein Mensch. Wieso kennt der berühmte Franz Kafka meinen Namen und hat mein Buch gelesen, obwohl es noch gar nicht verlegt ist?

Trotz der üppigen Hitze nimmt Kafka weder seinen Hut ab, noch zieht er seinen Mantel aus. Obwohl er darunter sogar noch ein Jackett und eine Weste trägt, ferner ein blendend weißes Hemd und eine Krawatte, scheinen ihm die hohen sommerlichen Temperaturen nichts auszumachen. Noch nicht einmal ein einziger klitzekleiner Schweißtropfen ziert sein markantes bleiches Gesicht.

Kafka sieht genauso aus, wie Edmund ihn von den berühmten Fotos her kennt. Am eindrücklichsten ist aber der Tonfall seiner Stimme. Warmherzig, geerdet und mit viel mehr Volumen, als man gewöhnlich annehmen würde, wenn man seinen hageren, langen Körper zum ersten Mal sieht.

„Sie … Sie … Sie haben recht, Herr Kafka“, stottert Edmund. Zögernd fährt er fort: „Obwohl ja der Text der Torlosen Schranke einen nicht gerade optimistisch stimmt.“

Kafka lächelt mild, zückt eine silberne Taschenuhr, klappt den Deckel auf, wirft rasch einen flüchtigen Blick auf das Zifferblatt und wendet sich dann wieder seinem Gegenüber zu.

„Fürwahr, Herr Kollege, solche Niederschriften sind in der Tat nicht jedermanns Sache.“

Bedächtig lässt Kafka den altertümlichen Zeitmesser zurück in seine Westentasche gleiten, greift in eine abgewetzte lederne Umhängetasche, zieht daraus ein dickes Manuskript-Bündel hervor und reicht es Edmund mit einem durchdringenden Blick.

„Ein Manuskript wie dieses hier, Herr Stanislawski, sollte man besser auch sogleich wegwerfen. Bitte lassen sie es niemals in der Welt verbreiten, und wäre es auch nur in der kleinsten Auflage.“

Edmund erwacht mit Herzklopfen, geweckt von dem lauten Getöse mehrerer explodierender Feuerwerks-Böller. Ein missmutiger Blick auf die Uhr. Gut eine halbe Stunde vor Mitternacht. Wohl erste Vorboten des Neujahrs-Feuerwerks.

Nachdenklich tippelt er ins Bad.

Amerika? Ja … auf der Titelseite von Kafkas Manuskript stand eindeutig „Amerika“!

Eine Mail seiner Schwester Lisa kommt ihm in den Sinn. „Das war Anfang Juni, vor sieben Monaten … quasi ihre Antwort auf meine damalige Schreibblockade, und nun dieser Traum“, murmelt Edmund nicht ganz ohne Stolz.

Am Schluss ihrer Nachricht hatte sie nicht nur Franz Kafka zitiert, um ihm Mut zu machen, sondern auch darauf hingewiesen, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Mu-mon Ekais Torloser Schranke und Kafkas schriftstellerischen Nachlass besteht.

Der Klang der Shakuhachi

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