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1. Tauwetter

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Forty Mile, Nordkanada, März 1982

Für Mary bedeutete Walkers Anruf zu Beginn des Frühlings dasselbe wie die erste Schneeschmelze für jeden anderen in Forty Mile: dass der Winter vorbei war. Dieses Jahr war Walker später dran als sonst.

Sie hatte angefangen zu warten, als die Sonne zum ersten Mal wieder auf die Dächer im Tal fiel, und wartete immer noch, als das Tauwetter kam und das Städtchen langsam und krachend aus dem Winterschlaf erwachte. Nur noch wenige Tage und das schmelzende Eis würde den Strom über Wochen in ein unbegehbares, unbefahrbares Niemandsland verwandeln und alles nördlich von Forty Mile von der bewohnten Welt abschneiden. Sie wusste, dass Walker das Tauwetter früher spürte als alle anderen, und machte sich keine Sorgen. Dann zog er ein Stück weiter auf dem letzten Eis nach Süden, verkaufte in Whitehorse seine Felle und die Arbeiten vom vergangenen Winter. Äxte und Messer, seine Schnitzereien. Er aß in der Stadt, trank und tanzte. Suchte sich eine Frau. Schlief. Danach rief er an.

Es war kurz vor sechs. Mary nahm den Besen und kehrte den alten Dielenboden zwischen den Regalen in ihrem Laden. Sie fegte den Schmutz zur Tür hinaus, über die Veranda, auf die Schotterstraße. Danach stapelte sie die Waren ordentlich, füllte, wenn nötig, die Vorräte auf und notierte sich die Bestellungen für den morgigen Tag. Auf der anderen Seite der Straße parkten die ersten Pick-ups vor der Kneipe gegenüber. In einer Viertelstunde begann die Happy Hour. Der Startschuss für den Abend.

Sie zählte das Geld in der Kasse und übertrug die Summe in ihr Heft. Dann nahm sie den alten Handbesen aus der Halterung und fegte die Ladentheke sauber. Sie lächelte. Seit hundert Jahren gab es den Kaufmannsladen schon, und die Einrichtung war unverändert. Dieselben Schränke, derselbe Fußboden, dieselbe Theke. Alles so alt wie die Stadt selbst. Als sie vor fast dreißig Jahren den Laden übernommen hatte, bot der frühere Besitzer an, die abgewetzte Holzplatte der Verkaufstheke auszutauschen. Sie hatte abgelehnt.

Mary hängte den Handfeger zurück, stemmte die Hände in die Hüften und streckte den Rücken durch. Stechende Schmerzen. Seit Ricks Tod fühlte sie sich alt. In diesem Winter hatte ihr Körper sie zum ersten Mal wissen lassen, dass das stimmte. Draußen dämmerte es schon eine Weile, sie sah ihre Spiegelung in der Scheibe der Ladentür. Immer noch schlank, nur hagerer. Die Haare genauso lang wie früher, aber inzwischen fast weiß. Mary war immer noch eine schöne Frau, fragte sich nur, für wen.

Als sie das Schild an der Tür umdrehte, Geschlossen, klingelte das Telefon. Ohne Eile nahm sie ab.

»Mary Calhoun, General Store, Forty Mile, guten Abend.«

»Marion.«

Sie schloss die Augen. Er war der Einzige, der sie noch so nannte.

»Walker.«

»Der Frühling kommt.«

»So ist das.«

Sie machten beide nicht viele Worte. Früher fragte er, wie Rick den Winter überstanden hatte, jetzt, wie es ihr ergangen war. Der Winter war mild gewesen. In der Stadt waren nur wenige Leute gestorben und auch die Pelztierjäger und Einsiedler in der Wildnis waren gut durch den Winter gekommen. Den Grund für seinen Anruf bewahrte er – wie immer – bis zum Schluss. Dann fragte er doch.

Ob Post gekommen sei.

Forty Mile war ein Goldsucherstädtchen. Aus dem Nichts war es vor beinah hundert Jahren zu einer Stadt explodiert, dem Paris des Nordens, danach genauso schnell wieder auf einen Bruchteil der Häuser und Einwohner zusammengeschrumpft, die es einst gehabt hatte. Man traf sich noch heute an den drei selben Orten: in der Kneipe, im Wartezimmer des Arztes und im Kaufladen.

Die Kneipe war das älteste Lokal im Ort. Das einzige, das den ganzen Winter über geöffnet blieb. Dort verbrüderte man sich, prügelte sich und hatte Spaß. Im Wartezimmer des Arztes bangte man und fluchte. In Marys Laden herrschten Leben und Betriebsamkeit.

Tratsch war nie etwas für sie gewesen, dafür gab es die beiden anderen Orte. Sie beschaffte das, worum man sie bat, und alles andere, an das keiner dachte, das aber trotzdem alle brauchten. Im Winter gab es manchmal Klagen über die leeren Regale, die ewig gleichen Lebensmittel oder das lange Warten auf Motor-Ersatzteile. Aber Mary und ihren Kunden war nur zu klar, dass sie diesen Preis gern dafür bezahlten, an dem Ort leben zu können, wo sie lebten.

Jeder der drei Treffpunkte hatte ein Telefon. Die drei einzigen in Forty Mile. Doch bei Mary wurden auch die Briefe für die ganze Stadt abgegeben, sodass sie die wichtigste Schnittstelle zur Außenwelt war. Wenn sich jemand vorübergehend woanders aufhielt, kümmerte sie sich gewissenhaft um seine Post. Stand ein Absender auf der Rückseite, teilte sie diesem in ihrer beherrschten, eleganten Schrift höflich mit, wie es dem Adressaten zuletzt ergangen war. Manchmal bekam sie eine Antwort. Dann schickte der Absender einen größeren Umschlag: Darin war ein Brief an sie und ein kleinerer Umschlag mit einem neuen Brief für den ursprünglichen Empfänger. Andere kritzelten ihre Wünsche an sie direkt auf den Umschlag. Nie öffnete Mary einen Brief, der nicht für sie bestimmt war.

Die Bewohner von Forty Mile riefen aus anderen Dörfern, Städten und Ländern an, um zu fragen, ob Post für sie gekommen sei. Die früheren Ladenbesitzer hatten die Briefe vorgelesen und waren so ungewollt zum Beichtvater oder zur Beichtmutter aller Leute im weiten Umkreis geworden. Das hatte Mary von Anfang an abgelehnt. Wenn ein Adressat wissen wollte, was in dem Brief stand, bat sie ihn, in einer halben Stunde wieder anzurufen. Dann stellte sie ihren Sessel neben die Ladentheke und holte Dawkins, ihren steinalten und stocktauben Nachbarn. Lesen konnte er, doch er war nicht gebildet. Wort für Wort buchstabierte er sich durch den Brief, ohne sich die Satzzusammenhänge zu erschließen.

Wenn jemand wollte, dass man ihm seine Post vorlas, kam Dawkins in den Laden geschlappt, setzte sich in den Sessel und riss den Umschlag auf. Dann holte er eine Lupe aus der Brusttasche seines Hemds und wartete mit der Hand auf dem Telefon, bis er das Klingeln spürte. Er nahm ab, räusperte sich und blaffte mit rauer Stimme den Brief Wort für Wort in die Leitung. Nachdem er den Namen unten auf der Seite vorgelesen hatte, fing er wieder von vorn an, um sicherzustellen, dass der Anrufer jedes Wort mitbekommen hatte. Nach der zweiten Lektüre bedankte er sich fürs Zuhören und legte auf. Jedes neue Wort löschte bei ihm das vorige aus. Zum Schluss erinnerte er sich nur noch an den Namen des Briefschreibers, weil dieser Name am Ende stand.

In der Zwischenzeit ging Mary nach draußen, um neben dem Laden Holz zu hacken, und sang dabei vor sich hin.

Wie jeden Winter hatte Walker einen Brief bekommen.

»Von deiner Mutter.«

Der Brief kam kurz nach Weihnachten. Walkers hochbetagte Mutter war einer der Menschen, mit denen Mary seit Jahren eine Brieffreundschaft pflegte. Zuerst hatten die Frauen sich nur Briefe über Briefe geschrieben. Flüchtige Worte über andere Worte. Allmählich wurde die Korrespondenz persönlicher. Inzwischen hatte Mary Walkers Mutter fast genauso gern wie ihren Sohn.

Walker fragte, ob Dawkins den Brief vorlesen könne, und Mary verabschiedete sich auf dieselbe Weise von ihm wie beim ersten Mal, vor achtundzwanzig Jahren.

»Bye, Walker.«

»Bye, Marion.«

Sie wusste, dass er jetzt nickte.

Norden

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